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Wer die Kontrolle hat, dem gehört die Zukunft!
GESELLSCHAFT | BEMERKT (15.04.2007)
Von Jan Enste
Über den Wunsch hinter der Überwachung. Ein Versuch in fünf Textskizzen und einer kurzen These.

1. Der Blick in uns hinein

Nacht. Schwarz. Nur der Vollmond leuchtet hell in die Dunkelheit. Eine Frau sitzt auf einem Stuhl, neben ihr steht ein Mann. Er hält mit seinem Daumen und Zeigefinger die Lider ihres linken Auges auf. Eine schmale Wolke durchschneidet den Mond, genauso wie der Mann mit einem Rasiermesser das Auge der Frau durchteilt.
1929 drehte Luis Buñuel zusammen mit Salvador Dalí den Film ‚Un Chien Andalou - Ein andalusischer Hund'. Die Sequenz des Augenschnittes ist berühmt, der Film ist ein Meisterwerk des Surrealismus.
Das Auge ist ein immer wiederkehrendes Motiv in der Kulturgeschichte der Menschheit. Es ist lichtschenkendes Sinnesorgan, es ist ein Spiegel der Seele, des Lebendigen vom Menschen. Das schöpferische Auge ist eine Gabe der Künstler. Das göttliche Auge ist ein Zeichen für den omnipräsenten Blick auf die Menschheit.
Nur dieses Sinnesorgan lässt uns eine klare Orientierung im dreidimensionalen Raum finden. Es schafft Grenzen in Linien und Formen und dadurch Ordnung und Ruhe in unserer Wahrnehmung. Was wir durch unser Auge wahrnehmen, halten wir für wahr. Selbst unser Intellekt findet seine Erkenntnis, indem wir etwas erkennen.
Wahrheit und Erkenntnis, Ordnung und Grenzen. Unser Blick auf die Welt ist ein Blick von Innen nach Außen.
Was passiert, wenn dieser Blick nun verkehrt wird?
Das Auge soll biometrisch erfasst werden. Eine Iris-Scanner Kamera schaut in uns hinein. Der Kunstwissenschaftler Martin Henatsch schreibt in seiner Einführung zu der von ihm im Jahr 2004 kuratierten Ausstellung ‚Firewall': "Der Schnitt durch das Auge (der schematische Schnitt des scannenden Lichtstrahls, d. Verf.), ein Organ, das traditionell einen außerordentlich hohen Rang auf der Skala des Schreckens, des Gewissens, der Macht einnimmt, ist erneut zum zentralen Sinnbild für die Veränderung von Wahrnehmungsgewohnheiten erklärt."[1] Henatsch erläutert weiter, dass zwar das Auge und damit der Mensch nicht physisch verletzt wird wie bei Buñuel, aber dennoch jetzt seine Identität als Mensch in Frage gestellt wird.
Der Blick der biometrischen Kamera in unsere Augen ist nicht nur ein technischer, sondern vor allem ein psychologischer Blick, der sagt: Ich kann Dich sehen. Ich kann in Dich hineinschauen. Ich weiß, wer Du bist. Ich weiß alles über Dich.

Jacek Laszczewski

Befreit die Freiheit (c) Jacek Laszczewski

2. Die Macht über Bilder ist eine Macht über Wahrheiten

Den Menschen Gleichgültigkeit zu lehren ist ein Mittel um sie zu kontrollieren.
Der in New York lebende Künstler Alfredo Jaar installierte im Jahr 2002 auf der Documenta XI drei leuchtende weiße Texttafeln nebeneinander in einem fast komplett abgedunkelten Raum. Seine Arbeit trug den Namen ‚Lament of images - Klage der Bilder'.
Der linke Text handelte von dem Moment, als Nelson Mandela, die Galionsfigur des Kampfes gegen das Apartheid-Systems Südafrikas, nach über 25 Jahren Isolationshaft aus dem Gefängnis entlassen wurde. Jaar beschrieb, wie die Kameras den von zu langer Dunkelheit blinzelnden Mandela in Empfang nehmen.
Der Text in der Mitte der Installation beschäftigte sich mit dem Aufkauf eines der größten Fotobildarchive der Welt durch den Microsoft-Gründer Bill Gates und seiner Verbringung in ein unterirdisches, hermetisch abgeriegeltes Lager. Daraus ergab sich, dass ein Teil des visuellen Gedächtnisses der Menschheit privatisiert und unzugänglich gemacht wurde.
Der an der rechten Seite montierte Text informierte schließlich über den Aufkauf sämtlicher privater Satelliten-Bilder von Afghanistan während der Angriffe der USA gegen das Taliban-Regime. Und das obwohl die eigenen militärischen Satelliten zehnmal so genau fotografieren konnten. Unabhängige Beobachtungen von außen über Art und die Folgen des Krieges und der in ihm eingesetzten Waffen der US-Armee waren nicht mehr möglich. Die Macht über alle Bilder war somit die Macht über die Wahrheit.
Alfredo Jaar: "Das Werk ist eine Metapher der Blindheit in unserer Gesellschaft. Ich denke, wir leben heute in einem großen Paradox. Einerseits werden wir von tausenden Bildern bombardiert, aber andererseits waren diese nie zuvor so kontrolliert, sei es durch die Regierungen oder durch einen gewissen Teil des privaten Sektors. Deswegen glaube ich, dass wir die Fähigkeit, zu sehen und von Bildern ergriffen zu werden, verloren haben. Nichts mehr bewegt uns, nichts mehr hat einen Sinn." [2]
Nach dem Lesen der auf der schwarzen Wand leuchtenden Texte gingen die Besucher durch einen dunklen, labyrinthartigen Gang und wurden im nächsten Raum von gleißend hellem Licht geblendet.

