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Meine Kollegen haben bei Neonazi-Demonstrationen einen schweren Stand
GESELLSCHAFT | INTERVIEW mit Konrad Freiberg (15.02.2008)
Von Michael Billig
Konrad Freiberg ist der Vorsitzende der Gewerkschaft der Polizei. Wir haben ihn zum Verhältnis von Polizisten und Bürgern befragt.

Herr Freiberg, auf dem Europäischen Polizeikongress sprachen sie von einer gesellschaftlichen Fehlentwicklung. Immer mehr Menschen würden sich nicht mehr zugehörig fühlen und soziale Konflikte zunehmen. Müssen Polizisten ausbaden, was Politiker verzapft haben?

Freiberg: Dafür gab es schon in der Vergangenheit genügend Beispiele, wenn wir an die Auseinandersetzung um die Kernenergie, den Bau der Startbahn West in Frankfurt, den "Schnellen Brüter" oder die Wiederaufbereitungsanlage in Wackersdorf denken. Damals ging es um politische Entscheidungen, die keinen Konsens in der Gesellschaft fanden. Heute geht es darum, dass sich ein immer größerer Teil der Bevölkerung vom Zugang zur wirtschaftlichen Entwicklung und vom Wohlstand abgekoppelt fühlt. Die Schere zwischen Arm und Reich öffnet sich immer weiter. Das ist keine Neiddiskussion, wie von den Wohlhabenden immer behauptet wird. Da geht es nicht um das größere Auto oder die zweite Urlaubsreise im Jahr. Zu viele Menschen haben durch das Lohndumping keine Chance, sich und ihre Familien durch Arbeitseinkommen zu ernähren und ihren Kindern Bildungs- und Aufstiegschancen zu eröffnen. An den Rändern dieser immer größer werdenden Gesellschaftsschicht flüchten viele in Alkohol, Drogen und Kriminalität.

Denken alle Polizisten so wie Sie? Wie viele sind in der Gewerkschaft Mitglied?

Freiberg: Polizeibeamte registrieren gesellschaftliche Veränderungen seismographisch, da sie die sind, die mit den Bruchstellen der Gesellschaft meist zuerst konfrontiert werden. Wohlhabende Bürger können problematische Stadtteile und gefährliche Orte meiden. Sie sehen nicht die Schlangen vor den Suppenküchen, den Ausgabestellen für gebrauchte Kleider oder die Abgabestellen für gespendete Lebensmittel. Politiker halten sich im gut geschützten Regierungsviertel auf, sind nicht täglich mit U-Bahnen und Bussen unterwegs, haben oft Dienstwagen und Personenschutz. Sie nehmen die Realität auf der Straße, die nicht selten ein Ergebnis politischer Entscheidungen ist, oft nicht wahr. Natürlich gibt es auch in der Gewerkschaft der Polizei zu gesellschaftspolitischen Problemen, zu Ursachen und Lösungsmöglichkeiten ein Meinungsspektrum. Das ist bei einer Organisation, die rund 170.000 Mitglieder hat, nicht ungewöhnlich.

Angenommen ein Polizist glaubt ebenfalls eine Fehlentwicklung festzustellen und soll aber nun die dafür Verantwortlichen vor den Protesten der Betroffenen abschirmen - steht er da nicht vor einem inneren Konflikt? Wenn ja, wie hält er diesen aus?

