Zur aktuellen Ausgabe    
   
 
   
Venceremos
POLITIK | LEBEN DES VICTOR JARA (15.12.2005)
Von Jörg Rostek
Am 4. September 1970, dem entscheidenden Wahltag in Chile, sagte Victor Jara zu seiner Frau Joan: "Mamita, was um alles in der Welt sollen wir tun, wenn Alessandri gewinnt? Und dann nach einer Pause: "Und was um alles in der Welt werden sie tun, falls Allende gewinnt?"

Marcus Häußler

Santiago de Chile, 2004 (c) Marcus Häußler

Der entscheidende Sieg
Die letzte Auszählung ergab einen Vorsprung der linken Opposition, die sich unter dem Namen Unidad Popular zusammengeschlossen hatte, und ihres Präsidentschaftskandidaten Dr. Salvador Allende von 1,2 Prozent der Stimmen gegenüber dem konservativen Kandidaten Alessandri. Salvador Allende zog als erster gewählter Sozialist aller Zeiten in den chilenischen Präsidentenpalast ein. Das Volk feierte seinen demokratischen Sieg über die rechtsgerichteten Kräfte. Gleichzeitig fürchtete es die Konsequenzen, die sich daraus ergeben könnten. Werden die Konservativen einen Sozialisten regieren lassen? Wird es einen Putsch geben und wer wird ihn anführen? Am 19. September erklärt der Oberbefehlshaber der chilenischen Armee General René Schneider in einer Rede, dass das Militär die Verfassung unterstütze und sie verteidige. Doch schon am 22. Oktober entgeht er nur schwerverletzt einem Mordanschlag. Unter diesen schlechten Vorzeichen wurde zwei Tage später Salvador Allende durch den Kongress als Präsident Chiles im Amt bestätigt. Am 26. Oktober erlag General Schneider seinen Wunden.

Optimismus und Angst
Dennoch herrschte unter den Anhängern der Unidad Popular nach der Einsetzung Allendes in das Präsidentenamt eine optimistische Aufbruchstimmung, die von einem historischen Verantwortungsgefühl geprägt war. Die Mitglieder der Unidad Popular wussten, dass ihnen etwas einmaliges, noch nie Dagewesenes gelungen war. Nun hatte die Welt einen ersten demokratisch gewählten sozialistischen Präsidenten. Als einer der bedeutensten Kulturträger stand der chilenische Liedermacher Victor Jara eindeutig auf Seiten der linken Opposition. Der Enthusiasmus ergriff seine Lieder. Er schrieb: " Ich wäre am liebsten zehn Leute, um bei all dem, was jetzt zu tun ist, zehnmal soviel verrichten zu können. Wir haben diese wunderbare Chance, eine sozialistische Gesellschaft mit friedlichen Mitteln zu schaffen, und wir dürfen uns dabei nicht verzetteln... Die Welt schaut auf uns, um zu sehen, ob das möglich ist."

Victor unterstützte die Unidad Popular nach Kräften. Waren vorher seine Lieder nur regional bekannt, erreichten sie nun die chilenischen Charts, sogar die Top-Ten. Kurz darauf komponierte er sogar für das Staatsfernsehen. Er wurde eine der prominentesten Personen Chiles. Hatte Victor seit seiner Kindheit in Armut gelebt, profitierte er nun auch finanziell von seinem Erfolg. Victor Jara wurde Teil der "Neuen Folklorebewegung".

Propaganda
Ein Propagandafeldzug der rechtsgerichteten Kräfte begann, um die sozialistische Regierung zu diskreditieren. "Allende=Chaos" so die Gleichung, die das chilenische Volk dazu bringen sollte, sich von Allende abzuwenden. Auch Victor blieb von Vorwürfen nicht verschont. Da es im Chile der damaligen Zeit kein Gesetz gegen üble Nachrede gab, konnten konservative Zeitungen ohne Konsequenzen zu fürchten Lügen und Schmähungen verbreiten. Abfällige Artikel und Kommentare wurden über Victor gedruckt. In manchen hieß es, er sei homosexuell und würde an nächtlichen Schwulenparties teilnehmen. Eine Aussage, die in der durch machista geprägten chilenischen Gesellschaft als schlimmste Beleidigung überhaupt darstellte.

