Zur aktuellen Ausgabe    
   
 
   
Immer mehr Piraten sind unter uns
POLITIK | IM GESPRÄCH (24.09.2009)
Von Michael Billig
Vor drei Jahren hat sich die Piratenpartei gegründet. Zur Europawahl dieses Jahr zählte sie in Deutschland 1400 Mitglieder. Inzwischen beträgt die Mannschaftsstärke mehr als 8500. Wir haben mit ihrem Kapitän im Bund, der Physiker Jens Seipenbusch (41), über Gründe für diesen Boom, Ziele der Freibeuter und politische Scharmützel gesprochen.



So wird über die Piratenpartei gedacht (42 sec.)

iley: Herr Seipenbusch, viele Menschen kennen die Piratenpartei noch nicht, andere schrecken schon vor dem Namen zurück. Wie wollen sie am Sonntag die Fünf-Prozent-Marke knacken?

Jens Seipenbusch: Es ist unser Hauptwahlkampfziel, uns weiter bekannt zu machen. Im Internet gelingt das sehr gut. Aber der wesentliche Teil der Wähler ist außerhalb des Internets zu erreichen. Da haben wir seit der Europawahl erhebliche Fortschritte gemacht. Wir haben mehr Geld eingesetzt. Deswegen haben wir mehr Plakate aufgehängen und in vielen Städten Stände und Treffen organisieren können. Außerdem erleben wir häufig, dass Eltern und Großeltern unser Mitglieder sich fragen: Was ist eigentlich die Piratenpartei?

###bild###iley:Die Piraten erlangen auch dadurch Bekannheit, dass sie sich gegen die Sperre von Internetseiten mit Kinderpornografie aussprechen. Glauben Sie nicht, dass das ein schlechtes Bild auf die Partei wirft?

Seipenbusch: Das kann gut sein. Es kann aber auch gut sein, dass die Wähler das differenzierter sehen. Das Zugangserschwerungsgesetz soll Kinderpornografie bekämpfen, tut es aber nicht. Dieses Gesetz ist nicht primär von der Piratenpartei kritisiert worden, sondern von einer großen Koalition im Netz. Es gab eine Petition dagegen. Sie hat 136.000 Unterstützer gehabt. Darin sieht man schon, dass das ein Thema von Netzpolitik allgemein ist. Ich denke, dass wir gegen Zugangssperren sind, schadet uns nicht, es macht uns eher glaubwürdig.

iley: Mit dem Bundestagsabgeordneten Jörg Tauss haben Sie jemanden in die Partei aufgenommen, der verdächtigt wird, Kinderpornos aus dem Internet herunterzuladen. Er wurde deswegen von der Staatsanwaltschaft angeklagt.

Seipenbusch: Wir wollen ihm keine Nachteile angedeihen lassen, ohne ein Urteil abzuwarten. Wir haben gesagt, dass wir die Unschuldsvermutung hochhalten müssen und ihn wegen der Anklage nicht einfach aus der Partei aussperren können. Herr Tauss war ja in der SPD, er hat die Partei verlassen, weil sie ihren medienpolitischen Kurs gewechselt hat. Herr Tauss ist im Bundestag und hat uns viel aus der Praxis erklären können.

iley: Was können die Piraten von den etablierten Parteien lernen?

Seipenbusch: Dass Politik ein Betrieb ist und den Umgang mit Medien – das ist ein Geschäft, das man gelernt haben muss. Sollten wir in den Bundestag kommen, müssen wir lernen, wie der parlamentarische Betrieb funktioniert.

iley: Gibt es auch etwas, was Sie sich lieber nicht von anderen Parteien abschauen wollen?

Seipenbusch: Wir wollen nicht in diesen Politikstil verfallen, dass man wirklich nur noch mit Floskeln arbeitet, dass man überhaupt keine Inhalte mehr transportiert, sondern nur noch das Marketing macht.

iley: Warum ist die Piratenpartei keine reine Internetpartei?

Seipenbusch: Weil wir das Thema Bürgerrechte nicht aufs Internet einschränken. Das Internet ist ja nur ein Kommunikationsmedium. Wir leben ja nicht im Internet. Wir leben in der realen Welt. Vorratsdatenspeicherung, Videokameras, Reisepässe mit Fingerabdrücken – das sind alles Dinge, die mit dem Internet nicht unmittelbar etwas zu tun haben.

iley: Das sind Themen, für die auch FDP und Bündnis90/Grüne stehen.

Seipenbusch: Die FDP hat beim großen Lauschangriff ihre Glaubwürdigkeit als Bürgerrechtspartei eingebüßt. Sie steht heute eher für Marktradikalität. Und die Grünen setzen ihre Prioritäten auch anders. Bei dem Zugangserschwerungsgesetz haben wir erlebt, dass ein Drittel ihrer Abgeordneten nicht dagegen gestimmt hat. Die Grünen setzen lieber die Abschaffung eines Kohlekraftwerkes durch und machen Kompromisse bei der Vorratsdatenspeicherung. Das sehen wir nicht ein. Wir wollen die Priorität nicht verlieren, dabei hilft uns sicherlich der eingeschränkte Themenkanon: Bürgerrechte im digitalen Zeitalter ist unser Kernthema.

iley: Warum ist Datenschutz so wichtig? Die Mehrheit der Bevölkerung scheint doch da einen lockeren Umgang zu pflegen.

