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Dicke Luft am Stadtrand
UMWELT | REPORT AUS MAINZ (15.03.2008)
Von Jan Hendrik Matthey
Ein breites Bündnis hat sich in Mainz gegen den Beschluss zum Bau eines neuen Kohleheizkraftwerkes am Rheinufer gewandt. Interveniert wird mit 58.000 schriftlichen Einwendungen gegen die aktuellen Genehmigungsverfahren des Kraftwerks und den politischen Autismus der führenden Lokalpolitiker.

Verschiedene Initiativen fordern die Einstellung der Verfahren, nachhaltige Alternativkonzepte sowie einen transparenteren Demokratieprozess für Entscheidungen solch weittragender Ausmaße.

Scheen ists in Mainz!

Wer an Tagen ungünstiger Windverhältnisse durch Mainz schreitet, der kann von einem Geruch zwischen Karamell und Kloake überrascht werden, welcher sich wie ein imaginäres Tuch über die ganze Stadt ausbreitet. Penetrant und unausweichlich - allgegenwärtig! Woher jene mysteriösen Dämpfe dieses gustatorischen Verdrusses stammen, findet man erst nach einer Erkundung der näheren Umgebung der Stadt Mainz heraus: Die Nestlé-Werke mit ihrer InstantCafe-Pulver-Produktionsstätte, welche ihren Standort in dem nördlich von Mainz am Rheinufer gelegenen Industriegebiet ‚Ingelheimer Aue’ haben. Auf der Ingelheimer Aue soll nun nach Plänen der Stadtwerke Mainz Wiesbaden AG (KMW) ein neues 823MW Kohleheizkraftwerk gebaut und ab 2012 in Betrieb genommen werden.
Kraftwerke Mainz-Wiesbaden

Geplanter Kraftwerkstandort bei Mainz (c) Kraftwerke Mainz-Wiesbaden

Die Stadtwerke versprechen sich durch die 940 Millionen-Euro-Investition eine stärkere Marktposition und Unabhängigkeit von größeren Energiekonzernen. Außerdem erwarten sie mit dem neuen Kraftwerk einen wirtschaftlich rentableren Betrieb als mit dem erst 2001 erbauten, weltweit modernsten und energieeffizientesten Gas- und Dampfheizkraftwerk (GuD) oder grundsätzlich mit regenerativen Energieträgern möglich sein soll.
Trotz der mit einer Umstellung auf fast reinen Kohlestrom verbundenen Vervierfachung der derzeitigen CO2-Emissionswerte auf 4,62 Millionen Tonnen und der zukünftigen Vielzahl anfallender Schwermetallabfälle wird dem Kraftwerk eine nach EU-Norm bewertete Klimafreundlichkeit bescheinigt. Auch die Feinstaubbelastung soll weiterhin unterhalb der derzeit in Deutschland gesetzlich verankerten Grenze liegen. Rund 6000 Tonnen Kohle würde die 823MW-Leistung des Kraftwerkes pro Tag benötigen – zwei volle Containerladungen – angeliefert über den Rhein, dessen Wasser auch gleichzeitig als Kühlwasser dienen soll.

KoMa, KeKoWi und Co

Die Gründungszahlen von Initiativen gegen das geplante Kohlekraftwerk am Rheinufer stiegen im letzten halben Jahr stetig und verschärfen derzeit den Druck auf die kommunale Politik und Stadtwerke imens. Die von besorgten Bürgern im Mai letzten Jahres gegründeten Bürgerinitiativen KoMa (Kohlefreies Mainz) und später KeKoWi (Kein Kohlestrom Wiesbaden) und deren beginnendes Engagement löste eine regelrechte Welle des Protestes in der Bevölkerung aus. Sie erreichte ihren vorzeitigen Höhepunkt im Februar dieses Jahres mit 58.000 gesammelten schriftlichen Einwänden gegen den gestellten Genehmigungsantrag der KMW. Die Einwendungen konnten sowohl in individueller als auch in standardisierter Form und aufgrund verschiedener Kriterien (Umweltschutz, globale Erderwärmung, steigende gesundheitliche Risiken, Verunstaltung des Stadtbildes, Fehler in planrechtlichen Feststellungsverfahren) eingereicht werden. Eine von KoMa und KeKoWi erst kürzlich erstellte repräsentative Meinungsumfrage durch das Bielefelder SOKO-Institut verdeutlicht das Stimmungsbild: 83 Prozent der Bevölkerung von Mainz und Wiesbaden sprechen sich gegen das geplante Kraftwerk aus.
Parallel zum am 29. April endenden offiziellen Genehmigungsverfahren bei der Rheinland-Pfälzische Struktur- und Genehmigungsdirektion Süd wird derzeit von den Bürgerinitiativen zum Beitritt einer Einwendergemeinschaft geworben. Durch diesen Schritt sollen nach Abschluss des Genehmigungsverfahrens der Rechtsanwalt Wolfgang Baumann aus Würzburg und eventuelle Gutachter finanziert werden, die den Protest von diesem Zeitpunkt an parallel auf rechtlichem Wege weiterverfolgen sollen. Baumann hat mit seinen Schwerpunkten im Anlagenzulassungsrecht, Immissionsschutzrecht, Umwelt- und Planungsrecht sowie Wasserrecht bereits mit mehreren Bürgerinitiativen gegen den Ausbau des Frankfurter Flughafens und den Bau des Transrapids in München zusammengearbeitet.

