Zur aktuellen Ausgabe    
   
 
   
Ideologie - Noch Fragen?
POLITIK | HISTORISCH (15.02.2007)
Von Daniel Clemens
Wer das Wort Ideologie hört, denkt nicht als erstes an die durchaus große Bandbreite möglicher Ideologien, die auf -"ismus" enden. Oft ist der Begriff zunächst mit einem faden, dogmatischen Beigeschmack verbunden.

WWW

"I want you" (c) WWW

Während ich mir letztens eine Zigarette drehte, fiel mein Blick auf die in der Packung einer gewissen französischen Papermarke abgedruckte Kurzinformation über die Geschichte Frankreichs. Darin war die Rede von den Jakobinern, die laut Inhalt der wichtigste politische Klub während der Revolutionswirren nach 1789 gewesen waren. Darüber nachgedacht, dass die Verwendung des Begriffs "Revolutionswirren" eine elegante, jedoch um den Platz auf der Packung nicht zu strapazieren vereinfachte Formulierung der Zustände jener Zeit sein dürfte, ist es nahe liegend von einer Vielzahl von politischen Ansätzen auszugehen. Sie alle einte das Bestreben, das nach dem Fall der Monarchie bestehende Machtvakuum auszufüllen. Jeder dieser Ansätze wurde getragen von einer Anhängerschaft, die für ihre Ideen alleinige Wahrheit beanspruchte. Nicht ohne Grund liegt auch in dieser Zeit der Ursprung der Begriffsgenese der "Ideologie". Der französische Adlige und Philosoph Antoine Louis Claude Destutt schuf damals diesen Begriff als die Wissenschaft von Ideen. Unbestritten gab es auch schon vor der französischen Revolution Ideale "als System von Ideen". Dennoch wäre die Anwendung des Ideologiebegriffs in der seit den 90ern des 18. Jahrhunderts bis heute gebräuchlichen Form alleine schon deshalb anachronistisch, weil er in seiner Anwendung selbst Bestandteil politischer Agitation wurde.
Nachvollziehbar ist diese zeitliche Verortung des Begriffs allemal. So benötigt "der Mensch" eine Reihe von Systematisierungen, um sich in seiner Umwelt zu Recht zu finden, warum also nicht auch in politischen Kategorien und gerade wegen der "Revolutionswirren". Doch gleich zu Anfang der Revolution kam es zu starken Radikalisierungen politischer Ansichten und zum einen oder anderen Toten. Die Geschichte des Begriffs der Ideologie ist also seit jeher eng verbunden mit dem radikalisiertem Kampf der Ideologien.

Schauen wir auf die jüngere Vergangenheit, von der die jüngste kaum zu trennen ist, so lassen sich vorrangig drei konkurrierende politische Ideologien ausmachen, die das letzte Jahrhundert geprägt haben und mit ihrem Wahrheitsanspruch durch zwei Weltkriege und etliche "kleinere Scharmützel" gegangen sind. In der rechten Ecke befinden sich die konservativen bzw. faschistischen Kräfte, in der linken Ecke befinden sich die sozialistischen bzw. kommunistischen Kräfte. Und die sich aus dem "vermeintlich" moralischem Wahrheitsanspruch heraus definierenden bürgerlich-liberalen Kräfte konstituierten sich im Laufe der Zeit immer mehr in Personalunion des Ringsprechers und des Schiedsrichters in der Mitte. Nun ist es auch selbstverständlich vorsorgliche Aufgabe der beiden verschwitzt agierenden Lager dem Ringrichter Parteilichkeit vorzuwerfen, um seine moralische Qualität und die des anderen Extrems zu diskreditieren.

