Der erste Theologe
KULTUR | GLAUBE & VERNUNFT (15.07.2011)
Von Frank Fehlberg | |
Das Mittelalter gilt als Epoche der Unwissenheit, Irrationalität und Zurückgebliebenheit. Ein Licht inmitten dieses dunklen Zeitalters war Petrus Abaelardus, der "wahre Philosoph Christi". Den meisten ist Abaelardus durch eine tragische Liebesbeziehung bekannt. Abaelard wurde 1079 in Le Pallet bei Nantes als Sohn eines Ritters geboren. Nach eigener Darstellung in seiner autobiographischen „Leidensgeschichte“, der Historia Calamitatum, verzichtete er früh auf das väterliche Erbe, das ihm als Erstgeborenem zustand. Der Grund: seine Neigung zum ausgedehnten studium litterarum, zur Wissenschaft seiner Zeit. Mit diesen Worten waren dazumal keineswegs nur geistliche Studien im Rahmen eines allgemeinverbindlichen Christentums gemeint. Abaelard sollte zu einem der bekanntesten Verfechter der Verwissenschaftlichung der Schriftenkunde seiner Zeit werden. Gegen Ende des 11. und mit ganzer Wucht ab dem 12. Jahrhundert hielt die Scholastik Einzug in die Ein geheimes Liebespaar: Abaelardus und Heloïse in einer Handschrift des "Roman de la Rose", Chantilly, musée Condé (14. Jh.). (c) Wikipedia Das erste Individuum überhaupt Die „Bildungslandschaft“ des 12. Jahrhunderts war mitnichten so durchinstitutionalisiert und kanonisiert, wie der Laie es mitunter vermutet. Das hauptsächlich von der europäischen Aufklärung geprägte moderne Bild des „dunklen“ Mittelalters erfuhr in den letzten Jahrzehnten wesentliche Differenzierungen. So spricht man etwa von der „Renaissance des 12. Jahrhunderts“, um die mehrdimensionale Umbruchsituation im Hochmittelalter plakativ zu umschreiben. In Gelehrtenschulen taten sich angesehene und von den Schülern bezahlte Lehrer hervor, die im Rückgriff gerade auf die antiken Klassiker aus Philosophie und Dichtung die Disziplinen der Dialektik und Logik pflegten und zu neuer Blüte führten. An der Biographie Abaelards, maßgeblich von ihm selbst für die Nachwelt inszeniert, kristallisierten sich die Veränderungen wohl am plastischsten, weshalb er nicht selten als der „erste moderne Mensch“, ja als das erste Individuum überhaupt, stilisiert wird. Studien in Paris Bis 1099 führte Abaelard erste philosophische Studien bei Roscelin von Compiègne durch, der im Universalienstreit des Mittelalters eine kritische Position eingenommen hatte. Während die „Realisten“, unter ihnen Anselm von Canterbury, das Universum als letztlich unteilbare, einzig reale Substanz begriffen, wurde Roscelin „Tritheismus“ vorgeworfen, weil er die göttliche Dreieinigkeit lediglich als Begriff zur Zusammenfassung unterschiedlicher Substanzen dargestellt hatte. Nach seiner Zeit bei dem Nominalisten Roscelin ging Abaelard nach Paris, um bei einem weiteren Realisten von Ruf sein Studium fortzusetzen: Wilhelm von Champeaux. Unter diesem begann Abaelard seine eigene schillernde Laufbahn als scharfer Denker und charismatischer Lehrmeister. Die Universität von Paris war noch nicht als Personenverband von Lehrern und Schülern, geschweige denn als feste Institution gegründet. Die Umgangsformen und wissenschaftlichen Gepflogenheiten an der Domschule Notre-Dame und vieler kleiner Schulen in ihrem Umfeld waren noch nicht gefestigt. Gegenstand der Lehre waren nach antikem Vorbild zunächst die Sieben Freien Künste, von denen für einen Geistesmenschen wie Abaelard das Trivium aus Grammatik, Rhetorik und Dialektik von ausschlaggebender Bedeutung war. Sie boten das Rüstzeug für spätere Spezialisierungen des Schülers, etwa in der Theologie oder der Jurisprudenz. Neben den kirchlichen Einrichtungen hatten nicht wenige freie magistri gegen Honorar eigene Schulen eröffnet, in denen die wissenschaftlichen Grundlagen vermittelt wurden. Nicht zuletzt aus der wirtschaftlichen Konkurrenz der Magister ergab sich eine intellektuell ansprechende Atmosphäre, die auch den Schülern einigen Raum zur denkerischen Entfaltung bot. Philosophische Konflikte konnten sehr kontrovers ausgetragen werden: der Vorwurf der Häresie wurde nicht selten zur Desavouierung des Gegners und seiner Schule erhoben – eine Verurteilung durch Synoden und Konzile hatte nicht