Seipenbusch: Die meisten Leute können gar nicht einschätzen, welche Gefahr besteht. Wenn ich einkaufen gehe oder im Internet shoppe, laufen im Hintergrund Mechanismen ab, die ich gar nicht bemerke. Das nennt sich "Geoscoring". Da ziehen sich Geldinstitute beispielsweise meine Adresse und können nachvollziehen, wenn in meiner Nachbarschaft verhältnismäßig viele Leute ihre Kredite nicht zurückzahlen. Dann wird mir die Option, per Nachname zu zahlen, erst gar nicht eröffnet. Diese Diskriminierung fällt kaum auf.

iley: Ihre Kritik zielt folglich nicht nur auf den Staat, sondern auch auf Unternehmen?

Seipenbusch: Das Hauptproblem beim Datenschutz in den letzten Jahren war, dass Staat und Unternehmen gleichlautende Interessen hatten. Der einzeln Bürger war da in einer schlechten Position. Man denke an Schufa-Auskünfte, wo sich jetzt herausgestellt hat, dass jede zweite falsch ist. Oder die Versicherungswirtschaft, die eine schwarze Kartei hatte, die fast keiner kannte, die aber dazu führte, dass man unter Umständen für einen Vertrag mehr bezahlten musste.

iley: Dennoch haben mehr Menschen Angst um ihren Arbeitsplatz als um ihre Daten. Wie will die Piratenpartei Jobs schaffen? Oder machen Sie sich vielmehr Gedanken über ein bedingungsloses Grundeinkommen?

Seipenbusch: Es ist Konsens in unserer Partei, dass wir uns nicht zu Dingen äußern, von denen wir keine Ahnung haben. Nur so viel: Die letzten Jahre haben gezeigt, dass niemand ernstzunehmende Lösungsansätze hat. Es scheint eher so, dass es von den Zyklen der Weltwirtschaft abhängt, ob es uns besser oder schlechter geht. Ich glaube nicht, dass die CDU oder die SPD mit ihrem Parteiprogramm das Problem der Globalisierung lösen. Diesen Anspruch haben wir gar nicht, weil wir sehen, wie groß dieses Problem ist.

iley: Kommen wir von der großen weiten Welt wieder zurück ins beschauliche Deutschland. Wo positionieren sich die Piraten, eher links oder eher rechts?

Seipenbusch: Wir sind weder links noch rechts.

iley: Haben Sie keine Angst, von einer der beiden Seiten unterwandert zu werden?

Seipenbusch: Dass jetzt von allen Seiten an uns herumgezerrt wird, ist klar. Das wird in den Medien an einzelnen Mitlgiedern festgemacht. Aber in der großen Menge halten wir Kurs. Unser Augenmerk gilt dem Grundgesetz und seinen Bürgerrechten. Das wollen wir für alle Menschen erhalten. Wir haben keinerlei Interesse daran, Leuten mit ihren politischen Ideologien ein Forum zu bieten.

iley: Ist das Internet Ihre Heimat?

Seipenbusch: Als meine Heimat würde ich es nicht bezeichnen. Ich bin ja schon 41 und kenne noch die Zeit vor dem Internet. Für die Partei ist es medial so etwas wie eine Heimat. Viele junge Mitglieder sind damit aufgewachsen und unsere Kommunikation läuft darüber ab.

iley: Wie definieren Sie für sich Heimat?

Seipenbusch: Ich definiere Heimat nicht. Heimat ist ein verbrannter Begriff.

iley: Sie haben einer rechtskonservativen Zeitung einen Fragebogen ausgefüllt. Haben Sie die Frage nach der Heimat genauso beantwortet?

Seipenbusch: Nein, da war die Frage etwas anders gestellt. Ich habe geantwortet: Home is where the heart is.

iley: Die "tageszeitung" und "Spiegel online" haben kritisiert, dass sich Piraten in dieser Zeitung äußerten. Sind sie von den Reaktionen überrascht?

Seipenbusch: "Spiegel online" muss sich fragen lassen, warum sie dieser Zeitung so viel Publicitiy geben. Aber ich glaube, dass interessiert "Spiegel online" nicht. Es geht dort nur um den eigenen Artikel.
Dass bestimmte Medien uns fortweg ignorieren – aus politischen Gründen – überrascht mich. Das wirft ein interessantes Bild auf die Medienlandschaft. Es gibt eine hohe Medienkonzentration, was schlecht ist für die Meinungsvielfalt. Da ist das Internet toll, weil das Medienmonopol durchbrochen ist. Wir finden im Internet vielmehr statt als in den Printmedien.

iley: Zur Meinungsvieltfalt im Internet: Sollten Internetseiten mit rechtsextremen Inhalten gesperrt werden?

