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Gewalt schwächt Vertrauen in Demokratie
POLITIK | ENTWICKLUNG IN DEUTSCHLAND (15.02.2007)
Von Michael Billig
Die ehemalige RAF-Terroristin Brigitte Mohnhaupt steht kurz vor ihrer Haftentlassung. Für die Massenmedien ein Grund, auf die Gesellschaft vor 40 Jahren zurück zu blicken. Wir haben nach Parallelen in der Gegenwart gesucht.

Rund 600 Studierende mögen es gewesen sein, die demonstrierten. Ihnen gegenüber standen 750 Polizisten und sechs Wasserwerfer. Das war 1969. Vor vier Wochen in einem Vorort Münsters waren es auch so um die 600 Studierenden, die der Staatsmacht gegenüberstanden. Aug' in Auge und Aug' in Videokamera. Bis auf einen kurzen Pfeffersprayeinsatz der Polizei blieb alles friedlich. Eine Situation, wie es sie im vergangenen Jahr häufig in Deutschland gab. Wieviele mögen es insgesamt gewesen sein, die seit dem Freiburger Frühling Anfang 2005 gegen die Hochschulreformen protestierten? Zehntausende, Hundertausende? Die Argumente sind ihnen nie ausgegangen. Doch viele hat der Mut verlassen. Das bringt ja eh nichts. Ich habe damals gegen Langzeitstudiengebühren demonstriert. "Und?", fragt ein Student sichtlich resigniert und begründet damit seine Entscheidung, sich diesmal rauszuhalten. Egal, wieviele sie waren, wer in den vergangenen zwei Jahren gegen die Campus-Maut protestiert hat, bekam einen Anfall von Ohnmacht zu spüren.
Michael Billig

"Demokratiefreie Zone" - so bewerteten Studierende der Uni Münster die Verlegung einer Senatssitzung auf ein ehemaliges Truppenübungsgelände. Die Veranstaltung zum Thema Studiengebühren fand unter dem Schutz von mind. einer Hundertschaft Polizei statt. (c) Michael Billig

Selbst in Nordrhein-Westafen, wo es den Hochschulen überlassen war, über die Höhe der Beiträge von null bis 500 Euro zu entscheiden, verlangen die meisten das Maximum. Und einige Entscheidungsträger haben, um das Durchzusetzen, den Schutz der Polizei in Anspruch genommen.
Parlamentarisch fühlt sich die Protestbewegung bestehend aus lauter jungen Menschen unterrepräsentiert. Unter ihnen ist das Vertrauen in die Demokratie, der Glaube an die Debatte, an Argumente und nicht zuletzt die Wahl erschüttert. Die Symptome sind unübersehbar: In Hessen haben Studierende Autobahnen besetzt und Bahngleise blockiert. Den Landesfrieden haben einige laut Polizeiangaben gebrochen. In Bielefeld hat jemand das Privatauto des Rektors vor dessen Haus angezündet. Der oder die Täter werden noch gesucht. Monate vorher hatten sich rund 3000 Studierende im Senat der Universität Bielefeld unüberhörbar gegen Studiengebühren ausgesprochen und anschließend vier Wochen lang das Rektorat besetzt gehalten. Genutzt hat es alles nichts.

Auf den Spuren der 68er

Da fragt sich der akademische Nachwuch, was erst passieren muss, damit Funktions- und Entscheidungsträger und auch Medien es ernst nehmen, wenn junge Menschen ihre und die Zukunft anderer bedroht sehen. Rudi Dutschke und die 68er haben versucht, eine Antwort zu geben. Damals waren Bürokraten, Juristen und Wirtschaftslenker mit nazionalsozialistischer Vergangenheit noch immer oder wieder im deutschen Staatsapparat verankert. Gegen diese herrschenden Verhältnisse richtete sich massiver, teilweise gewaltsamer Protest auf der Straße - sowie gegen den Vietnam-Krieg und die Ausbreitung des Kapitalismus. Als am 2. Juni 1967 ein Diktator, der Schah von Persien, auf Einladung der Bundesregierung West-Berlin einen Besuch abstattete, betrachteten viele Studierende diesen Akt als Fortsetzung einer faschistischen Politik und demonstrierten. Es kam zu Straßenschlachten. Dabei wurde der Romanistikstudent Benno Ohnesorg (26) von einem Polizisten erschossen. Ein Schock für viele, der zu einer Radikalisierung in Teilen in der Protestbewegung führte.
"Wenn die Medien über uns berichteten, sollten sie immer erwähnen müssen, was an diesem Tag geschah", erzählte Inge Viett vor wenigen Wochen bei einer Lesung und Diskussionsrunde im westfälischen Münster. Viett war aktives Mitglied in der "Bewegung 2. Juni", der Nachfolge-Generation der terroristischen Organisation "Rote Armee Fraktion" (RAF). Andreas Baader, Gudrun Ensslin und Ulrike Meinhof hatten bereits 1970 die RAF ins Leben gerufen. Viett war 1975 an der Entführung des CDU-Politikers Peter Lorenz beteiligt. Sie und ihre Kampfgenossen erpressten die Freilassung von sechs Sympathisanten im Austausch für Lorenz. Insgesamt neun Jahre hat Viett im Gefängnis gesessen. Auf zwei Ausbrüche folgte die Flucht in die DDR - das Land, welches Rudi Dutschke bereits 1961, kurz vor dem Mauerbau, verließ und nach West-Berlin übersiedelte.
Dutschke war der bekannteste Vertreter der deutschen Studentenbewegung und Gründungsmitglied der Grünen. Am 11. April 1968 wurde auch auf ihn geschossen - ein Attentat des Hilfsarbeiters Josef Bachmann, bei dem Dutschke lebensgefährliche Hirnverletzungen erlitt. 1979 - zehn Jahre vor der Wiedervereinigung beider deutscher Staaten - starb er im Alter von 39 an den Spätfolgen.