Freiberg: Unsere Verfassung garantiert den Bürgern ein sehr weitreichendes Demonstrationsrecht. Jeder kann seine Meinung offen auf die Straße tragen, friedlich und ohne Waffen. Darauf zu achten, ist Sache der Polizei. Bei einer Demonstration kommt es darauf an, ein größtmögliches öffentliches Echo zu erzielen um für seine Anliegen Mehrheiten zu gewinnen und damit Politik zu beeinflussen. Das gelingt durch unsere Mediengesellschaft. Wer gegen den Irakkrieg demonstriert, muss nicht unbedingt mit dem amerikanischen Präsidenten auf Tuchfühlung gehen und ihm persönlich sagen, was man von ihm hält. Meine Kolleginnen und Kollegen können sich mit vielen Themen einer Demonstration identifizieren, aber sie können nicht zulassen, dass dafür Straftaten begangen werden. Das Demonstrationsrecht gilt für jeden und wäre in dem Moment ausgehebelt, wenn Demonstranten gegen die, die nicht ihrer Meinung sind, Gewalt anwenden könnten. Meine Kolleginnen und Kollegen haben insbesondere bei Neonazi-Demonstrationen einen schweren Stand. Oft bekommen sie dort zu hören: "Deutsche Polizisten schützen die Faschisten". Das ist grober Unsinn. Wenn ein solcher Umzug genehmigt ist, was oft genug die Gerichte entscheiden, muss die Polizei auch diese Demonstration gewährleisten. Das ist bitter, wäre das aber nicht so, gäbe es das Demonstrationsrecht nicht mehr. Daher tun sich die Gerichte richtigerweise sehr schwer damit, Demonstrationen zu verbieten.

Sie sagten außerdem, dass Delikte wie gefährliche und schwere Körperverletzung in den letzten zehn Jahren um 40 Prozent zugenommen haben. Was kann die Gesellschaft und was die Polizei dagegen tun?

Freiberg: Bildung und Lebensperspektiven sind die besten Gegenmittel. Ein Anstieg von Gewalt und Straßenkriminalität ist immer ein Zeichen für sinkendes zivilisatorisches Niveau. Die potenziellen Opfer von Gewalt und Straßenkriminalität können allerdings nicht so lange warten, bis die Bildungspolitik die Kurve kriegt. Deshalb müssen Gewalttaten unnachsichtig verfolgt und Gewalttäter schneller und spürbarer bestraft werden. Das setzt schnellere Reaktionen von Polizei und Justiz voraus, die dazu aber nur in der Lage sind, wenn sie personell und technisch besser ausgestattet werden. Polizei und Ordnungskräfte müssen stärker in der Öffentlichkeit präsent sein. Vor allem Jugendliche machen heute die Erfahrung, dass ihnen niemand mehr Grenzen zeigt, vor allem im öffentlichen Raum. Vandalismus, Vermüllung, Ruhestörung bis hin zu gewalttätigen Übergriffen ereignen sich oft deshalb, weil niemand da ist, der aufpasst.

Können Bürgerwehren, Hilfssheriffs, private Sicherheitsunternehmen oder Einsätze der Bundeswehr im Inneren die Polizei künftig ersetzen?

Freiberg: Wenn Bürgerwehren aufgestellt werden, ist das ein alarmierendes Zeichen. Es bedeutet nämlich nichts anderes, als dass die Bürger kein Vertrauen mehr in den Staat haben, dass er für ihre Sicherheit garantiert. Das kann bis zur Lynchjustiz gehen. Hilfssheriffs bringen nichts, denn sie können im Ernstfall auch nichts anderes tun, als die Polizei zu rufen. Private Sicherheitsunternehmen haben nur dort ihren Sinn, wo sie das Hausrecht ausüben dürfen, also nur im privaten Raum, wie etwa in Kaufhäusern, Banken oder Einkaufszentren. Die Bundeswehr ist für zivile Konflikte nicht ausgebildet und ausgerüstet und hat überdies in den internationalen Missionen genug zu tun.

Über Demonstranten und Polizisten flogen beim G8-Gipfel im vergangenen Sommer aber deutsche Tornados. Noch ein anderes Beispiel: An der Uni Bielefeld kontrolliert ein privater Sicherheitsdienst das Hauptgebäude. Wer am Wochenende dieses betreten möchte, muss den Wachleuten gegenüber seinen Studentenausweis vorzeigen. Wie passt das alles zu dem, was Sie sagen?

