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Quo vadis Afghanistan ?
POLITIK | HINTERGRUND (04.11.2010)
Von Craig Naumann
Will der Westen am Hindukusch endlich zu einer tragfähigen Lösung kommen, muss er zu Zugeständnissen und Verhandlungen mit radikalen Taliban bereit sein. Außerdem ist ein "Marshallplan" vonnöten, der nicht nur Afghanistan, sondern auch Pakistan und die Region Kaschmir einbezieht.

In der großen geopolitischen Realpolitik überlagern knallharte Machtinteressen des militärisch-ökonomischen Komplexes das Primat der sozio-ökonomischen Entwicklung. Nur so scheint erklärbar, warum die Regierung Obama sich nicht vom Siegfriedensmodell à la Bush-Cheney abgewandt hat, sondern mit dem Architekten des irakischen “surge“, General Petraeus, weiterhin ihr Kriegsglück versucht. Petraeus, der den Job des US-Militärführers in Afghanistan im Frühjahr 2010 von McChrystal übernahm, ist seitdem zu Obamas Grubenvorarbeiter am Hindukusch geworden. Dass dabei Petraeus' Wirken in der benachbarten “Zeche Irak“ als das Maß aller Dinge gelobt wird, sagt viel über die prekären Zukunftsaussichten für Afghanistan aus.
Das surge-Modell beruht auf der Annahme, durch die Organisation eines Gegenaufstands verschiedener Stammesgruppen mit gezielter Unterstützung durch (Wieder-)Bewaffnung und Finanzierung, den militanten Widerstand gegen die Regierung brechen zu können. Nur zeigt die geschichtliche Erfahrung, dass solcherlei Taktik in Afghanistan immer nur zu kurzfristiger Stabilität in begrenzten Räumen führte und eher einer Friedhofsruhe als genuinen Frieden anverwandt ist. Es lässt sich bereits vorhersagen, dass “strategische Allianzen“ mit Untergruppen nur ein Intermezzo vor weiteren Runden intra-afghanischen Hauens und Stechens sein werden.

Verfehlte Ziele

(1) Der immer noch verfolgte Siegfrieden ist bereits seit geraumer Zeit gescheitert.

(2) Die US sowie die NATO-Strategen bewegen sich militärstrategisch in autistisch imaginierten Welten, was die Möglichkeiten des von ihnen Beeinfluss- und Machbaren und die Stimmungslage unter der Bevölkerung angeht.

(3) Die “moderaten Taliban“ sind, so sie überhaupt je existierten, nicht die Verhandlungspartner, auf die es ankommt. Verhandlungen müssten mit den oppositionellen Hardlinern geführt werden, wie den Anführern des Haqqaninetzwerkes, etwa Gulbuddin Hekmatyar, und den Taliban unter Anführerschaft von Mullah Omar.

Aktuelle Probleme

(1) korrupte Eliten

(2) wenig leistungsfähige bzw. –willige öffentliche Institutionen

(3) Dominanz des top-down-Planungsansatzes, der in der Regel zu wenig überzeugenden Ergebnissen führt

(4) kontinuierliche Stärkung politisch-wirtschaftlicher Zentrifugalkräfte

(5) eine kontraproduktive Militärstrategie und Staatskonzeption, die auf die kontinuierliche Marginalisierung und Selbstzerfleischung großer Teile des afghanischen Gründer- und (ursprünglichen) Staatsvolkes, der Paschtunen, hinausläuft.

Die Kräfteverhältnisse haben sich innerhalb der letzten Jahre zu Ungunsten des Lagers der Alliierten verschoben. Die Spielregeln in dieser aktuellsten Ausgestaltung des Wettringens von Supermächten in Südasien, dem sogenannten “New Great Game“, haben sich geändert.

Vorschläge für neue Ziele

(1) Klärung verbliebener Altlasten der Kolonialzeit: Die Durand-Linie, Kaschmir und die geo-strategisch festgefahrenen Gegensätze zwischen Pakistan und Indien - beide betrachten Afghanistan durch die Brille ihrer konträren Partikularinteressen als “strategic depth“ - müssen neu verhandelt werden.


(2) Friedenskonzept für den gesamten Krisenraum über Grenzen hinweg: Solange kein visionäres, die tradierten Einzelinteressen übergreifendes Gesamtkonzept für die gemeinsame Entwicklung dieses geo-strategischen Raumes entwickelt, finanziert und umgesetzt wird, bleiben Afghanistan und die “tribal areas“ (FATA etc.) südlich der Durand-Linie, in Pakistan, unberechenbare Unruhe- und Kriegsherde.


(3) Radikales Überdenken des top down-lastigen staatlichen Regierungsmodells: Der Anspruch zentralstaatlicher Kontrolle des paschtunischen heartland bzw. der Kernsiedlungsgebiete (auch bekannt als paschtunischer Halbmond, der sich beidseitig der Durand-Linie erstreckt) ist zum Scheitern verurteilt.