Victor verstand diese Angriffe auf seine Person als Beweis der Angst der Konservativen vor der sozialistischen Bewegung und als Ansporn gerade deshalb noch härter zu arbeiten. Die neue chilenische Kulturbewegung wurde durch die Sozialisten aufgerufen auch international sozialistische Ideen zu verbreiten, sowohl in Lateinamerika als auch in Europa. Nun verstanden sich chilenische Künstler als "Botschafter" ihres Landes. Im November 1971 bereiste Victor Jara den gesamten lateinamerikanischen Kontinent von Mexiko bis Argentinien. Er schien überall präsent zu sein: in großen Konzerthallen, im Radio und Fernsehen, bei Gewerkschaftsversammlungen und in Universitäten. In Venezuela umgaben ihn dabei bei einem Konzert zugunsten einer Gewerkschaftsversammlung mit Maschinenpistolen bewaffnete Soldaten.

1971 sagte Victor Jara folgendes: "Überall dort, wo wir auftreten, sollten wir einen kreativen Workshop ins Leben rufen und, wenn möglich, als Selbstläufer zurücklassen. Wir sollten zu den Leuten aufsteigen und nicht das Gefühl haben, dass wir uns zu ihnen hinab begeben. Unsere Aufgabe besteht darin, ihnen das zu geben was ihnen gehört - ihre kulturellen Wurzeln und die Mittel, ihren Hunger nach kulturellen Ausdruckmöglichkeiten, den wir während des Wahlkampfs erfahren haben, zu stillen." Die "Neue Chilenische Folklorebewegung" breitete sich auf dem gesamten Kontinent aus, verband sich dort mit einheimischen Kulturen und prägte sie nachhaltig. Kurz vor Weihnachten kehrte Victor in seine Heimat zurück. Erschöpft, aber glücklich.

Pinochets Schatten über Chile
Pablo Neruda, der zu diesem Zeitpunkt nicht nur Volksdichter, sondern auch Innenminister und Vizepräsident Chiles war, warnte wohl am eindringlichsten vor einem chilenischen Bürgerkrieg. Er rief in mehreren Reden die Intellektuellen und Künstler weltweit auf einen faschistischen Umsturz in Chile im Vorfeld zu verhindern. Er befürchtete ähnliche Zustände, wie im Spanischen Bürgerkrieg, hatte er doch selbst die dadurch entstandenen Leiden der spanischen Bevölkerung hautnah miterlebt. Und die Menschen hörten ihm zu. Währenddessen erschienen mehrere Zeitungsberichte, unter anderem in der Washington Post, die über Aktivitäten des CIA in Chile berichteten. Die Stimmung in Chile wurde von Tag zu Tag angespannter und drückender. Gewalttätige Übergriffe von Seiten des chilenischen Militärs auf Mitglieder der Unidad Popular häuften sich. Auch Victor blieb von derartigen Ereignissen nicht verschont. Die Zahl der Morddrohungen gegen ihn nahm zu. Einmal begegnete er zufällig auf den Straßen Santiagos eine handvoll Soldaten. Sie beschlossen ihn zusammenzuschlagen. Victor rannte jedoch einfach schneller als sie.

Trotzdem nahmen die Vorbereitungen für den Militärputsch des Generals Augusto Pinochet Ugarte, mit Hilfe der USA und insbesondere der CIA, die den Putsch maßgeblich mit vorbereitet und den Oppositionsgruppen finanzielle Unterstützung gewährt hatte, weiter Formen an. Militärs, die der chilenischen Verfassung treu ergeben waren, wurden hinterrücks liquidiert, Mitglieder sozialistischer Parteien und Verbände wurden eingeschüchtert oder in Hetzschriften angegriffen. Am Anfang des Jahres 1973 verbreitete sich in Windeseile eine Nachricht: das Vorhaben Allendes, die christdemokratische Partei an die Unidad Popular zu binden und so die Stabilität aufrecht zu erhalten, sei endgültig fehlgeschlagen. Die Christdemokraten hatten sich mit den Ultrarechten im Kongress vereinigt, um Allendes Regierung für illegal zu erklären. Obwohl sie nicht die notwendige zweidrittel Mehrheit innehatten, um dieses Vorhaben in die Tat umzusetzen, war nun die Unidad Popular völlig isoliert. Wie würden sich die chilenischen Streitkräfte verhalten? Würden sie zur Verfassung stehen oder waren alle "Konstitutionalisten" bereits aus dem Weg geräumt? Um ihre Solidarität mit Allende zu verkünden, versammelten sich Millionen Menschen weltweit. Viele Arbeiter traten in Streik. Am 10. September stand in den Abendzeitungen Chiles folgende Nachricht: die Piloten der Staatlichen Fluggesellschaft (LAN) hatten sämtliche Flugzeuge bis zum Ende der Streiks zur "sicheren Verwahrung" in einen Militärflughafen gebracht. Nun sollte es sich nur noch um Stunden handeln. Bereits am späten Abend begann die Liquidierung verfassungstreuer Militäroffiziere.