Freiberg: Der Einsatz der Tornados beim G8-Gipfel und die Präsenz der Bundeswehr war überzogen und hat ein parlamentarisches Nachspiel gehabt. Ich glaube kaum, dass sich das in dieser Form wiederholen kann. Die Gewerkschaft der Polizei ist gegen einen Einsatz der Bundeswehr im Innern über die bisherigen rechtlichen Grundlagen hinaus. Übrigens sehen das die Soldatinnen und Soldaten in der größten Berufsvertretung der Bundeswehr, dem Bundeswehrverband, genau so. Bei dem privaten Sicherheitsdienst, der das Gebäude oder Gelände einer Universität kontrolliert, sieht die Sache anders aus. Dort hat im Rahmen des Hausrechts der private Sicherheitsdienst Befugnisse, die er im öffentlichen Raum nicht hat, unter anderem auch das Recht zur Ausweiskontrolle.


Ein bekannter Slogan geht so: "Die Polizei - Dein Freund und Helfer". Was denken Sie, inwieweit die Polizei von den Menschen hierzulande in dieser Form wahrgenommen wird?


Freiberg: In allen Umfragen, in denen es um die Frage geht: "Welchen Institutionen vertrauen Sie?", belegt die Polizei Spitzenplätze. Es ist tatsächlich so, dass die Bürger die Polizei wollen und sie wollen vor allem mehr Polizei. Das war beileibe nicht immer so. Die Polizei in Deutschland hat in den letzten zwei Jahrzehnten einen Ansehensgewinn erzielt, wie keine andere staatliche oder gesellschaftliche Institution. Die Polizei wird in der Tat als Freund und Helfer wahrgenommen.

Auch von Menschen mit Migrationshintergrund?

Freiberg: Gerade von denen. Viele Zuwanderer kommen aus Herkunftsländern, in denen sie ganz andere Erfahrungen mit der Polizei gemacht haben. Als die Türkei polizeiliche Beobachter für die Ermittlungen der Brandkatastrophe in Ludwigshafen schickte, kam die deutlichste Ablehnung aus der türkischen Einwohnerschaft, die Herrn Erdogan signalisierte: Wir haben mehr Vertrauen in die deutsche Polizei.

Auch von Jugendlichen?

Freiberg: Natürlich nicht von allen, aber seien Sie versichert: Der größte Teil der Jugendlichen sieht die Polizei positiv. Wenn auf 500 Anwärterstellen fast 7000 Bewerbungen von jungen Leuten kommen, hat das sicher etwas mit dem Arbeitsmarkt zu tun, aber keiner würde ausgerechnet diesen Beruf ergreifen wollen, wenn er diese Institution hasst.

Auch von Menschen im Fußballstadion?

Freiberg: Vor allem von Menschen, die gerne wieder in ein Fußballstadion gehen würden, ohne von Betrunkenen belästigt oder von Schlägern krankenhausreif geprügelt zu werden.

Auch von Studierenden, die gegen Studiengebühren demonstrieren? Denken wir an Hessen, wo es im vergangenen Jahr Hunderte Verhaftungen gab.

Freiberg: Verhaftungen waren es sicherlich nicht, sondern Festnahmen zur Personalienfeststellung - und dafür wird es Gründe gegeben haben. Auch bei Demonstrationen müssen Regeln eingehalten werden.

Auch von Obdachlosen?

Freiberg: Ob sie es glauben oder nicht: Polizisten sind oft die einzigen in unserer Gesellschaft, die diese Menschen anständig behandeln. Machen Sie sich selbst ein Bild und hospitieren Sie mal in einer Polizeiwache (Gute Idee: In Berlin-Kreuzberg oder Münster-Mitte?). Oder fragen Sie die Betroffenen selbst.

Auch von Globalisierungsgegnern?

Freiberg: Ich war während des Einsatzes in Heiligendamm. Mir ist nicht ganz klar geworden, wie man in der Innenstadt von Rostock gegen die Globalisierung kämpfen will, indem man Gehwegplatten auf Polizisten wirft. Ist die Polizei der Gegner der Globalisierungsgegner? Wer gegen die Nachteile der Globalisierung kämpfen will, sollte eher die Gewerkschaften national und international stärken, damit die Arbeitnehmer nicht global ausgebeutet werden.