(4) Direktverhandlung der afghanischen Regierung mit der radikalen Opposition: Das Bonn-Petersberger Staats- und Verfassungsmodell ist gescheitert und muss daher neu verhandelt werden, unter Einschluss der Taliban, Hekmatyars und der Haqqanis.


(5) Ausloten und Aufbau alternativer Regierungsformen: Ein föderatives Staatsmodell, möglichst mit rotierendem Vorsitz z.B. eines Dreierrats, aufbauend auf dem Subsidiaritätsprinzip, d.h. unter Delegation von Planungs- und Budgetierungsvorrechten an die Provinzen bzw. Regionen, wäre entwicklungsfähiger als das jetzige Zentralstaatsmodell.


(6) Neudefinition der regionalen Aufgliederung: Anstelle der momentan existierenden Zerstückelung in fast drei Dutzend Provinzen bei mehreren hundert Distrikten erscheint eine Neugliederung in eine überschaubare Zahl an Großregionen (mit ihren Distrikten) überdenkenswert.


(7) Deeskalation durch Einbindung der internationalen Gemeinschaft über die “Gemeinschaft der Willigen“ hinweg: Anstelle der Ankündigung eines sukzessiven Abzugs westlicher Kampftruppen bei gleichzeitiger Übertragung des Kampfauftrages an die zentrale Armee ANA (und, in begrenzterem Ausmaß auch die Polizei bzw. ANP) wäre eine Verpflichtung der Weltöffentlichkeit hilfreich, mit großen Kontingenten von UNO-Blauhelmtruppen präsent zu bleiben (bei weiterer Beteiligung der USA, möglichst aber nicht unter USA-/NATO-Kommando). Dies wäre ein konstruktives, stabilitäts- und vertrauenssicherndes Signal an die Zivilbevölkerung sowie an die Politik, Verwaltung und die aktuell wie potentiell auch in Zukunft um Einfluss kämpfenden Parteiungen dafür, dass die Weltgemeinschaft diesmal Afghanistan nicht verlassen und sich selbst überlassen wird.


(8) Ein gemeinsamer Plan für Afghanistan, Pakistan und Kaschmir: Ein integriertes Gesamtkonzept zur nachhaltigen sozio-ökonomischen Entwicklung ist vonnöten, um die erforderliche Grundlage für die Stabilisierung der Region zu schaffen und die Rekrutierungslager der Madrassas und islami(sti)schen Solidaritätsverbände in einen friedlichen Entwicklungsprozess einzubinden. Der Westen (und speziell die USA) sollte dabei von der Vorstellung Abstand nehmen, den Afghanen die spezifische Ausgestaltung eines neuen Staats- und Entwicklungsmodells diktieren zu müssen oder zu können; Verhandlungen müssen unter und von den Afghanen selbst geführt werden; der internationalen Gemeinschaft (idealerweise unter Schirmherrschaft der Vereinten Nationen, nicht der USA oder der NATO) kommt dabei die Rolle des Ideengebers und, falls nötig, Vermittlers und nicht zuletzt die des Financiers zu.


(9) Angemessene Finanzierung eines solchen umfassenden Entwicklungsplans: Ein solcher “Marshallplan“ unter Einbezug der momentanen talibannahen Opposition müsste mit mehreren hundert Milliarden Dollar und somit weitaus großzügiger ausgestattet werden, als dies bisher für zivile Unterstützungsmaßnahmen der Fall war; diese sehr hohen Aufwendungen wären unter dem Strich immer noch niedriger als die momentanen Kosten der militärischen Konfrontation und ihrer sozialen Folgekosten von Toten, Krüppeln und psychisch Geschädigten.


(10) Nutzung existierender Synergien und Potenziale: Die Flutkatastrophe in Pakistan bietet einen konkreten (wenn auch traurigen) Anlass, um die konventionelle, engstirnige Beschränkung auf ausschließlich nationale Lösungsansätze zu überwinden und Entwicklungsstrategien transnational übergreifend zu konzipieren und zu implementieren; kulturell, linguistisch, historisch und sozial existieren viele Anknüpfungspunkte und Gemeinsamkeiten zwischen den Paschtunen beiderseits der Durandlinie.


Zuguterletzt sollte nicht vergessen werden, dass ein strategischer Umgang mit al-Qaida beinhaltete, vermittelnd auf Israel einzuwirken. Denn eine Lösung des Palästinaproblems würde al Qaida praktisch automatisch die Existenzgrundlage entziehen.
Ob für die angeführten Punkte von den diversen Parteien eine Lösung ausgehandelt werden kann, ist nach wie vor eine offene Frage. In der Tat wird im Hinblick auf ein Vorausdenken möglicher Zukunftsszenarien immer wahrscheinlicher, dass der Westen zu erheblichen Zugeständnissen bereit sein muss, um zu einer tragfähigen Kompromisslösung mit der afghanischen Seite (und hier v.a. der Radikalopposition) zu gelangen.
   








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