zwangsläufig die Hinrichtung des Beschuldigten zur Folge. Die Inquisition war, ebenso wie die Universität, noch nicht institutionalisiert. Wissenschaft als Krieg der Argumente Abaelard machte früh als widerspenstiger Schüler auf sich aufmerksam. Er griff Wilhelm von Champeaux offen an und machte sich unter dessen Schülern an der Domschule mehr und mehr einen eigenen Namen. Das Streitgespräch, der Streit an sich, wurde dem jungen Mann eine lebenslange Leidenschaft, für die er eine möglichst umfassende Bildung erlangen wollte. Wiederholt verglich er seine akademischen Taten mit Feldzügen und gewonnenen Schlachten. „Das Arsenal logischer Begründungen, das ich aus allen Schriften der Philosophie vorzog, machte ich zu meiner neuen Waffengattung“, schrieb er in Anknüpfung an seine ritterliche Herkunft. Seine Lust am dialektischen Disputieren teilte sein Umfeld erwartungsgemäß sehr rasch in erbitterte Gegner und treue Freunde. Er gründete eigene Schulen und machte seinen einstmaligen Lehrern durchaus einige Schüler abspenstig. Im Universalienstreit nahm er eine vermittelnde Position ein, kannte er doch die Vorzüge und Nachteile der gegensätzlichen Standpunkte seiner Lehrer und wollte mit bestechender Logik selbst über den Dingen stehen. Nach einigen Jahren in der Philosophie wandte sich Abaelard schließlich der Theologie zu. 1113 ging er an die bekannte Theologenschule von Laon, an der Anselm von Laon lehrte. Die „Theologie“ als Wissenschaft steckte erst in den Kinderschuhen, das Fachgebiet trug auch noch nicht diesen Namen. Das Studium der sacra pagina beschäftigte sich neben der Heiligen Schrift vor allem mit den Abhandlungen der Kirchenväter, unter denen Augustinus der herausragende war. Bisher hatte Abaelard sich vorrangig mit antiken Klassikern der Philosophie beschäftigt. Und so trat er auch in Laon alsbald in einen scharfen Gegensatz zu seinem Lehrer, der seiner Meinung nach allzu starr in den biblischen Texten und vor allem in den „Autoritäten“ der Kirchenlehre verhaftet blieb. Aus seiner Abneigung gegenüber der bloßen Übernahme fremder Kommentare und Gedanken von den Kirchenvätern entwickelte Abaelard die maßgebliche Konstante seiner eigenen Glaubenslehre. Als „letzter Philosoph“, wie er sich unbescheiden selbst sah, wollte er auch in der Glaubenslehre Vernunft walten lassen: dieselbe solle mit Vernunft erklärt, solle verstanden werden können, anstatt nur geglaubt werden zu müssen. Eigenständiges Denken und vernunftgeleitetes Hinterfragen – diese Prinzipien wollte Abaelard als theologia in die Behandlung der biblischen Texte und der Autoritäten eingeführt sehen. Mit seiner Wortwahl erwies sich Abaelard als ein Intellektueller seiner Zeit. Griechische Versatzstücke in der lateinischen Gelehrtensprache hatten mit Anselm von Canterbury seit Ende des 11. Jahrhunderts Einzug gehalten. Sie waren von den meist des Griechischen kaum mächtigen Scholastikern als Referenz an große Vorbilder der Philosophie – vor allem an Aristoteles – eingeführt worden. Dem Logiker Abaelard erschien eine Verbindung zwischen Gott und Vernunft, theos und logos, sicherlich passend. Seine originäre Wortschöpfung war sie freilich nicht, findet sie sich doch bereits in der Antike. Heimliche Liebe Seine Traum-Karriere als Inhaber des Logiklehrstuhls an der Pariser Domschule war nur von kurzer Dauer. Auf dem vorläufigen Höhepunkt seiner wissenschaftlichen und persönlichen Entwicklung, in den Jahren 1114 bis 1117, verhedderte er sich in Liebesdingen. Die schöne Heloise, schutzbefohlene Nichte eines Domkanonikers, erblickte in Abaelard nicht nur ihren klugen Hauslehrer und Freund im Geiste, sondern auch ihren Liebhaber. Die Liebesgeschichte zwischen Abaelard und Heloise prägt zu einem großen Teil bis heute die populäre Behandlung des historischen Stoffes, zumal sie einen tragischen Verlauf nahm. Heloise wurde schwanger und der Magister stolperte über die folgenden Verwicklungen in das unrühmliche Ende seiner akademischen Ambitionen. Eine offene Ehe lehnte Abaelard nicht nur wegen seiner Laufbahn an der Domschule ab. In seiner Historia erklärt er seine regelrechte Ehefeindlichkeit nicht mit dem Zölibat, sondern