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GESELLSCHAFT | INTERNET UND HERKUNFT (15.02.2008)
Von Sarah Khalil
22 Prozent aller Migranten in Deutschland surfen täglich im Internet. Das sind rund 2, 64 Mio. Menschen. Dennoch wissen Forscher fast nichts darüber, was Einwanderer im Netz tun und wieso. Eine Studie der Münsteraner Politikwissenschaftler zum Surfverhalten in Deutschland lebender Türken und Russen will das ändern.

„Noch bevor wir die Couch gekauft haben, haben wir einen DSL-Anschluss organisiert.“ Wohl kaum ein Satz beschreibt die Bedeutung des Internets für Migranten wie diese Geschichte einer jungen Russin. Sie gehört zu einer neuen, jungen Generation von Einwanderern, die gar nicht mehr ohne das Internet leben können.

Drei Viertel der Nutzer suchen Kontakt zum Ursprungsland

Sie surfen – wie auch die Deutschen –, um sich zu informieren, zu kommunizieren und Informationen über eigene Websites weiterzugeben. Doch das ist nicht alles: 76,7 Prozent der ausländischen Nutzer sind im Internet, um Kontakt zu ihrem Herkunftsland zu halten, fand die Münsteraner Politikwissenschaftlerin Kathrin Kissau heraus. Sie befragte türkische und russische Migranten, aus
pepsprog/pixelio.de

Das Internet hält zusammen, was zusammen gehört. (c) pepsprog/pixelio.de

welchen Motiven heraus sie das Netz besuchen und leistete damit Pionierarbeit. Denn kaum ein Forschungsprojekt hat sich bisher für die Internetnutzung von Migranten interessiert.

Dabei sind gerade Einwanderer für die Entwicklung des Internets in ihrem Herkunftsland von großer Bedeutung, erklärt Kissau am Beispiel Russlands: „Die ersten russischsprachigen Internetangebote wurden Anfang der 90er von Migranten entwickelt.“ Und noch heute leben 40 Prozent aller Nutzer dieser Sites nicht in Russland. Besonders populär ist die Internetseite http://www.germany.ru - ein kommerzielles Portal, das Musik zum Download anbietet, Tickets für diverse Veranstaltungen verkauft, Kinofilme empfiehlt und einen Chat bereitstellt. Aber auch die beiden Webseiten http://www.zahav.ru und http://www.rc-mir.ru haben viele Besucher. Beide Portale richten sich nicht nur an in Deutschland lebende Migranten. Zahav wendet sich an die Gemeinschaft russischer Einwanderer in Deutschland, den USA und Israel; die Adressaten von rc-mir leben in aller Welt.

„Heimat ist die russische Sprache“

„Die Websites bieten Kontakte zu Russen, egal wo diese leben“, sagt Kathrin Kissau. Die russische Sprache dient als verbindendes Element für alle Nutzer - auch, wenn diese gut Deutsch sprechen. „Zirka die Hälfte aller Einwanderer aus Russland nutzen ausschließlich russische Websites“, fand Kissau heraus. Den Grund dafür nannte eine der Befragten: „Für mich ist die Heimat kein besonderes Land. Heimat ist die russische Sprache.“

In ihrer Muttersprache diskutieren die Migranten aus Russland, aber auch der Türkei gerne über Politik – sowohl mit Landsleuten, die in Deutschland leben, als auch mit Bewohnern der ehemaligen Heimat. Dennoch sucht nur ein Drittel der russischen Migranten alternative Medienangebote im Netz. Vielmehr nutzen sie bekannte Websites von Medien oder spezielle Disaspora-Seiten und finden dort eine zweite Heimat, die sie mit in ihr neues Leben nehmen können. Je mehr sie sich in Deutschland einleben, desto mehr verändert sich ihre Internetnutzung der Zuwanderer.