11. September 1973 - der Tag des Putsches
Schließlich ist es soweit. Salvador Allende selbst unterrichtet die chilenische Bevölkerung, dass der Putsch unter Augusto Pinochet in vollem Gange sei . Noch ist Allende auf allen Sendern, doch die angreifenden Militärs zerschießen einen Sendemast der Unidad Popular freundlichen Radiosender nach dem anderen. Stück für Stück wird seine Stimme durch Marschmusik ersetzt. Allende wird ein Ultimatum gesetzt. Bis zur Mittagsstunde habe er Zeit den Präsidentenpalast zu räumen, sonst würde er zusammengebombt. Währenddessen befindet sich Victor in der Technischen Universität von Santiago. Auch er verfolgt die Geschehnisse im Radio. Auch er hört den Lärm der Kampfflugzeuge und der Gewehrsalven, die die Hauptstadt Chiles überziehen. Das Militär verhängt eine Ausgangssperre.

Am nächsten Morgen erfährt die Welt durch die Militärs von ihrem Sieg über das "Krebsgeschwür des Marxismus" und vom Tod Allendes. Noch immer steigt über dem Präsidentenpalast schwarzer Rauch auf. Wenn die Anführer der Unidad Popular nicht fliehen können, werden sie festgenommen. Chile ist nun fest in der Hand Pinochets. Auf seinen Befehl hisst die Bevölkerung die Nationalflagge aus dem Fenster heraus, um Chiles Unabhängigkeit zu feiern.

Fußballstadion und Folterkammer
Victors Witwe benötigte Jahre, um zu rekonstruieren, was genau sich an seinem Todestag abspielte. Nachdem Victor am 11. September die Technische Universität Chiles trotz der Straßensperren und Explosionen in der Stadt erreicht hatte, traf er auf nahezu 600 Studenten und Dozenten. Sie hatten als sie von dem Militärputsch erfuhren auf Allende gewartet, der dort eine Rede halten wollte. Jetzt befanden sie sich verstört innerhalb des Gebäudes, umringt von Militär, die sich auf eine Belagerung der Universität vorbereiteten. Bald war das gesamte Gebäude von Panzern und Soldaten umstellt. Der Rektor der Universität und ein Kommandant vereinbarten aufgrund der Ausgangssperre, dass zur Sicherheit der Eingeschlossenen niemand das Gebäude verlassen sollte. Victor, der seine Gitarre mit sich führte, beschloss, um die Situation zu entspannen, ein Lied zu singen, in das einige mit einstimmten. Ein paar Leute versuchten die Universität im Schutz der Nacht zu verlassen, wurden jedoch sofort erschossen.

Am nächsten Morgen geschah der Angriff. Panzer und Soldaten zersiebten das Universitätsgebäude. Das Feuer wurde nicht erwidert, denn die Eingeschlossenen waren vollkommen unbewaffnet. Nachdem das Militär das Gebäude "eingenommen" hatte, wurden alle Leute vor das Estadio de Chile abtransportiert. Victor konnte nur hoffen, nicht erkannt zu werden. Dies scheint erst kurz vor dem Eingang des Stadions geschehen zu sein. Kaum hatte ihn ein Armeeoffizier identifiziert, wurde er schon zusammengeschlagen und auf dem Boden liegend mit Fußtritten übersät. Die Tage vergingen. Essen und Trinken wurde den Gefangenen vorenthalten, nur Schläge, Gewehrkugeln und Ermordete gab es reichlich. Ein Ort der chilenischen Kultur war nun Gefängnis, Folterstätte und Massengrab.

