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In the mission
GESELLSCHAFT | HALT GEMACHT (15.05.2005)
Von Jörg Rostek
Ein gewöhnlicher wolkenbehangener Arbeitstag in Nordrhein-Westfalen. Aus den verglasten Türen des Münster Hauptbahnhofs quellen Menschen hinein und heraus mit Koffern aller Arten, Farben und Formen.

In ihnen tragen sie einen verpackten Teil ihres Lebens. So auch im Mageninneren des Bahnhofs. Im Schutz der bahnhofseigenen Anonymität schieben sie kleine Wägelchen vor sich her, spielen mit ihren Taschentelefonen, ignorieren sich oder sprechen gar miteinander, blicken auf die giraffenhohe Abfahrt und Ankunft diktierende Anzeigetafel und ahnen dabei nicht, dass es in ihrer Nähe einen Ort gibt, dessen Hilfe sie eines Tages bedürfen könnten. Denn erklimmt man die dreißig Stufen zu Gleis 9/12 und blickt Richtung Abschnitt D, steht da, vom allgemeinen Gewimmel unbemerkt, ein kleines rotbraunes Häuschen. Davon gibt es bundesweit 97 Stück. Unter Kennern nennt man es "the mission".

Die Bahnhofsmission in Münster umfasst zur Zeit 27 Mitarbeiter, sie leisten 12 Stunden am Tag gemeinnützige Arbeit, aufgeteilt in Früh- und Spätschicht. 12 von ihnen ehrenamtlich und unentgeltlich. Die übrigen neun Angestellten verdienen zwar Geld, jedoch weit unter der 400-Euro-Grenze. Außerdem bietet die Bahnhofsmission Auszubildenden und Studenten der verschiedensten Fachrichtungen Praktikumstellen an. Die Organisation tragen die Schultern der hauptamtlichen Leiterin und Diplom-Sozialarbeiterin Maria Woltering. "Hierher kann jeder kommen, der im Bahnhofsbereich irgendein Problem hat", sagt sie. Und Irmi, langjährige Mitarbeiterin der Bahnhofsmission meint dazu: "Wir haben zwar ein begrenztes Angebot, weil wir nicht so viel Geld haben aber wir wirtschaften mit dem was wir haben. Brot z.B. brauchen wir gar nicht zu kaufen, das bekommen wir von örtlichen Bäckereien." Und tatsächlich viel haben sie wirklich nicht. In einem spärlich eingerichteten Nebenraum der Mission steht ein schmuckloser Holzschrank und dient als Vorratslager. Aber viel ist da wirklich nicht drin, hauptsächlich eine Menge Brot und Brötchen von gestern. Und sie betont: "Zu Hause isst man ja manchmal auch nicht das Brot frisch vom Bäcker."
Im rotgestrichenen Aufenthaltsraum sitzen zwei "Gäste". Ein älterer Herr und eine Frau. Er ist Stammgast, sie zu jung dafür. Da sitzt sie. Stand schon frühmorgens an der Schwelle der Bahnhofsmission und erbat, mit blau gefrorenen Händen, Einlass. Warum sie die Hilfe der Bahnhofsmission nötig hat, was passiert ist, fragen die Mitarbeiter der Bahnhofsmission nicht. Das ist Privatsphäre und somit tabu. Sie sprechen und beraten erst, wenn der "Gast" es selbst wünscht und dadurch angebracht erscheint. Die "Gäste" sind dankbar dafür. Sind dankbar für diesen Rückzugsraum, den sie nutzen können, um "wieder etwas Lebensgefühl zu tanken", wie es der ältere Herr ausdrückt. Und eine Mitarbeiterin betont entschieden: "Namen rausgeben isŽ nichŽ." Die "Gäste" scheinen die Gesetze der Bahnhofsmission zu respektieren, weil sie deren Mitarbeiter respektieren: keine Drogen, keine Gewalt, keine rechtsradikalen Sprüche. Darauf folgt eintägiges Hausverbot. Ein Bösewicht lernt die Regeln der Bahnhofsmission recht schnell und ist dankbar, wenn er zurückkehren darf in die warmen Räume, zu Kaffee und Brötchen, besonders im nicht selten bitterkalten Münsteraner Winter. Jeder "Gast" darf das Essens- und Getränkeangebot nur einmal am Tag in Anspruch nehmen. Auf Wunsch bekommt man auch etwas mehr Brot, aber dass muss dann schon beim Abholen dazu gesagt werden.