„Um mit der Entwurzelung klar zu kommen, besuchen sie Websites ihrer Heimat“

„Die Einwanderer empfinden zunächst Heimweh und einen Kulturschock in Deutschland. Um mit dieser Entwurzelung klar zu kommen, besuchen sie Websites ihrer Heimat“, sagt Kathrin Kissau. Die Diasporagemeinden im Internet bieten eine gute Stube, in der alle Gäste in ihrer Heimatsprache diskutieren können. Gerade diese Kommunikation führt dazu, dass Migranten im Netz zu Menschen ihres eigenen Ursprungslandes weitaus mehr Vertrauen haben, als zu anderen.

Ist der erste Schock überwunden, knüpfen viele Einwanderer im Internet die gleichen Kontakte wie im echten Leben. Nur, dass sich Gleichgesinnte über spezielle Websites schneller finden lassen. Die Angebote für diese Generation sind zum Teil auch auf Deutsch verfasst. Ein Beispiel ist das rein deutschsprachige Portal http://www.deutschtuerken.de. „Wer sich auf solche Seiten begibt, muss nicht erklären, warum er so denkt, wie er denkt“, weiß Kissau.

Obwohl die Migranten der zweiten Generation oft durchaus in der Lage sind, auf Deutsch miteinander zu kommunizieren, bleibt ihre Vergangenheit und der Kontakt zum Heimatland auch für sie wichtig. Wie im realen Leben ist der Kontakt nicht mehr so direkt wie bei Vätern und Großeltern. „Die User betreiben eine nostalgische Ahnenforschung. Sie wollen ,back to the roots’ “, sagt Kissau. Dieser Wunsch hat für die Familien daheim oft praktische Konsequenzen. So überweisen viele Einwanderer Geld oder werden von den Behörden als gut ausgebildete Arbeitskräfte angeworben. Doch nicht jeder dieser Kontakte ist so positiv. „Migranten werden auch von Lobbygruppen instrumentalisiert“, warnt Kissau und verweist auf Werbung der kurdischen Arbeiterpartei PKK im Netz.

Kaum offizielle Websites auf Türkisch und Russisch - „Das ist ein Versäumnis“

Dennoch schaffe auch das türkisch- oder russischsprachige Internet keine gefürchtete Parallelgesellschaft: „Über das Internet bilden sich Gemeinschaften, die auch außerhalb des Netzes Bestand haben“, ist sie sicher. Doch das Internet allein reiche keinem Menschen dazu, alle seine Kontaktbedürfnisse zu befriedigen. „Ich glaube nicht, dass das Netz das reale Leben ersetzt.“ Allerdings hat es das Leben von Einwanderern verändert. War die Diaspora – also eine dauerhafte Beziehung zum Herkunftsland – früher eine Ausnahme, ist sie nun die Regel. Man muss nicht mehr alle Brücken abbrechen. „Die Leute können ihr soziales Netz mitnehmen“, erklärt Kissau die wohl wichtigste Funktion des Internets für Migranten. Doch das Web schafft auch Verbindungen in die neue Heimat.

So nutzen Migranten ganz selbstverständlich die Websites der deutschen Verwaltung und nehmen per E-Mail mit Behörden Kontakt auf. Die Verwaltung selbst ist auf diesem Feld bei Weitem noch nicht so aktiv. Öffentliche Einrichtungen kontaktieren ihre ausländische Zielgruppe nur selten und wenn, dann nur auf Deutsch, nicht auf deren Herkunftssprache „Das ist ein Versäumnis“, glaubt Kissau. Ihrer Meinung nach könnte das Internet viel mehr zur Integration hier lebender Ausländer genutzt werden, als es bisher der Fall ist. So gibt es bisher nur ein Integrationsportal der Bundesregierung, das aber nur auf Deutsch verfasst ist. „Das ist wenig sinnvoll“, urteilt Kathrin Kissau und fordert eine Übersetzung in mehrere Sprachen. Idealerweise sollten dann auch Deutsche die Seiten nutzen, um mit Migranten in Kontakt zu kommen.

Weiterführende Links
http://www.integration-in-deutschland.deIntegrationsportal der Bundesregierung
   






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