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Die Freiheit Friedrich Naumanns
POLITIK | RELIGIONSSOZIOLOGIE (24.08.2010)
Von Frank Fehlberg
Er gilt nicht wenigen als einer der wichtigsten Vordenker der bundesrepublikanischen Staatsidee: Friedrich Naumann. Die 1958 gegründete und nach ihm benannte FDP-nahe Stiftung trägt seit 2007 den Zusatz „für die Freiheit“. Doch wer war der Mann, der einen nationalen Sozialismus für das deutsche Staatsleben einforderte, lange bevor der Nationalsozialismus Adolf Hitlers die geschichtliche Bühne betrat?

Der sächsische Arbeiterpfarrer und Gründer des Nationalsozialen Vereins (NSV) wurde 1860 im beschaulichen Störmthal bei Leipzig geboren. Am 25. März dieses Jahres beging man auch hier das 150. Jubiläum seines Geburtstages – im Gedenken an einen großen Liberalen.
Heuss, Theodor: Friedrich Naumann. Der Mann, das Werk, die Zeit. Stuttgart/Berlin 1937

(c) Heuss, Theodor: Friedrich Naumann. Der Mann, das Werk, die Zeit. Stuttgart/Berlin 1937

Naumann ist bis heute aber ein ideengeschichtliches Rätsel, von dem viele nur allzu vorschnell meinen, es sei bereits abschließend gelöst. Seit der Gründung der BRD ist er eine weitgehend unhinterfragte historische Größe des politischen Liberalismus geworden. Die bisherige Forschung sah das Naumann’sche Denken somit beinahe ausschließlich mit der liberalen Brille. Doch die tiefere Auseinandersetzung mit seiner Ideenwelt lässt kaum eine eindeutige Einordnung nach heutigen Maßstäben zu. Ein ausschlaggebendes Moment für die berechtigte Verwirrung ist der Freiheits-Begriff dieses protestantischen Theologen.

"Welches ist also unser Feldgeschrei? Freiheit und Gleichheit!"

Der christlich-sozial geprägte Politiker bekannte einmal, Bildnisse von Bebel und Bismarck über seinem Schreibtisch als „gegensätzliche und doch zusammengehörige Symbole“ der deutschen Reichsgründung von 1871 angebracht zu haben. Er erkannte früh, dass die Lösung der sozialen Frage nicht in der punktuellen Behandlung durch provisorische Almosen und autoritäre Bevormundung bestehen konnte, sondern eines fundamentalen sozialpolitischen Ansatzes bedurfte. Er orientierte sich hierbei – anknüpfend an seine Erfahrungen als Seelsorger im sächsischen Industriegebiet zwischen Chemnitz und Zwickau – unter anderem an den sozialistischen Thesen August Bebels, des Gründers der Sächsischen Volkspartei von 1866 und zentralen Figur der zeitgenössischen Sozialdemokratie. Als Christ trug er zwar weder den historischen Materialismus noch die revolutionäre Ausrichtung des Marxismus mit, aber er erkannte die Sozialdemokratie mit ihrer Thematisierung gesellschaftlicher Missstände und ihrem ganzheitlichen Lösungsansatz respektvoll an. Mehr noch, ihr materialistischer Sozialismus sei im Grunde, so Naumann 1893 auf dem Evangelisch-sozialen Kongress (ESK), nichts anderes als „die erste große evangelische Häresie“.

War Naumann ein nationaler „Liberalsozialist“?

Mit seiner theologisch liberalen Haltung eckte er in der konservativ dominierten Amtskirche seiner Zeit bereits früh an. Das, was heute als „Religiöser Sozialismus“ bekannt ist, steckte noch in den Kinderschuhen – und war nicht von vornherein nur „links“ zu denken. Naumann übertrug Jesus von Nazareth als „Volksmann“ und Arbeiterfreund in seine Gegenwart. Das eigene Denken dieser Zeit als „wahren“, weil „christlichen Sozialismus“ bezeichnend, trat er an, um dem kirchlichen und staatlichen Leben der Deutschen einen neuen Geist der Freiheit aufzuzeigen. Sein Freiheitsbegriff orientierte sich ausdrücklich nicht an den beiden materialistischen politischen Lehren der Zeit, dem marxistischen Sozialismus und dem ökonomischen Liberalismus. Beide Richtungen verträten, ob auf Grundlage freiheitlicher oder sozialorganisatorischer Prämissen, im Grunde nur die Suche nach dem materiellen Erdenglück und vergäßen darüber die immateriellen ideellen Werte, die ein gesellschaftliches Ganzes letztlich ausmachten. Zu diesem Urteil kam der Pfarrer als „demokratischer Monarchist“ und Idealist: „Der Materialismus der Sozialdemokratie hat von Hegel den Gedanken des Weltprozesses übernommen, hat aber das Absolute, die transzendente Idee verabschiedet.“