3. In Zukunft hat jeder von uns zwei Identitäten. Die eine ist unsere biologische, die zweite ist eine digital gespeicherte Datei.

Der im Jahr 2006 verstorbene Schriftsteller Stanislav Lem schrieb 1961 ein Buch mit dem Titel ‚Memoiren - Gefunden in der Badewanne'. Es ist "eine satirische Farce, eine surrealistische Anti-Utopie und eine Schmähschrift auf die absolute Bürokratie und den totalen Polizeistaat, in dem alles und jeder gelenkt, einem geheimen Zweck untergeordnet und von Spitzeln überwacht wird. Das 'Gebäude', eine Spionagezentrale, ist 'unbesiegbar'. Im Verlauf seiner Entwicklung ständig gewachsen, steht es im unaufhörlichen Kampf mit einem Antigebäude, einer gegnerischen Spionagezentrale, die es durchdrungen hat und von der es ebenso durchdrungen worden ist. Ob es die beiden 'Gebäude' wirklich gibt oder ob der Widerstreit bloß eine gedankliche Konstruktion ist, das weiß kein Mensch mehr so genau. Auf jeden Fall sind Chaos und Ordnung, Zufall und Notwendigkeit, Sinn und Unsinn nicht zu unterscheiden - Memoiren, gefunden in der Badewanne: ein Zukunftsalptraum." [3]
In Lems Erzählung erfährt der Leser von einem Historiker über eine globale Katastrophe in der Menschheitsgeschichte, durch die alles Papier und damit alle bisher erfassten Daten vernichtet worden sind. Eine Konstruktion des Autors als Voraussetzung für den schon untergegangenen totalitären Staat, den Lem durch Historiker erforschen lässt.
Zurück in 'unserer Zeit' führen die immer weiter ausgebauten Überwachungssysteme zu enormen Datenmengen. Fast alles wird heutzutage digital erfasst. Die zunehmende Technisierung der Gesellschaft bringt ein Paradox mit sich. Um die Daten zu sichern und zu kontrollieren, braucht es weitere Systeme oder wie Soziologe David Lyon sagt, produzieren "mehr Systeme mehr Unsicherheiten, die die Notwendigkeiten für mehr Systeme schaffen" [4].
Vielleicht ist der Alptraum von Stanislaw Lem dann gar nicht mehr so irreal. Was passiert, wenn ein sintflutartiger Verlust aller digitalen Daten stattfinden würde? Der Tod unserer digitalen Identitäten?
Reale Historiker verweisen immer wieder auf die Geschichte antiker Städte wie Babylon und Niniveh und ihrem Untergang, obwohl oder gerade, weil es sich um abgekapselte Kulturen handelte, die sich gegen Angriffe von außen durch Mauern und auf Maschinen basierende Sicherheitssysteme schützen wollten.[5] Das trojanische Pferd zumindest hat es schon als Begriff für eine Art Spionage-Software in das Digitale Zeitalter geschafft.

4. Das virtuelle Richtig und Falsch

"So geheimnisvoll Software-Codes auch aussehen mögen, sie sind niemals neutral, niemals unschuldig. In ihnen zeichnen sich die Wünsche und Ziele derer ab, die die Systeme entworfen (...) haben."[6] Biometrische Überwachungssysteme sind Maschinen, die automatisiert Entscheidungen treffen. Die Ergebnisse dieser Entscheidungen sehen immer ganz einfach aus. Sie lauten entweder Ja oder Nein, sind Positiv oder Negativ. Hat ein System ausreichend Informationen erhalten und abgeglichen, ist also eine bestimmte Schwelle überschritten, dann fällt diese Entscheidung. Je nachdem, wo die Schwelle liegt, also wie empfindlich das System eingestellt ist, reagiert es.
Biometrische Erkennungssysteme arbeiten mit Wahrscheinlichkeiten und können nie eine hundertprozentige Sicherheit bieten.
Selbst bei einer unrealistischen Trefferquote von 90 Prozent wäre jede zehnte Entscheidung ein Fehler, ein Fehlalarm. Jeder zehnte Mensch würde falsch eingestuft.