All diese Gruppen bringen durch ihr Verhalten die gesellschaftlichen Veränderungen besonders zum Ausdruck. Reagiert die Polizei immer richtig darauf? Ist sie dazu überhaupt vollständig in der Lage?

Freiberg: Ich kenne kaum eine Polizei weltweit, die es derart professionell schafft, Demonstrationen ein Maximum an Aufmerksamkeit und Bewegungsfreiheit zu verschaffen und gleichzeitig die Einhaltung der Gesetze und die Sicherheit zu garantieren. Natürlich ist nicht jeder Demonstrant mit einem Einsatz zufrieden und auch die Polizei macht Fehler. Manche Demonstranten setzten sich auch zu hohe Ziele. Wer zum Beispiel nach Heiligendamm gereist war, um "G8 zu verhindern" den mussten wir natürlich unverrichteter Dinge wieder nach Hause schicken.

Barbara Hempel

Ein Polizist im schwedischen Vimmerby erweist sich freundschaftlich und lichtet einen Touristen vor der Einweihung des Denkmals für Astrid Lindgren ab. Die Fotografin: "Ich kann mir nicht vorstellen, dass ein deutscher Polizist einen Normalo hinter eine Absperrung lässt und ihn auch noch dabei mit dessen Kamera fotografiert."
(c) Barbara Hempel

Die Polizei kommt immer mehr zu multinationalen Einsätzen. Doch das Recht, das sagt, was Polizisten können, sollen und dürfen, ist von Nation zu Nation unterschiedlich. Können Sie uns dafür ein deutliches Beispiel nennen?

Freiberg: Das wird immer mehr zu einem Problem. Europa rückt zwar immer mehr zusammen, aber die Technik der europäischen Polizeien nicht und auch nicht die Rechtsgrundlagen, auf denen sie jeweils arbeiten. Es gibt in Europa nicht einmal eine offizielle Polizeisprache bei gemeinsamen Einsätzen. In Auslandsmissionen, im Kosovo oder Bosnien-Herzegowina hingegen funktioniert das. Es ist ein Unding.

Wie soll es möglich sein, ein einheitliches Polizeigesetz zu schaffen, wenn nicht mal in allen Bundesländern die gleichen Regeln gelten?

Freiberg: Das ist das Absurde. Während der europäische Einigungsprozess und die Globalisierung immer weiter fortschreiten, verschärft sich die deutsche Kleinstaaterei immer mehr.

Wie bekommt der Bürger in Deutschland diese Differenzen zu spüren?

Freiberg: Bei länderübergreifenden Einsätzen, einer Großdemonstration in Nordrhein-Westfalen etwa, gilt natürlich das dortige Recht. Das müssen der Kollege aus Hessen und die Kollegin aus Hamburg kennen. Wir haben diese Ungereimtheiten bisher immer noch dort auffangen können, wo es für den Bürger beginnt, lästig zu werden. Das wird aber nicht so bleiben. Ein Beispiel: Die Bezahlung der Beamten wurde bisher bundesweit festgelegt. Seit der Föderalismusreform kann jedes Land die Bezahlung seiner Polizei selbst regeln. In der Endkonsequenz wird das dazu führen, dass sich die reichen Länder die Rosinen aus dem Nachwuchs picken können und die ärmeren Länder das Nachsehen haben. Wir befürchten, dass es letztendlich in den deutschen Ländern noch stärkere Unterschiede in der Bezahlung und Ausstattung der Polizei geben wird, die sich über kurz oder lang auch in der Ausbildung auswirken werden. Das ist ein Rückfall ins Mittelalter.

Vielen Dank für Ihre Antworten!
Dieses Interview wurde über zwei Runden per E-Mail geführt.
   







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