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Die Geschichte einer Bahnhofsmission
GESELLSCHAFT | HINTERGRÜNDLICH (15.05.2005)
Von Jörg Rostek
Am 14. April 1939 erklärte ein Erlass des Reichsverkehrsministers, dass die Tätigkeit kirchlicher Bahnhofsmissionen unerwünscht sei. Im Jahre 2007 wird die Bahnhofsmission in Münster ihr 100jähriges Bestehen feiern. Eine Chronologie:

Zwischen den Jahrhunderten

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts lebten von 60,4 Millionen Deutschen nur 31,4 Millionen an ihrem Geburtsort. Die industrielle Revolution zog die Deutschen in die Großstädte. Die Folge war eine innerdeutsche Wanderung nie gekannten Ausmaßes. Nicht nur Männer versprachen sich städtischen Wohlstand, nein, auch immer mehr junge Frauen. Ihr Ziel war es einen Beruf zu ergreifen, ihre Eltern zu Hause finanziell zu unterstützen oder für ihre Aussteuer zu sparen. Selten überwanden sie große Entfernungen. Die Stadt versprach ihnen eine Arbeitsstelle als Dienstmädchen oder Fabrikarbeiterin, viele junge Frauen riskierten alles und gelangten ohne einen vorher vereinbarten Arbeitsplatz in die Arme der Großstadt. So wurden sie von gewerblichen Stellenvermittlern abhängig, denen jedoch ein derart schlechter Ruf anhaftete. Man fürchtete organisierten Mädchenhandel oder gar Prostitution, die Verschiffung der Mädchen in eine fremde Stadt oder ins Ausland, schließlich kam der Werber für die Kosten des Mädchens auf, es war also finanziell abhängig von ihm. Zum Schutze der jungen Damen entstanden Ende des 19. Jahrhundert verschiedene Hilfseinrichtungen als bürgerliche Vereine. 1877 fand eine Tagung gegen die Prostitution in Genf statt, auf dem der "Internationale Verband der Freundinnen junger Mädchen" gegründet wurde. Er übernahm die Aufgaben der "gewerblichen Vermittler" und kümmerte sich. 1884 wurde in Genf der allererste "Bahnhofsdienst" eingerichtet. Nun wurden die Frauen direkt nach ihrer Ankunft am Bahnhof von Betreuerinnen in Empfang genommen, um sie vor unseriösen Vermittlern zu schützen. So entstand im deutschen Reich ein weitreichendes dichtes Netz von "Bahnhofsmissionen". Die erste evangelische Bahnhofsmission in Deutschland wurde 1894 in Berlin gegründet. Da jedoch die jungen Mädchen vor der Schwesterntracht zurückschreckten, ging man dazu über Helfer ehrenamtlich anzuwerben. Die erste katholische Bahnhofsmission entstand 1897 in München. Ausgehend von Berlin und München verbreiteten sich die Bahnhofsmissionen in andere Städte. Zum gemeinsamen Symbol wurde das achtspitzige rosa Kreuz gewählt. Das Protektorat übernahm die deutsche Kaiserin.

Zwischen den Jahrhunderten umfasste Münster 64.000 Einwohnern. Münster als Beamtenstadt industriell wenig entwickelt, stützte sich auf Dienstleistungen und Verwaltung. Dennoch suchten pro Jahr ca. 7.000 Menschen in der Provinzhauptstadt einen sicheren Arbeitsplatz. Erst 1916 überschritt Münster die Einwohnerzahl von 100.000 Einwohnern und wurde somit offiziell in die Reihen der deutschen Großstädte aufgenommen. Da das aufstrebende Münsteraner Bürgertum nach billigem Hauspersonal verlangte, fanden auch junge Mädchen ihren Weg dorthin. Um diesen mit Rat und Tat zur Seite zu stehen und sie vor unmoralischen Angeboten zu bewaren, gründeten die Mitglieder des örtlichen "Katholischen Fürsorgevereins für Mädchen, Frauen und Kinder" 1906 den "Marianischen Mädchenschutzverein". Neben der Unterbringung "gefallener und gefährdeter Mädchen" wurde auch eine Bahnhofsmission eingerichtet und somit nahm im Jahre 1907 die katholische Bahnhofsmission in Münster ihre Arbeit auf. Da jederzeit die Möglichkeit bestand, dass ein junges Mädchen aus vertraglichen Gründen jeweils am Quartalsersten (Januar, April, Juli, Oktober) wechseln musste, stellte die Bahnhofsmission sich darauf ein und beschränkte ihre Betreuung auf diese Stoßzeiten. Bei Mädchen in Notlagen, also "besonders angekündigten Fällen" machte man Ausnahmen, holte sie vom Bahnhof ab und betreute sie. Eine in den Bahnhof integrierte Stelle oder gar ein Gebäude in dem die Mitarbeiter ihrer Arbeit nachgehen konnten, gab es nicht. Die Hauptaufgabe der Bahnhofsmission in Münster bestand darin den Mädchen eine geeignete Unterkunft zu vermitteln, ihnen Vereine zu empfehlen, die ihnen weiterhelfen konnten, ihnen beim Umsteigen zu helfen oder eine moralische Stütze zu sein.

