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Junge, wilde Kunst rekrutiert sich in einem Offiziershaus a.D.
KULTUR | BESETZUNG IN HOLLAND (20.12.2008)
Von Michael Billig
Das hätten sich weder die deutschen Besatzer noch die niederländische Luftwaffe träumen lassen: Dass ihr Offizierskasino nahe Enschede einmal Künstlern in die Hände fallen würde. Das einstige Erholungs- und Vergnügungsheim für hochrangige Militärs ist nun schon seit fünf Jahren die Basis der Künstlergruppe "silo". Ihre Mitglieder hatten es im November 2003 über Nacht "gekrakt".

M. Billig

(c) M. Billig

Ein roter Teppich verbindet an diesem abgelegenen Flecken Erde draußen mit drinnen. Auf dem Filz geht es durchs Hauptportal. Darüber steht in großen Buchstaben "Officiersmess". Hin und wieder steigen aus einem kleinen Fenster weiter oben Rauchzeichen auf. Neo Rauch, einer der erfolgreichsten deutschen Künstler der Gegenwart, und seine Leipziger Schule gelten hier als "angepasste Malerei". In diesem Gemäuer ist das "Sich-Verkaufen auf dem Kunstmarkt" eine gespenstische Vorstellung.
Die, die hier wohnen, kommen in der Regel durch einen Nebeneingang. Das ist der kürzeste Weg zur Küche. Die Küche ist ihre Zentrale. Dort haben sie den heutigen Tag und das Programm der kommenden zwei Wochen geplant. Fünf Jahre "Offmess", wie sie ihr Zuhause in aller Kürze nennen, gibt es zu feiern. Mit Party und Konzerten - und vor allem mit einer Ausstellung. Denn fünf Jahre "Offmess" sind auch fünf Jahre "silo", ein Zusammenschluss aus Studierenden und Absolventen der Kunstakademie Enschede.

Mehr Autos als gewöhnlich parken um das 1941 in Landhausstil erbaute Backsteingebäude. Der rote Teppich sieht so aus, als seien schon viele Schritte auf ihm getätigt worden. Keine Frage: Die Ausstellungseröffnung ist gut besucht. Sebastian Gräve ist zufrieden. Auch wenn er mit seinem Werk noch nicht ganz fertig ist, eine Installation unter freiem Himmel. Er zeigt es befreundeten Gästen. "Hier soll noch Licht hin", sagt Gräve und folgt währenddessen mit seinem Zeigefinger dem Verlauf des Kreises, den er als Fläche ausgehoben hat. In der Mitte steht ein Galgen aus Holz gezimmert. Daneben die Installation von Künstlerkollegin Mette Sterre: Hände, die aus dem Erdreich ragen. Beide Arbeiten eine Auseinandersetzung mit diesem, von Natur und Nazis geschaffenen Ort? Auf jeden Fall eine Ausweitung der Kunstzone vom Haus auf die Umgebung.

Zielobjekt unter Beobachtung

Der Niederländer Reinier Kranendonk und der Deutsche Guido Bertling waren in jener Novembernacht 2003 dabei, als eine Kompanie Kunst-Studierender aus Enschede das Haus unweit des Twente Airports besetzte. Über ein angelehntes Fenster hatten sie sich Eintritt verschafft. "Da mussten wir nur leicht dagegen drücken", sagt Bertling. Im Dunkeln sind die Studierenden eingestiegen. Mit Matratzen, Tischen und Stühlen bewaffnet, haben sie sich in dem Haus eingerichtet, das ihnen nicht gehörte. Eigentümer war die niederländische Luftwaffe, die das Offizierskasino nach dem Zweiten Weltkrieg übernommen hatte. Ein mächtiger Kontrahent, mit dem sich Kranendonk, Bertling und die Anderen da anlegten. 20 Militärpolizisten waren am Morgen nach der Besetzung angerückt, um die jungen Künstler wieder auf die Straße zu befördern. Doch die waren auf den Ernstfall vorbereitet.