Im Jahre 2004, so die Jahresstatistik, wurde die Bahnhofsmission Münster insgesamt 36.031 Mal von Bedürftigen aufgesucht (Mehrfachnennungen möglich). Davon waren 20.475 Männer und 9.703 Frauen. Der restlichen 5813 waren Kinder und Jugendliche. Davon waren wiederum 3.111 zwischen 18 und 27 Jahre, 517 zwischen 14 und 18 Jahre und 2.185 unter 14 Jahren alt. Die am meisten beanspruchte Dienstleistung war die Verpflegung mit Essen und Trinken. Hauptsächlich an Männer. "Wir vermitteln auch an andere Stellen weiter, wir sind eine soziale Erste-Hilfe-Station." Je älter der Monat, desto knapper wird den "Gästen" das Budget, das heißt das Geld vom Staat, und desto zahlreicher erscheinen sie. Manche "Gäste" sind auf der Durchreise. Für sie ist die Bahnhofsmission, bevor die Reise weitergeht, eine willkommene Haltestelle zum Ausruhen und Auftanken. Auch innerhalb Münster reisen die Armen und Bedürftigen. Von Gebäude zu Gebäude, von Hilfsorganisation zu Hilfsorganisation. Vom HdW (Heim der Wohnungslosen) zur Aidshilfe, wo es mittwochs günstiges Essen gibt, und von dort aus zur nächsten und dann zur übernächsten Anlaufstelle. Sie folgen einem inoffiziellen Speiseplan, der sich über die ganze Woche verteilt. Immer unterwegs und nirgends wirklich zu Hause. Sie scheinen zu kreisen und ihre Runden zu ziehen. Der Kreislauf der Armut in Deutschland, nicht nur in Münster. Seit kurzem drängt sich bei den Mitarbeitern der Bahnhofsmission der Verdacht auf, dass "falsche Gäste" mit einer Wohnstatt und einem einiger Maßen gefüllten Kühlschrank vorbeikommen, um mit den Gaben der Bahnhofsmission ihr Haushaltsbudget zu entlasten. Man nennt das hier die "neue Armut" und denkt dabei an die Reformen der Bundesregierung, genauer: Hartz IV. Was wohl als nächstes kommt?

Plötzlich klingelt schon wieder das Telefon. Eine ältere Dame ruft an. Sie ist leider blind und benötigt Hilfe auf ihrer Reise, einen Menschen, der für sie da ist und ihr eine Orientierung bietet, ihr hilft beim Um- und Einsteigen. Die Dame ist ein alte Bekannte der Bahnhofsmission, die Aufgabe ist ihnen wohl vertraut. In Zusammenarbeit, d.h. auf Hinweis der Angestellten des Bahnhofs begleiten sie Menschen, die nicht alleine zurecht kommen können: Mütter mit Kinderwagen, Menschen im Rollstuhl, Gehbehinderte, alte Leute, Leute, die aus den verschiedensten Gründen nicht in der Lage sind zu Reisen, die plötzlich aufgrund ihres körperlichen oder geistigen Zustandes die Orientierung verlieren oder Schlimmeres. Die Mitarbeiterinnen der Bahnhofsmission helfen ihnen, denn dafür sind sie als ökumenische Institution schließlich da. "Wir kommen super zurecht. Und wir arbeiten Hand in Hand (mit der Bahn, Anm. des Verf.) Wie das woanders ist kann ich nicht sagen. Wir können uns nicht beklagen." Mehrmals am Tage durchstreifen sie den Bahnhof auf der Suche nach Menschen in Not. Eine gute Beobachtungsgabe ist eine der wichtigsten Voraussetzungen. Der Blick schärft sich für Details ( das Gesicht, die Kleidung, ein Stock?) alles Hinweise auf Bedürftigkeit.

