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In wenigen stunden viele bands verpassen: das sziget festival
KULTUR | PARTY IN UNGARN (22.02.2009)
Von Katharina Nocun
Ich bezeichne mich selbst als erfahrenen festivalkonsumenten. Jahr für jahr schaue ich mir die programme im frühling durch, um dann den sommer über in wochenenden voll kontrollierten wahnsinns der jugendkultur zu versinken.

Nocun

Das Sziget Festival abseits der Bühnen. (c) Nocun

Man schläft für ein paar tage in zelten, man läuft ein paar tage morgens zur wasserstelle, man kocht vor der gemeinsamen behausung. Ein wenig modernes nomadentum in the northernface-jacken, die wind und wasser abweisen. Die campingstühle werden am ende meist stehengelassen, manchmal auch der müll.

Graduelle unterschiede zwischen veranstaltungen bestehen und spiegeln die verschiedenen selbstbilder der jugendkulturen wider. Punkfestivals sind anders als rockfestivals, sind anders als jazzfestivals, sind anders als popfestivals, sind anders als elektro- und goafestivals, sind anders als theater- und artistenfestivals, sind anders als hippiefestivals. Selten wird so deutlich wie sehr wir die art uns zu kleiden und die welt zu interpretieren mit musik verbinden. Jede subkultur besitzt ihre eigene hymne. Musik ist mehr als tonhöhe und takt.

Daher hatte sich das sziget festival schon bei der planung meines sommers als eine vorgestellte absolute verschmelzung all dieser festivalerfahrungen in meinem gedanklichen terminkalender eingebrannt. 400.000 menschen, acht tage und 1000 bands, künstler und gruppierungen aus aller welt auf 60 Bühnen, alle musikrichtungen sollten dort vertreten sein. Inmitten der ungarischen hauptstadt, auf einer insel, umspült von der grünlich schimmernden donau. Eine kommune auf zeit inmitten der hauptstadtsroutine. Wir waren gespannt und rechneten ungarische benzinpreise per taschenrechner in euro um. Das ticket sollte 140 euro kosten. Im vergleich zu westeuropäischen preisen wahrlich ein schnäppchen.

Feiern auf einer donau-insel

Wir wären nicht gefahren, wenn wir nicht zwei tage vor beginn des festivals unsere mitfahrgelegenheit gefunden hätten. Ein großer grüner selbstgebauter wohnwagen mit toilette, herd, dvd-player, musikanlage und bildschirm. So luxuriös kann geplantes aussteigen auf zeit sein. Wir kauften unser ticket erst vor dem eingang, auf der brücke, welche insel von festland isoliert. Schwarzmarkt natürlich. Der greenpeace-stand hatte zu viele bändchen bekommen. Ngo-kapitalismus.

Die stadt war etwas heruntergekommen. Prächtige bauten des vergangenen jahrhunderts beschmiert mit grafitti und runzelig geworden vor lauter abgeblätterter fassade. Von weitem betrachtet hätten die selben gebäude jedoch auch in wien, ein stück die donau aufwärts stehen können. Alle wege führen früher oder später über die donau, wie uns schien. Die riesigen brücken schleusen den berufsverkehr durch eine abgaswolke in die stadt. Kontrolliertes stop and go auf der roten welle durch budapest. Überall schlösser und museen. Und katalysatorlose autos in endlosschlange.

Das gelände ist riesig. Irgendwann finden wir die auffahrt zur insel, passieren die kontrollen, die den für die verdachtsbeseitigung offensichtlich deponierten alkohol finden. Wenn man ein auto selbst gebaut hat findet man überall verstecke, die anderen niemals auffallen würden. Wir fahren an parkanlagen vorbei. Das personal lotst uns zum wohnwagenstellplatz. Dann schlafen in der sonne, erholung von der langen fahrt. Sie sagen, wir schlafen mit offenen augen. Als wir aufwachen hat sich die umgebung wieder verändert. Neue autos, bunte zelte. Vor unserem auto hängt eine hängematte und ein junger mann mit zwei dreads schläft mit offenen augen. Die hängematte schaukelt zwischen baum und volkswagen mit belgischem kennzeichen.

