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Deutsches Krankenhaus im Land der Taliban
POLITIK | TREFFEN mit Karla Schefter (23.05.2011)
Von Dirk Schneider
Vor gut zwanzig Jahren hat die Dortmunderin Karla Schefter in einer afghanischen Provinz ein Krankenhaus gegründet. Doch kämpfen muss sie vor allem in Deutschland – um öffentliche Gelder und Unterstützer.

CPHA

Karla Schefter (M.) - gelernte Krankenschwester und Hospital-Gründerin in Afghanistan. (c) CPHA

Die Taliban haben ihr geschrieben. Karla Schefter fingert einen Brief aus dem Umschlag, pergamentenes Papier, versehen mit einem roten Emblem voller Verzierungen. Sie sitzt in ihrer Dortmunder Wohnung und liest ohne aufzublicken vor: "Im Namen der islamischen Bewegung", schreibt ihr ein Mullah. Dann erzählt er von ihrem Hospital in den Bergen, von den Kranken und Verletzten der vergangenen zwei Jahrzehnte, er schreibt auch von Ungewissheit und Unsicherheit im Land. Endlich bedankt er sich "sehr herzlich" für ihren Mut und bittet, sie möge im Land bleiben.

Sich keine Feinde machen

"Dieser Brief ist eine gute Botschaft", befindet Schefter und nippt in ihrer Wohnung im Dortmunder Süden an einem Kräutertee. Sie sitzt auf ihrem Sofa, die nackten Füße angewinkelt auf dem Leder. Eine Abenteurerin mit einer klaren, festen Stimme und glatten, hellleuchtenden Haaren. Dann schiebt sie den Brief in eine Folie und heftet ihn in einen Ordner ab – zwischen dem Fax des Gesundheitsministers aus Kabul und den Schreiben von lokalen Autoritäten. Es ist eine Mappe voller Glückwünsche und Bittschreiben von allen Kriegsparteien. "Sich niemanden zum Feind machen", sagt sie, so habe sie mehr als zwei Jahrzehnte in Afghanistan überlebt.
Als hier zu Lande die Berliner Mauer fiel, gründete Karla Schefter in Chak-e-Wardak, einem Provinzort am Hindukusch, ein Hospital. Auf 2400 Metern Höhe, 65 Kilometer südwestlich von Kabul. "Ein schöner Ort mit herrlichen Apfelplantagen", erzählt sie. Damals bereiste sie Afghanistan zum ersten Mal, nur mit einem Seesack auf dem Rücken. Ein Jahr wollte sie bleiben, das war ihr Plan. Doch sie war hingerissen, von den Menschen, der Landschaft. Und dann half sie, ein Krankenhaus mit aufzubauen. Seither werden dort Patienten mit Hepatitis und Tuberkulose behandelt, es wird gegen Masern und Kinderlähmung geimpft, Schwangerschaftstests und Röntgenuntersuchungen werden durchgeführt. Es gilt damit als wohl das beste Hospital am Hindukusch.

So sieht es aus - das wohl beste Hospital in Afghanistan. (c) CPHA


Jede zehnte Frau stirbt an einer Schwangerschaft

Schefters Zeigefinger gleitet jetzt über ein neues Blatt Papier, eine Statistik: 60 Betten besitze das Hospital, 70.000 Kranke suchten es jährlich auf. "Hier", sagt sie, "in diesem Monat wurden 905 Patienten aufgenommen." Bei so viel Andrang werden dann Feldbetten aufgestellt, und immer zwei Kinder teilen sich ein Bett. Und noch eine Bilanz zieht sie aus einem der vielen Papierstapel in ihrem Wohnzimmer: Demnach leiden viele Patienten an Schlaganfällen oder Wurmkrankheiten, andere an Aids. Jede zehnte Frau stirbt an einer Schwangerschaft, jedes vierte Kind vor dem fünften Lebensjahr meist an Typhus oder Durchfall. Im ganzen Land, sagt sie, gebe es keine Hirnchirurgie, keine Dialyse, Krebsvorsorge oder Herzschrittmacher.
Neun Monate im Jahr arbeitet Karla Schefter in Chak-e-Wardak, die anderen drei Monate tourt sie durch Deutschland. Hält Dia-Vorträge, nimmt an Podien teil, gibt Interviews. Sie sammelt Spenden, braucht jährlich 500.000 Euro, um das Krankenhaus zu erhalten – und manchmal ähnelt es einem Kampf ums Überleben. Erst dieser Tage, Anfang Februar, hat das Auswärtige Amt einen Antrag über 50.000 Euro für Medikamente abgelehnt. Dabei werden schon alle laufenden Kosten wie Personal, Verpflegung, Diesel und Holz privatfinanziert. "Zeitweise wagte ich es kaum, für den nächsten Monat zu bürgen."