Schon lange Zeit vorher hatten sie ihr Zielobjekt beobachet. Kranendonk und Bertling saßen dazu auf einem 30 Meter hohen Silo, das der Künstlergruppe später ihren Namen geben sollte. Alles deutete daraufhin, dass in dem Haus mit Festsaal, Kellergewölbe, Dachboden und einigen rustikalen Theken keine Offiziere mehr feierten. Durch Fensterscheiben konnten sie drei Jahre alte Handwerkerzettel erspähen. Installationskünstler Reinier Kranendonk, der schon so seine Erfahrungen aus der Rotterdamer Hausbesetzerszene hatte, wollte ganz sichergehen. "Ich habe die Toilette geprüft. Da war kein Wasser mehr drin", sagt der 28-Jährige. Die Übernahme konnte beginnen, allerdings nicht ohne Formalitäten.
Um seinen Anspruch zu untermauern, müssen die Schlösser ausgetauscht und die Besetzung der Polizei offiziell mitgeteilt werden. Klingt verrückt, ist in Holland aber Gesetz: Häuser, die über ein Jahr leer und ungenutzt stehen, sind frei fürs "Kraken", wie es in der Landessprache heißt. Allerdings muss der Leerstand bewiesen sein. Nicht immer sehen Hausbesitzer es gern, wenn ihre Immobilien von Wildfremden belagert werden. "Zur Sicherheit hatten wir Fotos gemacht und einen Anwalt eingeschaltet", sagt Bertling. Mit dieser Taktik sollte der kleine Feldzug der Künstlerkolonne siegreich sein. "Militärpolizei bläst zum Rückzug", titelte tags darauf die lokale Presse. Die Eroberung einer neuen Künstlerkolonie war perfekt, dutzende Künstler sind seitdem ein- und ausgegangen. Viele von ihnen haben hier, umgeben von Wald, Wiesen und militärischem Sperrgebiet gewohnt. Heute wohnen sie in Rotterdam, Amsterdam, Berlin, Manila, New York, Toronto und Reykjavik.

Kunst durch den Türspion

Von dem, was sie in der Ferne machen, bekommen Besucher der Ausstellung einen Eindruck. Das Repertoire reicht von Video- und Objektkunst über Installationen hin zu Malerei und Zeichnung. Die Ausdrucksformen sind teilweise genauso abgedreht und vielfältig wie die Themen: Auf einem Monitor zwei Zungen, die miteinander spielen. Inmitten eines Raumes eine Armbrust, die sich als Schubkarre wie eine mobile Artillerie fortbewegen ließe. In Kranendonks nach außen harmlos anmutenden Holzverschlag gewährt nur eine Linse wie ein Türspion Einblick.





Das Sichtbare ist düster, es korrespondiert wie abgesprochen mit der Arbeit von Sebastian Gräve. "War es aber nicht", sagt dieser. Das Gemeinsame, das Morbide sei ihnen erst im Nachhinein aufgefallen.

"Du schüttest oben verschiedene Sachen zusammen rein und weißt nicht, was am Ende heraus kommt." So umschreibt Kranendonk, die Idee, die sicher hinter dem Namen der Künstlergruppe verbirgt. "silo" ist ein mehr oder weniger loser Haufen ohne programmatische Vorgaben. Das Ungezwungene hat aber schon fast zwangsläufig unterschiedliche Qualitäten in den Arbeiten zur Folge. Auch das zeigt die Ausstellung.
Was alle verbindet, ist die Besetzung des Hauses und die Zeit an der Kunstakademie Enschede, die allerdings nicht mehr so sein soll, wie sie einmal war. Verschulter, der Weg vorgezeichnet. Nicht das einzige, was Gräve bedauert: 60 Prozent der Studierenden kommen inzwischen aus Deutschland. "Als ich da Seminare hatte, wurde noch Holländisch gesprochen." Heute würde Deutsch vor Englisch dominieren. In der "Offmess" hingegen ist Holländisch weiter die erste Sprache.

Nach ihrem Studium wollten sich Reinier Kranendonk und Guido Bertling absetzen, wie die meisten "silo"-Künstler in eine Großestadt. "Das ist nicht so gelaufen, wie gedacht", hört Reinier Kranendonk Guido Bertling sagen. Beide sind wiedergekommen, der eine aus Berlin, der andere aus Rotterdam. Dort gehe es überwiegend darum, in die Szene 'reinzukommen, erzählt Kranendonk. "Da bist du mehr mit Reden als mit Taten beschäftigt. Dabei ist es gerade die Kunst, durch die du als Künstler sprechen solltest." Nach acht Monaten kehrte er zurück, war aber eigentlich nie ganz weg. Das gilt auch für Bertling, der sich stets ein Zimmer im Offiziershaus warm gehalten hat.


Nachtrag (1.12.08): Die Ausstellung "5 Jahre Offmess" dauerte nur bis zum 29. November. Man munkelt, sie ist mit einer fetten Party zu Ende gegangen. Keine Sorge - die nächste Ausstellung kommt bestimmt.

Weiterführende Links
http://www.offmess.net/Die ´Offmess´ im Netz
   





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