Eine biersorte, eine kaffeesorte, eine zigarettenmarke

Ich könnte jetzt weiter erzählen wie jeder einzelne tag verlaufen ist, jedoch denke ich, dass der leser festivals und ihre innere uhr nur allzugut kennt. Das programm war so dick wie eine fernsehzeitung und nach dem aufstehen stellte man tagtäglich fest, dass man in den wenigen stunden schon über 50 bands verpasst hatte. Der input war mörderisch. Also erst einmal kaffee. Und brötchen aus dem supermarkt der nie zu hatte. Für umgerechnet zwei cent das stück. Dazu der vermutlich beste ziegenkäse europas. Auf dem gelände gab es nur eine biersorte, eine zigarettenmarke und eine kaffeeart. Die vertragspartner hatten das alleinige verkausfrecht innerhalb der insel. Es waren zum größten teil französische und deutsche firmen. So als hätten sie ihre zielgruppe bis hierhin verfolgt.

Es gab einen eigenen stand von saturn. Es war ein großes zweistöckigesgebäude mit totschlägern statt elektronischer sicherung an den ausgängen. An einer attraktion konnte man sich mit schokolade übergießen lassen. Mein fahrer stürzte sich mit einer leine an den füßen von einem großen kran. 100 andere folgten ihm an diesem tag im fünf minuten takt. Es hatte etwas von einem jahrmarkt. Am letzten tag hatten viele das festivalshirt an. So wie immer. So wie überall am letzten abend.

Die S-Bahn hatte mehr magie als der headliner

Einen tag verbrachte ich dann doch in budapest und es war wie aus einem raumschiff auszusteigen. Die ruhe, die männer, die an der donau sitzen und sich zum schachspielen trafen. Die familien, die spazieren gingen. Die obdachlosen, die friedlich in der sonne schliefen. Die u-bahnstationen, die nach urin rochen. Es fühlte sich echt an. Im museum für moderne kunst durften wir ohne eintritt zu zahlen passieren. Das festivalticket war gleichzeitig eine kulturflatrate, auch wenn wir die einzigen waren, die durch die geschichte von architektur und design streunten. Schade irgendwie. An der donau entlang s-bahn zu fahren hatte für mich mehr magie als abends dann vor der hauptbühne den headliner zu sehen. Vielleicht werde ich zu alt für sowas. Ich bereue es, die karte gekauft zu haben. 140 euro wären auch für eine woche budapest von der kulturellen seite gut genug gewesen.

Wir lernten viele menschen aus vielen verschiedenen ländern kennen. Eines fiel mir dann jedoch im laufe der tage auf und es machte, dass ich mich schlecht fühlte. Ich traf niemanden aus ungarn. Niemanden. Es wurde englisch, deutsch, französisch, spanisch, niederländisch gesprochen. Aussteiger aus aller welt waren hierhingekommen und lagen nun auf der wiese in der sonne, oder die füße in einer hängematte ausgestreckt, hoch oben in den bäumen. Die schilder waren meist nicht auf ungarisch, sie waren englisch. Auf der hinfahrt hatten wir versucht von einigen alten männern mit zerfurchten gesichtern den weg nach budapest zu erfahren. Sie sprachen nur polnisch, warum auch immer. Ich fühlte mich mit einem mal wie in einem reservat. Und mir wurde klar, dass die budapester uns beobachteten auf diesem gelände in der donau. Unser freigehege für 140 euro.

Das Sziget Festival 2009 vom 12. bis 17. August u.a. mit 08001, Armin van Buuren, Backyard Babies, Birdy Nam Nam, Blasted Mechanism, Bloc Party, Calexico, Coldcut, De Staat, Die Toten Hosen, Disco Ensemble, Donots, Expatriate, Fatboy Slim, Figli Di Madre Ignota,
Guajiro Mirabal, Haydamaky, Jesus Ramos, Klaxons, Manuel Galbán, Matatu, Miloopa, Pendulum, Placebo, Ska-P, Snow Patrol, So Kalmery, Speed Caravan, Squarepusher, Tankcsapda, The Offspring, The Prodigy, The Ting Tings, Tiken Jah Fakoly, White Lies

Vergünstigte Wochentickets müssen bis zum 30. April 2009 (24.00 CET) bestellt werden. Sie kosten: 150 Euro, Ticketpreise ab dem 1. Mai vor Ort: 180 Euro.

13. April 2009

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