Staatsgewalt erzeugt Gegengewalt, damals wie heute

Inge Viett wanderte nach der Wende wieder hinter Gitter. 1996 wurde sie vorzeitig entlassen. Ihre politischen Aussagen in Münster waren nicht so radikal, wie sie noch wenige Tage zuvor in der linken Tageszeitung junge Welt gestanden haben und indirekt auch auf die Lesung einschworen. Sie schrieb in einem Brief, dass die Augen derer, die nur die gegenwärtige Legalität, die Ordnung, die bestimmte Räume für Kritik und Protest belässt, erkennen und anerkennen, blinde Augen seien. Ein weiterer Auszug, der tief in die ideologischen Vorstellungen der RAF blicken lässt: "30 Jahre deutscher Herbst heißt doch: 30 Jahre Weiterentwicklung von Destruktion und Barberei in den Gesellschaften, von aggressivem Klassenkampf von oben, von neoliberaler Manipulation, von repressiver und militärischer Durchsetzung imperialistischer Interessen, von kriegerischen Raubzügen der imperialistischen Staaten."
In Münster, dem Ort, wo Ulrike Meinhof als Referentin im AStA tätig war, sprach Viett wiederholt vom "Gegner", den es zu bekämpfen gelte und definierte ihn auf Nachfrage als "das kapitalistische System". Und wer sich dagegen wehre, bekomme es automatisch mit dem staatlichen Sicherheitsapparat zu tun. Damit stieß sie bei jungen Zuhörern, die jede Art von Überwachung ablehnen und selbst bei dieser öffentlichen Diskussionsrunde vorab das Fotografieren problematisierten, auf offene Ohren. Aber kein Wort davon, dass Inge Viett 1981 in Frankreich auf einen Polizisten geschossen und ihn dabei schwer verletzt hatte. Weder von den rund 80 Gästen noch von Viett selbst - auch nicht als ihr die Frage gestellt wurde, warum sie erneut festgenommen worden sei. Stattdessen: "Ich wusste immer, was ich tat." Abschließend rief sie auf, zum G8-Gipfel im Juni nach Heiligendamm zu kommen.
Beim Treffen der führendenen Wirtschaftsnationen im Jahr 2001 in Genua erlebte die Demokratrie in Europa einen negativen Höhepunkt. 15000 italienische Polizisten und Soldaten versuchten mit Tränengas, Knüppeln und Tritten Demonstranten in Schach zu halten. Dabei riss wieder eine Kugel einen jungen Menschen aus dem Leben: Der damals 23-jährige Carlo Giuliani hob einen Feuerlöscher an, um ihn in die Heckscheibe eines Polizeiautos zu werfen. Doch bevor er seine Tat vollenden konnte, hatte ihm ein noch jüngerer Mann, ein 20-jähriger Polizist, aus dem Fahrzeug heraus in den Kopf geschossen. Damit hatte auch die Bewegung der Globalisierungsgegner ihren Märtyrer. Später behauptete die italienische Polizei, Giuliani soll dem "Schwarzen Block" angehört haben. Mit Totenkopfflaggen zogen diese schwarz vermummten Randalierer durch Genua. Sie steckten Autos in Brand, zerschlugen Fensterscheiben und warfen Steine. Straßenschlachten, wie sie sich in jüngster Vergangenheit auch rund um Fußballstadien abspielten.

Die Frankreichfahne ist zum Symbol des aktuellen Studentenprotestes in Deutschland geworden. Keine Totenkopfflaggen, nicht das Maschinengewehr auf rotem Kreuz und auch nicht das Konterfei von Che Guevara. Von französischen Verhältnissen sind wir in Deutschland weit entfernt, aber die Tricolore zeigt, wonach vielen zumute ist. Es fehlte nur noch, dass die Leute DDR-Fahnen schwenken. Dort hat 1989 sogar eine Revolution stattgefunden - friedlich. Anfangs waren es vielleicht auch nur 600 Leute. Heißt, der oder die Deutsche ist durchaus fähig, eine Meinung zu äußern und dafür auch einzutreten. Die RAF hat das in ganz krasser - und abzulehnender - Weise bewiesen. Die Studierenden heute demonstrieren nicht nur gegen Studiengebühren, sondern auch gegen eine Ökonomisierung der Bildung, für mehr Mitbestimmung an den Hochschulen und gegen Sozialabbau. Beinah genauso vergebens wie gegen den Irak-Krieg.

Weiterführende Links
http://www.dradio.de/aktuell/592367/Debatte um Schuld und Reue im Fall Mohnhaupt auf DeutschlandRadioKultur
http://www.jungewelt.de/2007/01-17/063.phpBrief von Inge Viett (junge Welt, 17.1.2007)
   






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