Während des 1. Weltkriegs

Als sich während des 1. Weltkrieges die Menschen auf den Schlachtfeldern verbluteten, kooperierten die Bahnhofsmissionen in enger Zusammenarbeit mit dem Roten Kreuz und leisteten Kriegshilfsdienst. Sie halfen bei der Truppenverpflegung, versorgten die Verwundeten und betreuten Flüchtlinge. Dadurch erweiterte sich der Aufgabenbereich der Bahnhofsmissionen enorm. So auch in Münster. Nun konzentrierten sie sich nicht nur auf hilfsbedürftige junge Mädchen, sondern auch auf Menschen, die sich durch den Krieg und darüber hinaus in einer "besonders schweren Lebenslage" befanden.

In der Weimarer Republik

Als in der Weimarer Republik Inflation und Arbeitslosigkeit die Deutschen der Armut in Scharen in die Arme trieb, begaben sich zahllose Deutsche auf die Suche nach Geld und Brot. Immer mehr Menschen strandeten auf der Flucht vor der Geisel Arbeitslosigkeit auf den Bahnhöfen. In den Jahren 1923/24 kam man zu der Erkenntnis, dass jetzt eine tägliche Anlaufstelle, zur Versorgung der Elenden, notwendig sei. Die Bahnhofmissionen der evangelischen und der katholischen Konfession schlossen sich deutschlandweit zur "Interkonfessionellen Kommission für Bahnhofsmission" zusammen. So wurde schließlich auch der Bahnhofsmission in Münster ein Raum im hinteren Wartesaal (dritter Klasse) des Bahnhofs zuerkannt, in den ihre Mitarbeiter am Ende des Jahres 1924 einziehen konnten. Aufgrund der vielfältigen und zunehmenden Arbeit entstand im Deutschen Reich ein Netzwerk von Hilfsorganisationen aller Art. Die anfallenden Kosten der Bahnhofsmission wurde mit Hilfe der Trägervereine, durch Spenden und auf dem Bahnhof durchgeführte Sammlungen, bewältigt. Hinzu kamen städtische Zuschüsse.

Während des Nationalsozialismus

Nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten, als das eifrige Bombenbauen des Deutschen Reiches die Arbeitslosen von der Straße holte, wurde die Verbesserung der Zustände von der Bahnhofmission gutgeheißen. Ihre Einstellung gegenüber dem NS-Regime änderte sich jedoch entscheidend als die Partei begann, im Zuge der allgemeinen ideologischen Gleichschaltung des Reiches, ihre Unabhängigkeit zu bedrohen. Die Politik der Nationalsozialisten erzwang den Zusammenschluss von "Innerer Mission", "Caritas" und "Rotem Kreuz" zur "Reichsgemeinschaft der freien Wohlfahrtspflege Deutschlands". Das Versprechen einer freien Unabhängigkeit, das sie den drei Hilfsverbände gegeben hatten, hielten die Nazis nicht, die "Reichsgemeinschaft" wurde bereits 1934 durch die "Arbeitsgemeinschaft der Spitzenverbände der freien Wohlfahrtspflege" ersetzt und unter die Leitung von Erich Hilgenfeld, dem Amtsleiter der NS-Volkswohlfahrt, gestellt. Man entzog der "Bahnhofsmission" beinahe alle städtischen Zuschüsse. Am 14. April 1939 erklärte ein Erlass des Reichsverkehrsministers, dass die Tätigkeit kirchlicher Bahnhofsmissionen unerwünscht sei. Die Leiterin der Evangelischen Bahnhofsmission in Münster berichtete am 6. Mai 1939 in einem Schreiben an den Reichsverband der Evangelischen Deutschen Bahnhofsmissionen:

"Soeben erreicht mich die Mitteilung, dass die Bahnhofsmission in Münster am 31. dieses Monats ihre Tätigkeit einstellen muss. Diese Anordnung kommt schneller, als wir eigentlich erwartet hatten, doch war ja jedermann darauf vorbereitet."