In der Vorhalle des Bahnhofs steht eine junge Mutter vor einem ihr bekannten alltäglichen Problem. Wie soll sie zusammen mit ihrem Kinderwagen, samt Inhalt, und ihrer kleinen Tochter, vielleicht gerade mal fünf Jahre alt die dreißig Stufen hinauf, wenn eine entsprechende Vorrichtung fehlt (kleiner Hinweis an die Bahn!!!). Sie weiß jedoch, dass in der Vorhalle auf der rechten Seite an einer Wand eine Fernsprechanlage angebracht ist, die sie direkt mit der Bahnhofsmission verbindet. Es dauert keine fünf Minuten, schon schreitet sie (samt Anhang), von einer Mitarbeiterin der Mission betreut durch die unterirdischen Katakomben des Bahnhofs. Das Ziel ist der zu diesem Zweck bereitgestellte Lastenaufzug. Gut, dass die Bahn die wenigstens hat! Das dickbackige Baby im Kinderwagen scheint die schummrige Atmosphäre nicht zu stören und das Mädchen staunt, an der Hand der Mutter, fasziniert mit riesigen Augen.

Diesen Service ermöglichen nicht nur die fleißigen Hände der Mitarbeiter der Bahnhofsmission, sondern auch deren finanzielle Träger: der Caritas Verband der Stadt Münster und das Diakonische Werk Münster. Die "Bundeskonferenz der betrieblichen Bahnhofsmissionen" wiederum vertritt die Interessen der Bahnhofsmission nach außen, hauptsächlich gegenüber der Bahn. Es besteht dennoch kein Dienstverhältnis wie zu einem üblichen Geschäftsführer, die Bundeskonferenz kann nur Empfehlungen aussprechen. Man lese z. B. im Jahresbericht der Bahnhofsmission Münster von 2004:

"Seit Juni 2003 gibt es die Möglichkeit, Kinder zwischen 6 und 12 Jahren unter Begleitung von Mitarbeitern/Mitarbeiterinnen der Bahnhofsmissionen allein reisen zu lassen. Dieses Angebot, initiiert in Kooperation der Bundeskonferenz für kirchliche Bahnhofsmissionen und der Deutschen Bahn AG, lief bis Juni 2004 als Pilotprojekt und war zunächst beschränkt auf die Strecke Stuttgart-Köln-Münster-Hamburg. Die Pilotphase erwies sich als sehr erfolgreich, so dass das Angebot nicht nur erweitert, sondern auch fest installiert wurde. An vielen Wochenenden, an den Hochfesten des Jahres und zum Beginn und Ende der Schulferien sind wir für diese Kinder im Einsatz. Unsere Öffnungszeiten an den Sonntagen mussten dafür um 1 œ Stunden vorverlegt werden."

In der Adventszeit backte die Bahnhofsmission an sogenannten "Waffelbacktagen" Waffeln, verkaufte sie und gab das Rezept in der Sendung "Kochbuffet" des Lokalfernsehens an deren Zuschauer weiter. Auch die Politik ist manchmal anwesend. So wie am 15. Juli 2002, als Ruprecht Polenz, seit 1994 Bundestagsabgeordneter der CDU, mit dem Arbeitskreis-Ethik der CDU-Münster im Schlepptau vorbeischaute und fragte, wieŽs den so geht. Und nicht nur der Prinzipalmarkt oder der Domplatz sind Austragungsorte des nordrhein-westfälischen Wahlkampfes, sondern seitdem der Landtagsabgeordneten Thomas Sternberg (CDU) sie am 6. April 2005 besuchte auch das kleine unscheinbare Häuschen am Gleis 9/12. "Außer der FDP stehen alle Parteien hinter der Bahnhofsmission", so Frau Woltering. Im Jahr 2007 wird die Bahnhofsmission in Münster ihren 100. Geburtstag feiern. Vielleicht gibt es ja wieder Waffeln oder andere leckere Sachen. Es empfiehlt sich alleine schon deswegen an den hoffentlich stattfindenden Feierlichkeiten teilzunehmen, weil man ja nie weiß, wann man mal im Bahnhof aus unvorhergesehenen Gründen plötzlich dringender Hilfe bedarf. Und wenn das der Fall sein sollte, so werden die "guten Engel" der "sozialen Feuerwehr" bestimmt zur Stelle sein.
   








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