mit dem „religiösen Leben“ eines Philosophen, dessen antike Vorläufer sich schon nicht mit Frau und Haushalt von ihrem eigentlichen Daseinszweck ablenken lassen wollten. Und so blieb es bei einer geheim geschlossenen Verbindung mit der Geliebten. Während Heloise den gemeinsamen Sohn im Schutze der Abgeschiedenheit gebar, wurde der Philosoph von Häschern des erzürnten Onkels gestellt und entmannt, was ihn endgültig von einer höheren kirchlichen Laufbahn ausschließen sollte. Durch diese traumatischen Ereignisse persönlich und gesellschaftlich schwer angeschlagen, legte das Liebespaar schließlich die Klostergewänder an. Aus dem „letzten Philosophen“ war somit ein Mönch geworden, der seine Liebe zu einer Frau zwar nie verleugnete, sich aber mit ihrer bloßen emotionalen Präsenz schon aus körperlichen Gründen zufriedengeben musste. Aufsässiger Mönch Doch bald nach seinem Eintritt in das Kloster St. Denis bei Paris machte der streitlustige Abaelard wieder auf sich aufmerksam. Mit der Theologia Summi Boni und der Abhandlung De Unitate Et Trinitate Divina erschloss er sich mehr und mehr Schüler-Zulauf auf dem Gebiet der divinitas, der Gottesgelehrsamkeit. Wieder zog er sich den Missmut andersdenkender Zeitgenossen zu, 1121 musste er sich erstmals auf der Synode von Soissons die Verurteilung und die Verbrennung einer seiner Schriften gefallen lassen. Doch seine Lehre hatte längst genügend und vor allem namhafte Verteidiger gefunden, so dass ihre Wirkung auch gegen die eingefädelten Schiedssprüche der Gegner sichergestellt war. Selbst den Schulbetrieb konnte der Mönch wieder aufnehmen und so an vergangene Tage als Lehrer anknüpfen. Eine ihm 1122 zugestandene Einsiedelei, der Paraklet, entwickelte sich mehr und mehr zu einer Siedlung, in der Lehrer und Schüler zusammenlebten. Mit der dialektischen Schrift Sic et Non (Ja und Nein) legte Abaelard seine Auffassung von theologischer Wissenschaft erneut in solch polarisierender Weise dar, dass er weiterhin unter der Beobachtung seiner Gegenspieler in den Dom- und Klosterschulen stand. Während Anselm von Canterbury und andere Gelehrte ihre quaestiones allzeit in gebührendem Respekt vor den Autoritäten und in Abstimmung mit der kirchlichen Leitung durchdacht hatten, setzte sich Abaelard der Gefahr der Zweideutigkeit aus. Dieses unsicher erscheinende Lavieren zwischen Glauben und Wissen rief einen neuen, nicht minder bedeutenden Ordensmann der Zeit auf den Plan: Bernhard von Clairvaux. Autobiographie im Kloster Während Abaelard aufgrund seiner großen Angst vor erneuter Verfolgung düstere Jahre als Abt eines verwilderten Klosters in der Bretagne verbrachte, fertigte er mit seiner Historia Calamitatum die wohl bekannteste Autobiographie des Mittelalters an. Ausgewiesen als Trostbrief an einen Freund beschrieb der Theologe das eigene Leben als andauernden Konflikt zwischen sich und seiner missgünstigen Umwelt. Die Schilderungen der Liebesbeziehung zu Heloise sowie der – in Bezug auf die Verfasserschaft nicht unumstrittene – Briefwechsel mit ihr prägten vor allem die literarische Verarbeitung seines Lebens. Als Quelle für den Wissenschaftsbetrieb des 12. Jahrhunderts wurde die Historia lange Zeit weniger herangezogen, obwohl sie gerade hier einige offene Einblicke gewährt. Als Gelehrtem der Freien Künste und Mönch war es Abaelard möglich, sein Denken für ein vergleichsweise breites Publikum schriftlich festzuhalten und zu verbreiten. Während in den Schulen der gewöhnlichen Magister kaum verwertbares Schrifttum anfiel, verfügten die Klöster als die herausragenden Bildungsstätten der Zeit über umfangreiche Bibliotheken und Skriptorien, professionelle Schreibstuben für die Vervielfältigung von Texten. Seine erzwungene Laufbahn als Mönch gereichte dem Denken des Philosophen und Theologen Abaelard also insofern zum Vorteil, als es erst durch jene eine dauerhafte Bekanntheit in der theologisch-klerikalen Öffentlichkeit erreichte. Diese Bekanntheit unter den klerikal-monastisch und den philosophisch Gebildeten rief einerseits seine Beliebtheit bei den vor allem jüngeren Schülern hervor, andererseits alarmierte sie die harten Kritiker der klassischen