Zur aktuellen Ausgabe    
   
 
   
Über das Wesen des Europäischen
GESELLSCHAFT | EU-ERWEITERUNG (15.10.2006)
Von Elke Schomacher
Es war einmal, so geht eine uralte Sage, eine asiatische Prinzessin mit Namen Europa. Eines Nachts träumte sie, dass zwei Länder in Gestalt zweier Frauen sich um sie stritten: Die eine, das "Land Asien", wollte sie behalten; die andere, das "Land gegenüber", wollte sie auf das Meer hinausziehen.

photocase.com (Marwien)

Europa-Statue in den Herrenhäuser Gärten in Hannover (Foto nachbearbeitet) (c) photocase.com (Marwien)

Als sie erwachte, ging sie an das Ufer des Meeres und pflückte dort Blumen.
Sie sah, wie ein mächtiger, aber friedlicher Stier den Wellen entstieg. Er bewegte die Prinzessin schließlich dazu, sich auf seinen Rücken zu setzen, und flog mit ihr davon. Auf der Insel Kreta offenbarte er ihr dann seine wahre Identität, die des Gottes Zeus. Er vereinigte sich dort mit ihr, und sie wurde die Mutter edler Söhne [1].

Diese Legende beschreibt die wesentliche Eigenschaft des heutigen Europas: Homogenität in der Diversifikation. Wir, die Europäer, die "edlen Söhne" einer großen Mutter, sind uns nicht gleich. Das macht es auch so schwer, unser Europäertum zu erfassen, zu beschreiben und zu definieren - was sind, was können die Merkmale des Europäischen an sich sein?

Gerade im Hinblick auf weitere Beitrittskandidaten der Europäischen Union wird deutlich, dass Europa mehr ist als ein konstruierter wirtschaftlicher Raum: Mehr Demokratie und die Gleichstellung von Minderheiten lautet die zentrale Forderung der EU an Bulgarien und Rumänien, mit deren Beitritt zum 1. Januar 2007 die Erweiterung nach Osten abgeschlossen wird.
Eine der spannendsten europäischen Entwicklungen ist der Beitritt der Türkei, der für 2016 anvisiert wird. Es geht nicht allein darum, ob die Türkei als Folgestaat des Osmanischen Reiches und als einziges Land mit größtenteils muslimischer Bevölkerung zur "christlichen" EU passt. Die Fragen, denen sich die Türkei in den kommenden zehn Jahren stellen muss, betreffen die Stärke des Rechtsstaates und demokratische Grundsätze wie Meinungs- und Religionsfreiheit.

Die jüngste Geschichte Europas zeigt einen andauernden Prozess des Werdens: Unablässige Integration unter ständiger Veränderung auf vielen Ebenen.
Europa ist ein sehr lebendiger Diskurs, der nicht über Abgrenzung und Verneinung funktionieren kann. Daher sollte die Frage nie "Was ist Europa?" lauten, sondern "Was wird Europa?" Das ist einer der Wesenszüge des multiplen, multivariablen Gebildes Europa: Viele kleine Veränderungsprozesse, die in dem großen Prozess fortwährender Integration zusammen wirken.

Die Stärke Europas liegt gerade in dem Bewusstsein um seine Verwurzelung in vielen unterschiedlichen kulturellen Identitäten; in der Etablierung einer Kultur der Annäherung über den Dialog. Diese Bereitschaft zur Auseinandersetzung ist charakteristisch für das europäische Wesen: Über das Erkennen der Unterschiede neue Perspektiven zu eröffnen und so zu einer Gemeinschaft zu werden.
Das Ziel soll und kann daher nicht die Genese einer europäische Standardkultur oder -mentalität sein. Es gilt, kulturelle und nationale Identität und Europäertum symbiotisch zusammen zu führen und im Bewusstsein jedes einzelnen zu verankern.
Denn in der Verschiedenheit der zahlreichen "edlen Söhne" Europas liegt der Reichtum und die Besonderheit der europäischen Identität.