Spenden unterm Kleid versteckt

Karla Schefter trägt einen dunklen Salwar-Kamiz, das traditionelle afghanische Männerkleid, spricht ruhig, fast gleichmütig, gestikuliert ohne Hektik. Ein praktischer Anzug, dieser Shalva-Kamiz, meint sie plötzlich und erzählt: Einmal, es war Anfang der Neunziger, habe sie darunter sogar Geldbündel versteckt. Mit 100.000 DM Spenden für ihr Hospital reiste sie von Kabul nach Chak-e-Wardak. "Eine Bank gab es ja nicht."
Hinter ihr ziert ein dunkler Wandteppich den Wohnraum. Fotobände stehen in den Regalen. Um sie herum hängen Fotos der Buddha-Statuen aus dem Bamijan-Tal, als sie noch nicht von den Taliban gesprengt waren. Manches sind Erinnerungen an eine vergangene Zeit.
Karla Schefter ist ein Flüchtlingskind aus Ostpreußen, aufgewachsen in Hamburg. Als Kind schwört sie sich unter einer Trauerweide an der Außenalster, die Welt zu erkunden. Als Jugendliche verschlägt es sie dann nach Istanbul, später ins Ruhrgebiet. Sie wird Krankenschwester und plant immer neue Erkundungsfahrten: Sie bereist China, Indien, durchquert fast ganz Asien, trampt 5.000 Kilometer durch Tibet, fliegt nach Mexiko, Kolumbien, Kanada, Australien, sogar in die Antarktis. Rund 90 Länder lernt sie kennen und gewinnt ein "Urvertrauen in die Menschen".

Anfang ohne Strom

Sie passt sich an lokale Kulturen an, bewegt sich unauffällig. In islamischen Staaten trägt sie Kopfschleier; wenn sie keine Aufenthaltsgenehmigung erhält, reist sie unter der Burka. "Lange Bärte habe ich nie gefürchtet." Nie ist sie offensiv. Vorsichtig fragt sie ihre Begleiter: "Können wir dahin" oder "ich würde gerne". Und die Begleiter entgegneten für gewöhnlich: "Die Karla nehmen wir mit, die macht keine Probleme."
So bereist sie Afghanistan auf der Straße. Nur einmal bangte sie um ihr Leben, als sie an Malaria litt. Sie lag auf einer Matratze, knöpfte ihren Baumwollanzug zu, strich den Kragen glatt; die Männer hätten sich nicht für sie schämen sollen.
Anfangs gab es nicht mal Strom. Heute verfügt das Hospital
über einen Röntgenapparat (c) CPHA
Ruhe bewahren, sich zurückhalten, nicht viel reden, das liege ihr. Aber schnell reagieren, wenn es denn sein müsse. Sie habe das als Krankenschwester im OP-Saal gelernt. Schon mit 24 Jahren übernahm sie die Pflegeleitung im Städtischen Klinikum Dortmund und baute OP-Abteilungen für Allgemein- und Herzchirurgie mit auf. 23 Jahre leitete sie die Stationen.
Als sie in Afghanistan das Krankenhaus mitbegründete, war es ein Anfang ohne Generator, ohne Elektrizität, ohne Koch, ohne Auto. "Elf Jahre Plumsklo." Und wenn Seminare organisiert wurden, mussten Hunderte Einladungen mit der Hand geschrieben und mit eigenen Boten versendet werden. Denn ein Postsystem gab es nicht, nur in Kabul habe ein Briefkasten gestanden.
Ihr System funktionierte, und zu den Seminaren kamen oft 60 Pfleger und Ärzte, selbst aus den Nachbarregionen. Im fünften Jahr erhält das Hospital einen Generator, später einen Computer. “Alles kann gelingen”, resümiert sie.