Seipenbusch: Das ist eine wirklich schwierige Frage.

iley: Schwieriger zu beantworten als die nach Internetseiten mit Kinderpornografie?

Seipenbusch: Nein. Sperren sind insgesamt falsch, weil es eine schwarze Liste beim Bundeskriminalamt gibt, die der Bürger nicht kontrollieren kann. Das ist Zensur und unserer Demokratie nicht würdig. In anderen europäischen Ländern sind solche Listen öffentlich geworden und darauf standen Seiten, die rechtlich nicht zu beanstanden sind.

iley: Da Sie Sperren ablehnen, sehen Sie sich nicht in der Pflicht, Alternativen anzubieten, wie man gegen Kinderpornografie im Internet vorgehen kann?

Seipenbusch: Das haben wir schon getan. Mit einer E-Mail an den Provider, wo das Material gehostet ist, kann man es entfernen lassen. Die Server stehen nicht wie häufig angenommen in der Karibik, sondern in England, in Deutschland und in den USA. Provider haben gegen ihre Kunden auch schon Anzeige erstattet.

iley: Wo sehen Sie die Piratenpartei in zehn Jahren?

Seipenbusch: Da sehe ich uns noch mitten in der politischen Debatte, weil die ganze Kompetenz, die beim Übergang ins digitale Zeitalter nötig ist, nicht so schnell in die anderen Parteien hineinsickert. Spätestens nach der nächsten Bundestagswahl sitzen wir auch im Parlament. Und wir werden noch einige Kämpfe erleben um Macht und Vorherrschaft, wo der Bürger seine Rechte verteidigen muss.

Vielen Dank für das Gespräch!

Weiterführende Links
http://www.taz.de/1/politik/deutschland/artikel/1/die-freiheit-die-wir-meinen/Artikel in der taz (15.9.2009): Die Freiheit, die wir meinen
http://www.spiegel.de/politik/deutschland/0,1518,649770,00.htmlArtikel bei Spiegel online (18.9.2009): Umstrittene Interviews
   






Unsere Texte nach Ressorts
GESELLSCHAFTPOLITIKKULTURREISEUMWELTWIRTSCHAFTSPORT
Ein sächsisches Dorf kann auch andersNewtons zweiter SiegWo Nachbarn zur Familie gehörenNur kein zweites KreuzviertelLiebe über den Tod hinausJede Fahrt eine DrogenfahrtEine Million Euro für die Cannabis-LobbyArmutszuwanderung? Eine Untergrunddebatte!Mails verschlüsseln leicht gemachtVerschlüsseln - eine Notlösung Soziale Demokratie geht auch ohne SPDBedingt verhandlungsbereitDas vergessene Massaker von AndischanDas Ende von Lüge und SelbstbetrugGeteiltes Volk einig im Kampf gegen IS-TerrorDie Urkatastrophe und wirDas Ende rückt immer näherNeue Regierung, neue Krisen, neue FehlerMerkels neues WirHausfotograf der deutschen Sozialdemokratie Liebeserklärung eines Linksträgers. Oder...Mit der Lizenz zum AusrastenDer beste Mann für Afghanistan"Weil sie auch nur Opfer sind"Gestatten, Gronausaurus!Missratenes PashtunenporträtDie Band LilabungalowWo Leibniz und Wagner die Schulbank drücktenHitler in der Pizza-SchachtelDie Freiheit des Radfahrens In der Wildnis vergessenStau in der FahrradhochburgMitfahrer lenken selbstÜber Wroclaw nach Lwiw - eine verrückte TourIm Frühjahr durch den Norden Polens - Teil 2Im Frühjahr durch den Norden Polens - Teil 1Sounds of KenyaDie 41-Euro-SündeRive Gauche vs. Rive DroiteOranje im Freudentaumel Drei Naturerlebnisse in einemDas Gegenteil von KollapsDas Gift von KöllikenDas große Pottwal-PuzzleBio bis in die letzte FaserDer WonnemonatKlimakiller sattDer Monsun - vom Quell des Lebens zum katastrophalen NaturphänomenR136a1 - Schwerer und heller als die SonneDie Rückkehr zur Wildnis Wie die Hausverwaltung GMRE ihre Mieter abzocktWachstum und BeschäftigungSo schmeckt der SommerMakler der LuxusklasseGeburtshelferinnen vom Aussterben bedrohtVersenkte Milliarden und eine verseuchte BuchtWohnungen als WareAufstieg, Krise und Fall der AtomwirtschaftDie längste Brücke Deutschlands entstehtDie Geschichte der 'Alternativlosigkeit' - Teil 2 Fußballtempel MaracanãGlanz und Niedergang der Fanclubsiley.de drückt Maschine Münster die DaumenUnsere Veranstaltungsreihe im Web TVFrankreich ist ein heißer Kandidat fürs FinaleSpanien wird den Titel verteidigenFür Deutschland ist im Halbfinale SchlussPolen hat das Zeug für eine ÜberraschungForscher, Fans und PolizeiFußball im Würgegriff der Mafia
 
Ja, auch diese Webseite verwendet Cookies. Hier erfahrt ihr alles zum Datenschutz