"So wäre es ein 'falsches Negativergebnis', wenn der Terrorist an der Kontrolle nicht erkannt würde, aber ein ‚falsches Positivergebnis', wenn der unbescholtene Bürger in Verdacht geriete. Das Dilemma besteht darin, dass Testverfahren nicht in beiderlei Richtungen gleichzeitig optimiert werden können, so dass sie einerseits möglichst jeden Verdächtigen erfassen, andererseits aber praktisch nie falschen Alarm auslösen würden."[7]
Was passiert nun aber, wenn jemand falsch eingestuft würde? Wem wird mehr geglaubt? Der Technik?
Die neuen Technologien führen vielleicht zu einem Verlust der eigenen, erfahrbaren Realität und schaffen hingegen mediale Wahrheiten. Ein virtuelles Richtig und Falsch, ein technologisches Gut und Böse. Das digitale Denken ist binär, ist 0 oder 1, ein Dazwischen gibt es nicht.

5. Das Ziel ist nicht Überwachung, sondern das Gefühl der Überwachung

Warum werden weltweit immer mehr Überwachungssysteme installiert, miteinander vernetzt, in den privaten Raum übertragen, wenn diese doch kaum zur Sicherheit beitragen, wenn die riesigen Datenmengen gar nicht ausgewertet werden können und wenn die Systeme doch so 'fehlerhaft' bleiben? Eine paradoxe Antwort könnte sein, dass die Überwachung der Gesellschaft gar nicht das primäre Ziel ist, sondern ein Instrument der 'Überwacher' um damit eine soziale und eine psychologische Kontrolle auszuüben. Ziel derjenigen, die diese Techniken verantworten, ist nicht zu überwachen, sondern zu zeigen, dass sie überwachen.
David Lyon schreibt darüber: "Überwachung muss heute immer auch als Prozess sozialer Auslese verstanden werden, welcher vor allem ausschließende Konsequenzen beinhaltet. (...) In der Tat erlaubt es die automatische Überwachung, Distanz zwischen Priveligierten und Armen zu halten."[8]
Das beste Beispiel dafür sind die so genannten Shopping-Mals nach US-amerikanischen Vorbild. Gebäude-Komplexe, in deren Inneren sich ein Shop neben den anderen links und rechts einer Passage reiht. Der ‚Besucher' muss zunächst eine Schwelle überwinden. Er muss von Außen nach Innen treten, vom öffentlichen in den privaten Raum. Hier beginnt die soziale Auslese. Eigenes Sicherheitspersonal, eine strikte Hausordnung, die ein normiertes Verhalten garantiert, nämlich Konsumieren, und natürlich Videoüberwachung bilden eine abschreckende Mauer für nicht erwünschte Teile der Gesellschaft.
Das Geheimnis dieser Gebäude ist dazu ihre Architektur. Im Inneren gibt es keine Winkel, keine dunklen Ecken, keine nicht überschaubaren Plätze, keine wirklichen Orte zum kostenlosen Verweilen. Die Deutsche Bahn hat sich diese Architektur für Bahnhofs-Neubauten zu Eigen gemacht um sich den unerwünschten Besuchern zu entledigen, die früher so oft Gäste der Bahnhöfe waren. Obdachlose und Drogenabhängige sind heute dort kaum noch zu finden.
Überwachung hat eine psychologische Funktion. Wer weiß, dass er überwacht wird, der versucht sich ‚normal' zu verhalten und nicht aufzufallen. Der gläsender Bürger ist ein normierter Bürger und der lässt sich steuern. Kreativität, Ideen und Gedanken, die geistige Freiheit des Menschen, werden durch seine Kontrolle eingeschränkt. Sein Handeln wird voraussehbar. Das Erschreckende dabei ist doch, dass für die Lenkung einer Gesellschaft heutzutage kein totalitäres System mehr notwendig ist. Es reicht einzig und allein, die Macht über die Daten zu besitzen.

Der gläserne Bürger ist ein normierter Bürger.

Vielleicht steckt hinter dem Wahn der Überwachung von Menschen durch Staat und privater Hand ein alter Menschheitstraum. Der Traum von dem Blick in die Zukunft und die Möglichkeit, diese zu beeinflussen. Doch das Resultat ist wohl ein einziger Alptraum. Wer die Kontrolle hat, dem gehört dann die Zukunft. Und wem die Zukunft gehört, dem gehört die Welt.

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[1] Firewall Katalog, Kerber Verlag Bielefeld 2004, 11
[2] Interview mit Alfredo Jaar auf der Documenta XI (http://www.universes-in-universe.de)
[3] Einführung zu Memoiren - Gefunden in der Badewanne, Stanislaw Lem, Suhrkamp Verlag, 2001
[4] Surveillance after September 11, David Lyon, Polity Press, Cambrigde 2003, in: Firewall Katalog, Kerber Verlag 2004, 28
[5] Firewall Katalog, Kerber Verlag 2004, 35
[6] Surveillance after September 11, David Lyon, Polity Press, Cambrigde 2003, in: Firewall Katalog, Kerber Verlag 2004, 30
[7] Ist Überwachung die Lösung?, Boris Holzer, FAZ am Sonntag, 27.08.2006
[8] Surveillance after September 11, David Lyon, Polity Press, Cambrigde 2003, in: Firewall Katalog, Kerber Verlag 2004, 24

Weiterführende Links
http://nachrichtenaufklaerung.de/Initiative Nachrichtenaufklärung
   







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