Und doch übernahm Naumann auch Elemente sozialdemokratischer Kapitalismuskritik etwa in seine exemplarische Rüge der Börsianer, deren Geschäfte er durch Erbschafts-, Luxus- und Börsensteuer indirekt in den Dienst der Gemeinschaft stellen wollte. „Aller Sozialismus beginnt mit einer Kritik der vorhandenen wirtschaftlichen Zustände.“ Zudem führe zwangsläufig „das freie Spiel der Kräfte und Interessen zur Unterdrückung der Schwächeren“. Gegenargumente von höheren Notwendigkeiten ökonomischer Natur wies der selbsternannte christliche Sozialist brüsk ab: „Zwar tun die Geldkreise immer sehr gefährlich, wenn einer an der Börse rühren will, sie reden dann vom Nationalwohlstand und allerlei ähnlichen Dingen, als wenn sie die selbstlosesten Leutchen wären, die sich nur um des lieben Volkes willen in große Geldgeschäfte verwickelten.“

Was ist also euer Grundbekenntnis? Nationaler Sozialismus auf christlicher Grundlage.

Als politische Volksbewegung der Zukunft betrachtete er um die Jahrhundertwende den „nationalen Sozialismus“, den er unter dem Einfluss Max Webers und des Kirchenrechtlers Rudolph Sohm aus seinem christlichen Sozialismus heraus entwickelte. Zur Umsetzung seiner Ziele gründete Friedrich Naumann 1896, zusammen mit seinem ebenfalls unmissverständlich „national-sozialistischen“ Landsmann und Amtsbruder Paul Göhre (später SPD), den Nationalsozialen Verein. Dessen intern vieldiskutierte Stellung unter den politischen Strömungen der Zeit fasste er als Vorsitzender 1899 wie folgt zusammen: „Wir gehören zur Gesamtbewegung des Sozialismus als deren politisch rechtsstehender Flügel.“ Doch der Anspruch, ein „Bruder der Sozialdemokratie“ und zugleich ein Kämpfer für nationale wie wirtschaftliche Belange zu sein, wirkte nicht nur nach außen verstörend. Die Partei zwischen allen Stühlen scheiterte schon 1903 und ihre Mitglieder schlossen sich mehrheitlich dem „linksliberalen“ Lager im Kaiserreich an. Ein öffentliches Amt sollte Naumann auch in der Folge, als Vertreter der „Erneuerung des Liberalismus“ und Verfechter der „neudeutschen Linken“, nie bekleiden. Die Idee eines nationalen Sozialismus indes ließ einige überzeugte Nationalsoziale auch nach 1903 überzeugte „Naumannianer“ bleiben – unter unterschiedlichsten parteipolitischen Flaggen. Kurt Tucholsky kritisierte noch 1926 die eigentümlichen Träume der „Naumannschen Schlafwagengesellschaft“ bei den DDP-Politikern Theodor Heuss und Gertrud Bäumer.

Naumanns Orientierung am deutschen Idealismus – Fichte vertrat in seinen Augen den „idealen Sozialismus“ – erklärt seinen ambivalenten Freiheits-Begriff zumindest in großen Teilen sehr gut. An den Umständen der Zeit gemessen, musste sein Entwurf zwischen „Sozialismus“ und „Nation“ aber eine heute meist anders assoziierte Formel finden. Sätze des Pfarrers wie der folgende von 1891 klingen in modernen Ohren sicherlich sehr ungewöhnlich: „Weil der Individualismus die Freiheit zum Guten gehemmt hat, muss als sittliche Notwendigkeit ein staatlicher Sozialismus eintreten. Der Zwang muss als Rettung der Freiheit herbeigerufen werden.“ Zwang als Rettung der Freiheit – dieses Prinzip sollte Naumann im Ersten Weltkrieg mit der These von der freiwilligen Verpflichtung, dem „Willen zum Zwang“, als Grundprinzip des deutschen Burgfriedens aller Klassen fortführen.

Die Chance im Krieg: der „Staats- oder Nationalsozialismus“

Die Verbindung christlich-weltüberwindender „innerer Freiheit“ mit der staatlich-gesellschaftlichen Organisation einer Freiheit, die dem Wohle der Nation dienen sollte, war Zeit seines Lebens der bestimmende Grundton seines Selbstverständnisses als „nationalsozialer“ und „fortschrittlicher“ Politiker. Seine 1915 formulierte Mitteleuropa-Idee enthielt etwa als die Essenz der „deutschen Wirtschaftskonfession“ den im Kriege zur Geltung gebrachten „Staats- oder Nationalsozialismus“. Als Vorkämpfer einer Geschichtskonstruktion der „deutschen Freiheit“ entwarf er 1917 mit dem „Volksstaat“ die Konzeption eines Nachkriegsdeutschlands, das sich durch die Erfahrungen des „Kriegssozialismus“ zu einer national begründeten Demokratie unter Einschluss aller Gesellschaftsgruppen weiterentwickeln sollte. Die spezifische „deutsche Freiheit“ wollte er dabei gezielt der Propaganda der Kriegsgegner von der inneren Unfreiheit und autoritären Grundanlage des Deutschen Reiches entgegengestellt sehen.