Kreta, der Ausgangspunkt dieses kleinen Exkurses, kann bei deren Definition immer hilfreicher Wegweiser sein. Erstens liegt die Insel genau in der Mitte zwischen "Asien" und dem "Land gegenüber", die sich einst um die hübsche Prinzessin stritten. Und zweitens ist es von Kreta aus nicht weit bis nach Athen; und wessen Wiege dort stand, ist ja hinlänglich bekannt.

--------------------------------------------
[1]: Die Sage ist entnommen aus "Jacques le Goff erzählt die Geschichte Europas", S. 19f. Bundeszentrale für politische Bildung. Campus-Verlag. Frankfurt/Main. 1997.
   








Unsere Texte nach Ressorts
GESELLSCHAFTPOLITIKKULTURREISEUMWELTWIRTSCHAFTSPORT
Ein sächsisches Dorf kann auch andersNewtons zweiter SiegWo Nachbarn zur Familie gehörenNur kein zweites KreuzviertelLiebe über den Tod hinausJede Fahrt eine DrogenfahrtEine Million Euro für die Cannabis-LobbyArmutszuwanderung? Eine Untergrunddebatte!Mails verschlüsseln leicht gemachtVerschlüsseln - eine Notlösung Soziale Demokratie geht auch ohne SPDBedingt verhandlungsbereitDas vergessene Massaker von AndischanDas Ende von Lüge und SelbstbetrugGeteiltes Volk einig im Kampf gegen IS-TerrorDie Urkatastrophe und wirDas Ende rückt immer näherNeue Regierung, neue Krisen, neue FehlerMerkels neues WirHausfotograf der deutschen Sozialdemokratie Liebeserklärung eines Linksträgers. Oder...Mit der Lizenz zum AusrastenDer beste Mann für Afghanistan"Weil sie auch nur Opfer sind"Gestatten, Gronausaurus!Missratenes PashtunenporträtDie Band LilabungalowWo Leibniz und Wagner die Schulbank drücktenHitler in der Pizza-SchachtelDie Freiheit des Radfahrens In der Wildnis vergessenStau in der FahrradhochburgMitfahrer lenken selbstÜber Wroclaw nach Lwiw - eine verrückte TourIm Frühjahr durch den Norden Polens - Teil 2Im Frühjahr durch den Norden Polens - Teil 1Sounds of KenyaDie 41-Euro-SündeRive Gauche vs. Rive DroiteOranje im Freudentaumel Drei Naturerlebnisse in einemDas Gegenteil von KollapsDas Gift von KöllikenDas große Pottwal-PuzzleBio bis in die letzte FaserDer WonnemonatKlimakiller sattDer Monsun - vom Quell des Lebens zum katastrophalen NaturphänomenR136a1 - Schwerer und heller als die SonneDie Rückkehr zur Wildnis Wie die Hausverwaltung GMRE ihre Mieter abzocktWachstum und BeschäftigungSo schmeckt der SommerMakler der LuxusklasseGeburtshelferinnen vom Aussterben bedrohtVersenkte Milliarden und eine verseuchte BuchtWohnungen als WareAufstieg, Krise und Fall der AtomwirtschaftDie längste Brücke Deutschlands entstehtDie Geschichte der 'Alternativlosigkeit' - Teil 2 Fußballtempel MaracanãGlanz und Niedergang der Fanclubsiley.de drückt Maschine Münster die DaumenUnsere Veranstaltungsreihe im Web TVFrankreich ist ein heißer Kandidat fürs FinaleSpanien wird den Titel verteidigenFür Deutschland ist im Halbfinale SchlussPolen hat das Zeug für eine ÜberraschungForscher, Fans und PolizeiFußball im Würgegriff der Mafia
 
Ja, auch diese Webseite verwendet Cookies. Hier erfahrt ihr alles zum Datenschutz