Gelehrsamkeit. Während Abaelard ab 1133 in Paris neuerliche Erfolge in der Prägung kommender Generationen von Klerikern erreichte, stieg der Unmut über ihn bei der erwähnten weiteren Theologengröße der Zeit, Bernhard von Clairvaux. Am 25. Mai 1141 kam es auf der Synode von Sens zum Schlagabtausch zwischen diesen beiden Männern des 12. Jahrhunderts, die trotz aller Gegensätzlichkeit als würdige Repräsentanten ihres Zeitalters gelten können. Abaelard als selbstbewusster und klassisch gebildeter Gelehrter der aufkommenden Scholastik und Bernhard als Angehöriger des rasant wachsenden Reformordens der Zisterzienser, als mächtiger Abt – und nachmaliger Kreuzzugsprediger. Äußerlich ein Mönch, innerlich ein Häretiker? Zu einer Disputation zwischen den beiden sollte es jedoch auch in Sens nicht kommen. Der Zisterzienserabt erreichte eine Vorverurteilung einiger Aussagen des Magisters aus Paris durch die anwesenden Bischöfe. Dabei wandte der rhetorisch begabte Ankläger jeden Kunstgriff der Denunziation an, insbesondere die Unterstellung einer schwer nachweisbaren verfehlten inneren Geisteshaltung. Abaelard sei zwar äußerlich ein Mönch, aber im Inneren ein Häretiker, der durch seinen Lebenswandel und seinen wissenschaftlichen Hochmut bewiesen hätte, dass er ein Feind des wahren Glaubens sei. Sein Glaube sei lediglich Meinung, die Infragestellung Gottes mit den niederen Möglichkeiten des Verstandes, wie er mehrfach mit der Methode der zweideutigen Auslegung von Zitaten bewiesen hätte. Auf einen theologischen Disput über die formalen Anklagepunkte in Abaelards Schriften ließ es Bernhard gar nicht erst ankommen. Der Grundkonflikt zwischen den beiden Christen lag in der Auseinandersetzung zwischen der monastisch und der scholastisch geschulten Auffassung von Glaube und Wissen. Bernhard unterstellte der Lehre von Abaelard die gotteslästerliche Arroganz des aufgeblähten Besserwissers und verunglimpfte dessen Wortneuschöpfung als „Stupidologie“. Abaelard hatte das Wort Anselm von Canterburys, credo ut intelligam („Ich glaube, damit ich verstehe.“), mit der theologia einfach umgekehrt: nichts könne man glauben, was man nicht vorher verstanden hätte. Zwischen Abaelard und Bernhard entfaltete sich so die zeitlose Auseinandersetzung zwischen einer verkopften und zweideutigen Theo-logie als Wissenschaft und einer kraftvoll-innerlichen und nicht selten mystisch aufgeladenen Glaubensgewissheit, die sich auf eindeutige Bibelzitate stützte. Auch wenn Petrus Abaelardus 1141 wegen seiner Lehren verurteilt wurde, so hat doch seine Art zu denken und zu glauben nicht nur auf Zeitgenossen sehr attraktiv gewirkt. Ein weiterer großer und mächtiger Ordensmann der Zeit, Petrus Venerabilis, Abt von Cluny, bezeichnete ihn ehrfurchtsvoll als „wahren Philosophen Christi“, spätere Päpste und Bischöfe gehörten zu seinen Schülern in Paris, weitere später bekannte Männer wie Otto von Freising und Johannes von Salisbury hörten seine Vorlesungen. Für die Entwicklung der Scholastik, die das wissenschaftliche Arbeiten und die akademische Organisation tiefgreifend geprägt hat, ist die Bedeutung Abaelards unbestritten. Bis heute aktuell Seine tragische Liebesgeschichte, nur einer der zahlreichen Konflikte seiner Historia Calamitatum, überragt die theologische Wirkung seines Lebenswerkes zu Unrecht. Nicht unberechtigt kann er gar als erster genuiner „Theologe“ überhaupt gelten. Bis heute sind die Fragen, mit denen er sich neben allen logischen Spitzfindigkeiten und Lehrbeispielen auseinandersetzte, die gleichen, wie sie Theologen als Gläubige und Menschen auch in der Gegenwart beantworten müssen. Die Grenzen zwischen Wissen, Weisheit und innerlicher Glaubensgewissheit spielen dabei eine ebenso große Rolle wie die davon nicht frei bleibenden Fragen einer Lebensführung zwischen Verstand, Glauben und Liebe. Abaelard starb 1142 nach längerer Krankheit im Schutze des Klosters von Cluny. 1164 starb schließlich auch Heloise, die seit 1131 als Leiterin des zum Nonnenkloster umgewidmeten Paraklet in der Champagne gewirkt hatte. Die gemeinsame Grablege der Äbtissin und des Abtes befindet sich auf dem Pariser Friedhof Père Lachaise. |