Die Weimarer Republik im Gerangel der Ideologien

Natürlich sind positive moralische Attribute subjektiv und den einzelnen Ideologien immanent. Jedoch bestimmen sie den kategorisch geforderten Wahrheitsanspruch und das (Selbst)bewusstsein politischer Bewegungen. Die Wahrheit liegt dabei immer in der Präsentation von Zielen, die als Lösung einer Krisensituation dienen sollen. Das Ende des 1. Weltkriegs und das Diktat der Siegermächte durch die Pariser Vorortverträge bedeuteten insbesondere für Deutschland eine neue Krisensituation. Nach der Abdankung des Kaisers befand sich das Reich in den Nachwehen der russischen Revolution. Ultralinks gerichtete Kräfte unter Führung solcher Persönlichkeiten wie Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht sahen nun die Zeit für eine deutsche Revolution im russischen Stil.
Lediglich die Proklamation der Republik durch den Sozialdemokraten Philipp Scheidemann wirkte in dieser Phase auch durch und gerade mit Hilfe des Militärs stabilisierend. Doch wirkte diese oberflächliche Stabilisierung wie ein Placebo und die schweren Kriegsschulden, die Gebietsabtretungen und die Beschneidung militärischer Potenz einerseits, sowie die immanenten wirtschaftlichen Krisen und die Weltwirtschaftskrise ab Ende der 20ger andererseits und die damit verbundenen Wehen der Moderne in Deutschland lasteten schwer auf der jungen Weimarer Republik. Das Vertrauen in die Demokratie und die sich mit ihr identifizierenden bürgerlich-liberalen Kräfte schwanden zusehends und die KPD und später die NSDAP zogen vermehrt Stimmen von der politischen Mitte auf die extremen Flügel. Beide Pole verstanden es, die Massen zu mobilisieren und während sich im Parlament die gemäßigten- und konservativ-bürgerlichen Kräfte in ihren jeweiligen Regierungen zum Ende der Republik meist nur noch mit der Hilfe der überdimensionierten Befugnisse des Reichspräsidenten halten konnten, wurde längst auf der Straße Politik mit anderen Mitteln gemacht.

Die beiden konkurrierenden Ideologien bezogen ihr Selbstverständnis aus Vorbildern, hier der italienische Faschismus, der in den 1920ern weltweit besonders in konservativen Kreisen als mögliche Alternative zur Demokratie gehandelt wurde. Dort die kommunistische Weltrevolution ausgehend von der Sowjetunion. Beide Ideologien tragen durchaus gleiche Züge. So ging es beiden um die Schaffung eines neuen Menschen(bildes). Beide propagierten die Schaffung eines Kollektivs (national/rassisch bzw. international/proletarisch), beide diskreditierten die bürgerliche Demokratie als zu anfällig für das andere Extrem (war es hier die Verhinderung der Ausbreitung des Kommunismus, war es dort die Diktatur von Cliquen und Kapital) usw. usf..
Beide hatten bis 1953, dem Todesjahr Stalins, eine Menge Leute auf dem Gewissen und sollten auch danach nicht wirklich untätig sein. Für alle Anhänger eines romantisch verklärten Kommunismus sei noch ein Ausspruch Rosa Luxemburgs beschrieben, der für mich viel über das Selbstverständnis und das Bewusstsein des extrem linken ideologischen Flügels aussagt, der sinngemäß lautet - eine Mehrheit ist immer eine gute Sache, nur muss es ja nicht immer eine quantitative sein.
Diese Aussage trifft auch den Charakter jeder terroristischen Gruppierung jeglicher Ideologie, welche immer von einer eklatanten Unmündigkeit der Restbevölkerung ausgehen, die unbedingt wachgerüttelt werden muss, um den "wahren" Feind zu sehen. Nach dem Untergang des (deutschen) Faschismus ist es vor allem müßig, ihn bei jeder Gelegenheit aus dem Köcher zu ziehen. Man sollte Analogieschlüsse ziehen, wo sie angebracht sind, nicht dort, wo sie einfach nur umhauen wollen.

Der heilige Gral

Nachdem man den indiskutablen Pfad faschistischer Ansichten auf nimmer Wiedersehen verlassen sollte und der Kommunismus aufgrund der menschlichen Natur wohl noch einige Zeit zu den Utopien gehören wird, stellt sich nun die Frage ob die bürgerlich-liberale Position Lancelot an sein Ziel bringen wird und Wohlstand und Zufriedenheit zu erwarten sind.
Zumindest eine Krisensituation neuen Ausmaßes scheint erkennbar. Seit langem war kein Prozess mehr so ideologisch vereinnahmt wie der der Globalisierung durch bürgerlich-liberale Kräfte. Die Basis des bürgerlich-liberalen Lagers sind die individuelle Freiheit des Einzelnen und die Sicherung des Eigentums. Gerade letzteres scheint jedoch in der jetzigen westlichen (und fernöstlichen) Auffassungsform den Gerechtigkeitssinn bürgerlichen Bewusstseins zu demontieren. Die Abhängigkeit der Politik vom Kapital ist eklatant geworden. Hinzu kommt durch die Gewissheit, die kontrahierenden Ideologien (Faschismus und Kommunismus) als unmoralisch bzw. nicht-praktikabel enttarnt zu haben, ein geprägtes Selbstverständnis expansiven Charakters. Den Wahrheitsanspruch vermeintlich besitzend, scheint es notwendig, den Rest der Welt daran teilhaben zu lassen oder gar aufzwingen zu müssen.
Anders kann man zum Beispiel die Intervention im Irak und das damit verbundene Ziel einer schnellen Demokratisierung ohne Berücksichtigung einer fehlenden aufklärerischen Phase in der Geschichte des Nahen Ostens nicht erklären. Damit sind nicht die Interessen politischer Akteure gemeint, sondern der anfänglich naiv wirkende breite Konsens in der amerikanischen Öffentlichkeit. Und eine Erkenntnis, die uns durch die Aufklärung zur Verfügung stehen sollte: Waffen und Geld klären nicht auf!
Bei allem übertriebenen positiven Selbstverständnis und bei allem offenkundigen Überholungsbedarf innerhalb der bürgerlichen Demokratie bleibt eines dennoch tragend: Man kann daran arbeiten - und es ist gut, dass das möglich ist.