Der Begriff des „Volksstaates“ – der Name von Wilhelm Liebknechts Leipziger Zeitung aus den „wilden“ 1870er Jahren lässt grüßen – zielte dabei gewiss vor allem in eine Richtung: auf die Sozialdemokratie. Diese endlich durch den Krieg „nationalisiert“ und verantwortungsbewusst als „staatserhaltend“ zu sehen, dürfte Naumann als die herannahende Erfüllung seiner nationalsozialen Träume gegolten haben. Der bereits seit seiner Schulzeit von Naumanns politischem Wollen begeisterte Heuss, zwischenzeitlich festes Glied des Naumann-Kreises geworden, schrieb 1915 zu dieser Stimmung: „Wir reden jetzt oft von der deutschen Kraft der Organisation: deren Geheimnis ist es, ein dauerhaftes und schöpferisches Verhältnis zwischen Gebundenheit und Freiheit herzustellen, Ordnung, in der die Kraft des Gesetzes mit dem Ziel des einzelnen zusammenklingt. Das ist auch das innere Wesen eines von Staate befohlenen und vom Volke gewünschten Kriegssozialismus.“

Vom „Kriegssozialismus“ zum Neuanfang von Weimar

In den letzten Kriegsmonaten machte sich Friedrich Naumann um die politische Bildung verdient. Mit einer „Staatsbürgerschule“ wollte er Politik lehrmäßig vermitteln, auf dass die kommende Generation ihre Staatsbürgerverantwortung mit den besten Voraussetzungen an Wissen und Können antrete. Später schälte sich aus diesen Anfängen die „Deutsche Hochschule für Politik“ heraus, die bis heute im Otto-Suhr-Institut der FU Berlin fortlebt. Dabei täuschte Naumann die zukünftigen Schüler nicht über das gesellschaftliche Vermögen einer solchen Einrichtung. Wissen sei sicher vermittelbar, doch trügen hauptsächlich Können und erst recht ein ernsthaftes politisches Wollen, das man nicht schulmäßig erlernen könne, ein ehrliches politisches Engagement. „Politik ist nie ohne gelernte Bildung, aber sie selbst ist kein Wissen, sondern ein Können und Wollen, das weit tiefer in der menschlichen Natur begründet sein muss, als nur durch Unterrichtsstunden.“ Damit verwies der einstige Seelsorger auf die feste Verankerung von Werten, die keine Schule der Welt einem noch so beflissenen Schüler verschaffen könnte. Glaube ist sicher nicht in der Lage, das Können zu ersetzen, lieferte ihm aber eine unmissverständliche Richtungsangabe über alle gesellschaftlichen Widersprüche hinweg.

Die Diskussion um die Weimarer Verfassung macht wiederholt deutlich, dass Naumann kein gewöhnlicher Liberaler nach heutiger Auslegung war. Sein „national-sozialliberaler“ Beitrag zur Grundrechtsdebatte wurde von seinen Kritikern eher als „politische Aphorismensammlung“ denn als ernsthafter Vorschlag betrachtet. Bedachter interpretierend könnte man heute von einem volkspädagogischen Konzept sprechen – und träfe damit die Ernsthaftigkeit und das erzieherische Wollen des ehemaligen Pfarrers vermutlich besser. Er konnte die Widersprüche des deutschen Staatslebens nicht lösen, sein zeitgenössisch gebundener und oft genug ambivalent erscheinender Versuch aber wies in die Zukunft. Gewagte und dennoch hohe Begriffe, gestaltungspolitischer Wille und ein Sinn für das Große und Ganze einer staatsbürgerlichen Gemeinschaft – Eigenschaften, die nicht unbedingt einen „realistischen“ Staatsmann ausmachen, wohl aber einen „gesamtpolitischen“ Mann des Staates, der in der Erinnerung bleibt und stille Wirkung entfaltet.

Ein Nationalsozialismus anderer Färbung sollte alsbald seine freiheitlichen Vorstellungen übertönen – am Ende gar die ernsthafte Verwendung seiner Ideenbegriffe unmöglich machen. Friedrich Naumann konnte zum demokratischen Aufbruch der Weimarer Republik nicht lange beitragen. Er starb am 24. August 1919 in Travemünde. Zwei seiner alt-nationalsozialen Gefolgsleute, Theodor Heuss und Otto Nuschke, gelangten nach dem Zweiten Weltkrieg in höchste Staatsämter. Heuss wurde erster Bundespräsident der BRD, Nuschke als Vorsitzender der Ost-CDU stellvertretender Ministerpräsident der DDR – Ideengeschichte geht verschlungene Pfade.
   




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