Frauen im Team

Und dann, 1994, wird ein Frauenteam gegründet. Doch es müssen Regeln und Sitten beachtet werden. Eine Ärztin beginnt etwa zu praktizieren, ohne ihren Mann um Erlaubnis gebeten zu haben. Sie wird von der Familie nach Hause befohlen und darf nicht mehr arbeiten. Karla Schefter läd den Mann ein, erklärt ihm, wie wichtig seine Frau für die Patienten sei – "aber eigentlich suchte ich nur einen Weg, dass er sein Gesicht wahren und sie wieder arbeiten kann." Sie findet diesen Weg.
Dann erobern die Taliban im Land die Macht. Deren Verbrechen? "Dass sie sechs Jahre den Frauen die Bildung verweigern, dass Biologie und Anatomie nicht unterrichtet werden dürfen", sagt Schefter. Doch wieder findet Schefter einen Weg – und bildet bald sogar Frauen für das ganze Land in Physiotherapie aus. Sie habe das nur eben nicht laut mit einem Sprachrohr verkündet. So lassen die Taliban sie gewähren.
Karla Schefter steht vom Sofa auf, holt sich aus der Küche einen neuen Tee und hält plötzlich ein Gästebuch in der Hand: Botschafter, Fernsehleute, Politiker haben Wünsche für das Krankenhaus hinterlassen. Aber niemand, habe das Land wirklich verstanden. Sie alle erwarteten zu viel, in zu kurzer Zeit. Dreißig Jahre Krieg habe das Land erlebt. Es brauche Geduld. Politiker und Helfer kämen aber angeflogen, wollten sofort Entscheidungen und Unterschriften – und flögen doch bald wieder davon. "Es scheitert so vieles, weil die Ausländer nicht genug Tee mit den Afghanen trinken."

Bilder vom Krieg

Karla Schefter lebt mit den Afghanen zusammen, in gewisser Weise jedoch auch neben ihnen: Sie spricht keine Stammessprache; niemand könne ihr daher vorwerfen, dass sie sich in zu vieles einmische – oder gar missioniere. Außerdem, aber das sagt sie später, als sie müde ist, habe sie so mehr Ruhe vor den Zwistigkeiten des Alltags.
Aus der Fotostrecke: Afghanistan 1991

Sie hat Jahre der Wirren und des Krieges ausgehalten, Tausende Flüchtlinge gesehen. Sie hat die Taliban erlebt. "Geh nie zu deinem König, wenn du nicht gerufen wirst", rieten ihr in all den Jahren ihre afghanischen Freunde. Schefter hat sich auch deshalb immer als "nur medizinische Partei" bezeichnet. Doch sie wird nicht immer als eine solche erkannt. Sie holt Fotos hervor, zeigt auf ausgebombte Fahrzeuge von Mitarbeitern. Und über manches in ihrem afghanischen Leben möchte sie am liebsten schweigen, doch es lässt sie nicht los und wohl auch deshalb hat sie ein Buch über ihr Leben dort geschrieben.
"Es ist chaotisch geworden." Sie wagt es derzeit nicht mehr, über den Landweg von Pakistan nach Kabul zu reisen. Sie fliegt mit dem Roten Kreuz bis in die afghanische Hauptstadt. Von dort geleiten ihre Mitarbeiter sie auf verschlungenen Wegen nach Chak-e-Wardak. Noch führt über jeden Berg ein Weg, lautet ein afghanisches Sprichwort.
Noch einmal kramt sie in einem Dia-Ordner. Auf Vorträgen zeige sie am liebsten die schönen Bilder von der grandiosen Landschaft, den Menschen, den paradiesischen Apfelplantagen. Und nirgends habe sie so viele Blumen erhalten wie in Afghanistan.
Jenseits ihres Dortmunder Wohnzimmers wird es dunkel; und Schefter erzählt nun doch noch einmal, wie sie Fronten passierte und Raketenbeschuss erlebte. "In der Stadt Khost, die im Handstreich erobert wurde, war ich die einzige Zivilistin." Sie sah enthauptete Soldaten, zerfetzt am Straßenrand. Ob sie die nicht fotografieren wolle, wurde sie gefragt. "Nein", sagte sie, das sei nicht mit der Würde des Menschen vereinbar.
Manchmal wird sie von solchen Erinnerungen fast erdrückt. Einmal wacht sie nachts in ihrer Dortmunder Wohnung auf. "Ich hörte ganz deutlich, wie in der Nähe Bomben detonierten; ich fühlte den Krieg", sagt sie. Es war nur ein Feuerwerk im Westfalenpark.


Literaturtipp Karla Schefter (2003): Weil es um die Menschen geht. Als Krankenschwester in Afghanistan.
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Dieser Beitrag ist in der MAZ (Münsters Alternative Zeitung) erschienen. Das Onlinemagazin iley und das Printprodukt MAZ, herausgegeben von den Grünen in Münster, kooperieren auf unbestimmte Zeit. Die Idee: Onlineartikel gehen bei der MAZ in den Druck und ausgewählte Printartikel wandern bei iley ins Netz.
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Weiterführende Links
http://www.chak-hospital.info/Chak-Hospital-Project
   




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