Nicht nur Umweltschützer warnen

Inzwischen haben ganze Berufsgruppen Initiativen gegründet, welche durch mediale Kampagnen, Informationsveranstaltungen sowie wöchentlichen Infoständen in der Mainzer und Wiesbadener Innenstadt auf sich aufmerksam machen. Ein besonderes Aufsehen bereiteten hier die inzwischen über 300 Mitglieder zählenden Initiativen Mainzer und Wiesbadener Ärzte, die vehement gegen die gesundheitlichen Risiken durch die Mehrbelastung emittierter Schadstoffe, vornehmlich einer drastischen Zunahme von Atemwegs- und Herzkreislauferkrankungen im Rhein-Main-Gebiet warnen. Ein von ursprünglich 186 Ärzten unterzeichneter Protestbrief an den Mainzer Oberbürgermeister und Landesvater Kurt Beck sorgte für helle Aufregung im Vorstand der KMW, welche die Stellungnahme als das Schüren von Panik in der Bevölkerung verurteilte.
Doch auch der Weinbauverband hat sich in einer offiziellen Stellungnahme ausdrücklich gegen die Kraftwerkspläne positioniert. Er warnt nicht nur vor Qualitätseinbußen im Weinbau durch Schädigung der Blätter und der Reben durch erhöhte Ozonwerte, sondern auch vor nebelbedingter verstärkter Fäulnisgefahr durch eine Erhöhung der Rheinwassertemperatur. Dieses soll als Kühlwasser für das geplante Kraftwerk genutzt werden und der Rücklauf wieder direkt an den Rhein abgegeben werden.



Ökologische und ökonomische Bedenken

Abgesehen vom Vorwurf fehlender ökologischer Nachhaltigkeit mehren sich auch aus Kreisen der Ökonomie die Kritiker. So haben erst am 11. März in einem Offenen Brief 27 Wirtschaftswissenschaftler aus der Region auf die gravierenden ökonomischen Risiken des Kraftwerkbaus hingewiesen, da in die inzwischen drei Jahre alten im Auftrag der KMW erstellten Gutachten weder geplante noch bereits eingesetzte politische und wirtschaftliche Entwicklungen mit einbezogen wurden. Weiter wird in dem Schreiben eindringlich darum gebeten, für die Erstellung und Veröffentlichung einer aktuellen, realitätsnahen und umfassenden Wirtschaftlichkeitsanalyse zu sorgen und bis zu deren öffentlichen Diskussion einen Aufschub zu bewirken.

Politische Bedenken?

Während die in Mainz mehrheitlich regierende SPD eisern an den Kraftwerksplänen festhält, wird bei den Oppositionsparteien ein Abwenden umfassender diskutiert. So haben sich bereits fünf CDU-Ortsgemeinden der Stadt Mainz geschlossen gegen den Bau positioniert. Die Junge Union stieg schon früh in die Kampagnen gegen das Kraftwerk ein und erreichte durch massiven Druck einen Sonderparteitag für eine eindeutige Positionierung ihrer Mutterpartei. Eine klare Linie in der Positionierung lässt sich seit jeher nur von den Grünen erkennen, die seit Beginn an ihrem Kredo zum Klimaschutz festhalten und derzeit sogar rechtliche Schritte vor der EU gegen das Kohlekraftwerk prüfen. Nach Einwenderfrist wurden auch kurzzeitig vermehrt Stimmen aus dem Lager der CDU und FDP lauter, die die langfristige Wirtschaftlichkeit des neuen Kraftwerkes erneut prüfen wollen.
Interessant jedoch sind vor allem die widersprüchlichen Einstellungen der SPD über die Landesgrenzen hinweg (Mainz ist die Landeshauptstadt von Rheinland-Pfalz, Wiesbaden die Hessens). Während die Mainzer SPD um ihren amtierenden Oberbürgermeister und zeitgleichen Vorstand des KMW-Aufsichtsrates Verfechter der Kraftwerkspläne ist, ist Wiesbadens SPD erst vor kurzem mit einer Änderung der Energiepolitik in den Wahlkampf um Hessen gezogen. Trotzdem sprach sich der Wiesbadener SPD-Abgeordnete, welcher ebenfalls im KMW-Aufsichtsrat sitzt, im konzerninternen Genehmigungsverfahren nicht gegen den Bau aus, sondern enthielt sich als einziger – bei ansonsten ausschließlich positiver Zustimmung.