Dies bedeutete für viele Angestellten der kirchlichen Bahnhofsmission die nackte Arbeitslosigkeit. Am 20. Juli 1939 wurden sämtliche kirchlichen Bahnhofsmissionen per Gesetz verboten. Erst nach dem Ende des 2. Weltkrieges konnten sie ihre Arbeit wieder aufnehmen.

Nach 1945

Nach dem Zusammenbruch der unbeschreibbar grausamen deutsch-nationalsozialistischen Gewaltherrschaft waren die zerstörten Bahnhöfe Deutschlands ein Spiegel der damaligen Zustände. Millionen Menschen, ob Flüchtlinge, Vertriebene aus dem Osten, ehemalige Soldaten oder zurückkehrende Evakuierte, allesamt waren sie mit ihrem Leid und ihrer Habe unterwegs, suchten nach ihren Angehörigen oder einfach nur Beistand in der Not. Sie bevölkerten die überlasteten Bahnhöfe. Maßlos überfüllte Züge und zusammengebrochenen Fahrpläne verursachten für die Reisenden mögliche Wartezeiten von mehreren Tagen. Helfende Anlaufstellen auf den deutschen Bahnhöfen waren notwendiger denn je. Die ehemaligen Mitarbeiter und freiwilligen reorganisierten die Bahnhofsmissionen neu, errichteten Notunterkünfte, beschafften Brot und Decken, Medikamente und Verbandszeug. Das Bahnpersonal wurde dazu verpflichtet den Mitarbeitern der Bahnhofsmission zur Hand zu gehen, mietfreie Räume wurden eingerichtet und Sammlungen gestattet. Münster, das im 2. Weltkrieg ein bedeutender Verkehrsknotenpunkt für Eisenbahn- und Kanalverbindungen war, hatte schwere Verluste erlitten. Als Ziel zahlreicher Luftangriffe stand in weiten Teilen der Stadt kein Stein mehr auf dem anderen. Auch der Bahnhof war schwer beschädigt. Die Bahnhofsmission zog in die noch relativ intakten Bunkeranlagen des Bahnhofs. Am 4. Januar 1946 nahm die Bahnhofsmission ihren Dienst wieder auf, um aufs neue die Notleidenden zu versorgen. Der erste Jahresbericht der Bahnhofsmission gibt dem Leser einen flüchtigen Einblick in die dramatischen Zustände. Bis zu 3.000 Menschen schliefen auf dem nackten Steinfußboden des Bahnhofs, nur wenige auf Pritschen. Eimerweise Kaffee wurde ausgeschenkt, feste Speisen waren nicht zu haben und "in allen Räumen herrschte eisige Kälte". Zusätzlich entstand innerhalb der Organisation ein Kompetenzstreit, der 1952 in einer Neuordnung der Organisationsstruktur der Bahnhofsmission mündete.

Als sich die wirtschaftliche und politische Lage im befreiten Nachkriegsdeutschland normalisierte und das "Wirtschaftswunder" seine Wirkung entfaltete, beruhigte sich auch die Situation auf den Bahnhöfen. Die Anzahl der Bedürftigen ging entscheidend zurück und die Bahnhofsmissionen wurden entlastet. Trotzdem kamen ständig neue Arbeitsbereiche und Aufgaben hinzu. Die Bahnhofmissionen stellten sich darauf ein und organisierten sich dementsprechend.

Es verbleibt nicht nur die Einsicht, dass der soziale Dienst am "Menschen unterwegs" aus einer historischen Notwendigkeit entstanden ist, sondern auch, dass die Geschichte der deutschen Bahnhofsmissionen eng mit der wechselhaften Geschichte Deutschlands verknüpft ist, ja, sogar mit ihr ein Stück humanitäre Zeitgeschichte ist.
   




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