Diese von mir dargestellten Ansichten sind aufgrund ihrer fehlenden Lösungsvorschläge keine Ideologie. Alle Übereinstimmungen mit Ansichten anderer Personen oder Gruppen sind rein zufällig und nicht gewollt.
   








Unsere Texte nach Ressorts
GESELLSCHAFTPOLITIKKULTURREISEUMWELTWIRTSCHAFTSPORT
Ein sächsisches Dorf kann auch andersNewtons zweiter SiegWo Nachbarn zur Familie gehörenNur kein zweites KreuzviertelLiebe über den Tod hinausJede Fahrt eine DrogenfahrtEine Million Euro für die Cannabis-LobbyArmutszuwanderung? Eine Untergrunddebatte!Mails verschlüsseln leicht gemachtVerschlüsseln - eine Notlösung Soziale Demokratie geht auch ohne SPDBedingt verhandlungsbereitDas vergessene Massaker von AndischanDas Ende von Lüge und SelbstbetrugGeteiltes Volk einig im Kampf gegen IS-TerrorDie Urkatastrophe und wirDas Ende rückt immer näherNeue Regierung, neue Krisen, neue FehlerMerkels neues WirHausfotograf der deutschen Sozialdemokratie Liebeserklärung eines Linksträgers. Oder...Mit der Lizenz zum AusrastenDer beste Mann für Afghanistan"Weil sie auch nur Opfer sind"Gestatten, Gronausaurus!Missratenes PashtunenporträtDie Band LilabungalowWo Leibniz und Wagner die Schulbank drücktenHitler in der Pizza-SchachtelDie Freiheit des Radfahrens In der Wildnis vergessenStau in der FahrradhochburgMitfahrer lenken selbstÜber Wroclaw nach Lwiw - eine verrückte TourIm Frühjahr durch den Norden Polens - Teil 2Im Frühjahr durch den Norden Polens - Teil 1Sounds of KenyaDie 41-Euro-SündeRive Gauche vs. Rive DroiteOranje im Freudentaumel Drei Naturerlebnisse in einemDas Gegenteil von KollapsDas Gift von KöllikenDas große Pottwal-PuzzleBio bis in die letzte FaserDer WonnemonatKlimakiller sattDer Monsun - vom Quell des Lebens zum katastrophalen NaturphänomenR136a1 - Schwerer und heller als die SonneDie Rückkehr zur Wildnis Wie die Hausverwaltung GMRE ihre Mieter abzocktWachstum und BeschäftigungSo schmeckt der SommerMakler der LuxusklasseGeburtshelferinnen vom Aussterben bedrohtVersenkte Milliarden und eine verseuchte BuchtWohnungen als WareAufstieg, Krise und Fall der AtomwirtschaftDie längste Brücke Deutschlands entstehtDie Geschichte der 'Alternativlosigkeit' - Teil 2 Fußballtempel MaracanãGlanz und Niedergang der Fanclubsiley.de drückt Maschine Münster die DaumenUnsere Veranstaltungsreihe im Web TVFrankreich ist ein heißer Kandidat fürs FinaleSpanien wird den Titel verteidigenFür Deutschland ist im Halbfinale SchlussPolen hat das Zeug für eine ÜberraschungForscher, Fans und PolizeiFußball im Würgegriff der Mafia
 
Ja, auch diese Webseite verwendet Cookies. Hier erfahrt ihr alles zum Datenschutz