Kommunale Politiker, kommunale Stadtwerke, globale Verantwortung

Der derzeitige Protest der Bürger aus Mainz, Wiesbaden und Umgebung darf auch von der KMW nicht ohne weiteres hingenommen werden. So versichert das Unternehmen in ihrem Internetauftritt im Rahmen ihrer modernen Unternehmenskultur und ethischen Werte, dass sich ihr unternehmerisches Tun vor einer kritischen Gesellschaft, anspruchsvollen Kunden und selbstbewussten Mitarbeitern jederzeit problemlos rechtfertigen sowie mit den Prinzipien unserer Gesellschaft wie auch der Nachhaltigkeit in der Energiepolitik im Einklang stehen muss. Die gravierenden Gründe des bürgerlichen Protests basieren nicht nur auf Angst direkter Folgen und Auswirkungen auf die Region und die Bürger, sondern auch auf einer fortschreitenden Entdemokratisierung bei Beschlüssen solch weittragender Ausmaße. Die Ämterverflechtungen politischer Entscheidungsträger bilden hier nur die Spitze des Eisbergs.

Der Genehmigungsantrag der Stadtwerke wird nicht etwa im Stadtrat, sondern bloß in einem Ausschuss der Stadt entschieden und damit vorbei an einer durch die Bevölkerung demokratisch legitimierten Instanz. Die Stadtwerke Mainz Wiesbaden AG derweil haben nicht nur in anfänglichen Prozessen lokale Medien mit einem großen Anzeigenkontingent gut gestimmt, sondern auch die Stadt Mainz und ihre Bürger durch das komplette Sponsoring der erst Anfang März eröffneten Mainzer Kunsthalle (Museum zeitgenössischer Kunst).
Mit dem selbsttitulierten neuen Aushängeschild der Stadt, verschafft sich die KMW nicht nur den Ruf eines gönnerhaften Förderers kultureller Einrichtungen und Veranstaltungen, sondern zeitgleich auch ein Machtinstrument gegenüber der Stadt. Denn bei stetig leeren kommunalen Kassen und immer mehr Abstrichen kultureller Förderung ist es der KMW möglich, durch Fortführung bzw. Kürzung der Finanzierung solcher Objekte indirekte Bedingungen an die Stadtväter auszusprechen. So heißt es denn in der Satzung der Stiftung Kunsthalle Mainz: „Dem Vorstand obliegen die Leitung der Stiftung und die Führung der laufenden Geschäfte.“ Auch was das Genehmigungsverfahren angeht, gibt es Kritik. Nur auf öffentlichen Druck der Bürgerinitiativen wurden die Genehmigungsunterlagen preisgegeben. In ihnen offenbarte sich, das außer den Gutachten zur Wirtschaftlichkeit des neuen Kraftwerkes viele der vorgelegten Gutachten aus eigenem Hause und nicht von unabhängigen Instituten stammen oder gar veraltet sind.

Das Plädoyer der Kraftwerksgegner ist in Teilen also auch ein Mahnen für eine Rückbesinnung auf demokratische Grundsätze und Prinzip der freien und gleichberechtigten Mitbestimmung in gesellschaftlichen Gruppen. Denn selbst wenn der Genehmigungsantrag der KMW am 29. April bewilligt werden würde, sollte nach den großen Diskrepanzen zwischen einem Großteil der Bürger und der Stadt Mainz ein Bürgerentscheid die nötige Konsequenz sein. Darauf hoffen auch die Bürgerinitiativen, allen voran KoMa und KeKoWi. Denn als Vorbild eines solchen Bürgerentscheids dient die erfolgreiche Verhinderung eines 1600MW Kohleheizkraftwerkes der saarländischen Gemeinde Ensdorf. Hier sprachen sich nach massiven Protesten der Bürger letztlich 70 Prozent gegen das geplante Kraftwerk aus. Diese Anlage wird nicht gebaut.

   





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