Von der Reduktion auf ein Minimum
GESELLSCHAFT | UNTERSCHLUPF (15.11.2006)
Von Udo Reinker | |
Alle Geschichten in der Notschlafstelle der Suchthilfe-Direkt in Essen handeln im Moment von länger und kälter werdenden Nächten. Das "Platte machen", das echte Leben auf der Straße, wird nun schwieriger und die wenigen Nischen, die die Stadt Menschen ohne festen Wohnsitz bietet, werden ungemütlicher. Viele dieser Menschen ziehen sich vom Leben unter freiem Himmel zurück und versuchen irgendwo unterzukommen. Einigen gewährt die Familie Unterschlupf, manche finden für einige Zeit bei Freunden und Bekannten einen Platz, manche Frauen bleiben über Nacht bei ihrem Freier. Doch einige bleiben über. Sie landen möglicherweise in den Notunterkünften der Städte. Diese Orte bieten ein Bett für die Nacht, einen warmen Platz, zumeist auch eine warme Mahlzeit und einen Fernseher. Einen Platz zum Wohnen bieten sie nicht. Ein Dach über dem Kopf, ein Bett zum Schlafen. Was braucht der Mensch noch zum Leben? Das ist keine rhetorische Frage. (c) Udo Reinker Entspannung kommt unter diesen Voraussetzungen nur wenig auf. Privatheit gibt es nicht, wenn du dir das Zimmer mit einem Fremden teilst. Selbstbestimmung und Individualität sind nicht gefragt. Selbst die Gestaltung des eigenen Zimmers ist nicht gewünscht, damit der Mensch sich nicht zu "heimisch" fühlt, sondern den Anreiz behält auszuziehen. Notunterkünfte bieten keinen Platz zum Wohnen, dass heisst keinen dauerhaften Lebensmittelpunkt. Sie wollen, können und dürfen es nicht Das Integrationsangebot mit Übernachtung der Suchthilfe öffnet um 20.30 Uhr am Abend und schließt um acht Uhr am Morgen. Der Aufenthalt ist auf 90 Tage begrenzt. Ein Lebensmittelpunkt kann es damit nicht sein; dauerhaft ist es nicht. Es ist ein Angebot der Überlebenshilfe und erreicht im Idealfall, den Nutzer des Angebots wieder mietfähig zu machen und in eine tatsächliche Wohnform zu vermitteln. Wohnen ist ein ebenso wie Nahrung und Kleidung ein Grundbedürfnis des Menschen. Ein Grundrecht auf Wohnen gibt es in Deutschland nicht. Momentan leben etwa 350 000 Menschen ohne festen Wohnsitz in der Bundesrepublik. Die Zahl ist eine Schätzung, denn die Zahl der Obdachlosen ist nur schwer zu erfassen und eine bundesweite Statistik gibt es nicht. Viele Obdachlose haben Erfahrungen gemacht, die für andere nicht vorstellbar sind und verfügen nur über sehr eingeschränkte Ressourcen. Familiäre Netzwerke sind unterentwickelt und der Zugang zu Bildung war oftmals kaum vorhanden. Erklärungen für Obdachlosigkeit gibt es unzählige und dennoch sind die Betroffenen nicht nur Opfer. Sicher haben die allermeisten Obdachlosen schwierigste Ausgangsbedingungen, doch erst eine Befreiung aus der Opferperspektive ermöglicht es ihnen, wieder ihr Leben aktiv zu gestalten. Und ein Ergebnis dieser aktiven Lebensgestaltung kann sein, dass die Fähigkeiten entwickelt oder wiederentdeckt werden, die das Leben in einer Wohnung erst möglich machen. Eine Wohnung, die aus mehr besteht als einem Bett und einem Stuhl. Eine Wohnung, die nach den eigenen Vorstellungen gestaltet werden kann und die Raum bietet zu entspannen und zu tun, was man möchte. Ein Ort der mehr ist, als ein Platz zum Überleben. |