Am 14. September, es war ein Freitag, wurden die Gefangenen in Gruppen zu je 200 Mann eingeteilt und in das Stadion transportiert. Über 5.000 Menschen sollen im Stadion interniert worden sein. Dort schrieb Victor Jara mit einem kleinen Bleistift und einem Fetzen Papier inmitten der Schüsse und Peitschenhiebe, zwischen Schlägen und wahnsinnig Gewordenen sein letztes Gedicht. Inmitten des Grauens versuchte er es für die Nachgeborenen festzuhalten. Es gelang seinen Freunden es aus dem Stadion herauszuschmuggeln. Verschiedene Zeugenaussagen bestätigen, das Victor von einem wütenden Offizier mit den Worten "Jetzt sing, wenn du kannst du Schwein!" angebrüllt worden war, worauf er begann eine Strophe von "Venceremos" zu singen, die Hymne der Unidad Popular, die er selbst verfasst hatte. Danach soll er weggeschleppt und getötet worden sein. Andere berichteten, Victor habe seine Gitarre dabeigehabt und trotzig gegen seine Peiniger aufgespielt, bis diese ihm die Hände brachen und ihn dann erschossen. Die Pinochet-Diktatur dauerte sechzehn Jahre.
   






Unsere Texte nach Ressorts
GESELLSCHAFTPOLITIKKULTURREISEUMWELTWIRTSCHAFTSPORT
Ein sächsisches Dorf kann auch andersNewtons zweiter SiegWo Nachbarn zur Familie gehörenNur kein zweites KreuzviertelLiebe über den Tod hinausJede Fahrt eine DrogenfahrtEine Million Euro für die Cannabis-LobbyArmutszuwanderung? Eine Untergrunddebatte!Mails verschlüsseln leicht gemachtVerschlüsseln - eine Notlösung Soziale Demokratie geht auch ohne SPDBedingt verhandlungsbereitDas vergessene Massaker von AndischanDas Ende von Lüge und SelbstbetrugGeteiltes Volk einig im Kampf gegen IS-TerrorDie Urkatastrophe und wirDas Ende rückt immer näherNeue Regierung, neue Krisen, neue FehlerMerkels neues WirHausfotograf der deutschen Sozialdemokratie Liebeserklärung eines Linksträgers. Oder...Mit der Lizenz zum AusrastenDer beste Mann für Afghanistan"Weil sie auch nur Opfer sind"Gestatten, Gronausaurus!Missratenes PashtunenporträtDie Band LilabungalowWo Leibniz und Wagner die Schulbank drücktenHitler in der Pizza-SchachtelDie Freiheit des Radfahrens In der Wildnis vergessenStau in der FahrradhochburgMitfahrer lenken selbstÜber Wroclaw nach Lwiw - eine verrückte TourIm Frühjahr durch den Norden Polens - Teil 2Im Frühjahr durch den Norden Polens - Teil 1Sounds of KenyaDie 41-Euro-SündeRive Gauche vs. Rive DroiteOranje im Freudentaumel Drei Naturerlebnisse in einemDas Gegenteil von KollapsDas Gift von KöllikenDas große Pottwal-PuzzleBio bis in die letzte FaserDer WonnemonatKlimakiller sattDer Monsun - vom Quell des Lebens zum katastrophalen NaturphänomenR136a1 - Schwerer und heller als die SonneDie Rückkehr zur Wildnis Wie die Hausverwaltung GMRE ihre Mieter abzocktWachstum und BeschäftigungSo schmeckt der SommerMakler der LuxusklasseGeburtshelferinnen vom Aussterben bedrohtVersenkte Milliarden und eine verseuchte BuchtWohnungen als WareAufstieg, Krise und Fall der AtomwirtschaftDie längste Brücke Deutschlands entstehtDie Geschichte der 'Alternativlosigkeit' - Teil 2 Fußballtempel MaracanãGlanz und Niedergang der Fanclubsiley.de drückt Maschine Münster die DaumenUnsere Veranstaltungsreihe im Web TVFrankreich ist ein heißer Kandidat fürs FinaleSpanien wird den Titel verteidigenFür Deutschland ist im Halbfinale SchlussPolen hat das Zeug für eine ÜberraschungForscher, Fans und PolizeiFußball im Würgegriff der Mafia
 
Ja, auch diese Webseite verwendet Cookies. Hier erfahrt ihr alles zum Datenschutz