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Mittendrin statt dagegen
KULTUR | MIT ÜBERSICHT (15.06.2008)
Von Ronald Hild
Die Europameisterschaft in Österreich und der Schweiz ist in vollem Gange und beherrscht nahezu alle Lebensbereiche. Mittags in der Kantine wird professionelle Spielanalyse betrieben, im Supermarkt gibt’s Deutschlandflaggen für 50 Cent, die dann möglichst auffällig an des Deutschen liebstes Spielzeug drapiert werden. So wird jedes Auto zur Staatskarosse. Widerstand wäre völlig sinnlos - also 'rein ins Getümmel.

Donnerstag Nachmittag, Deutschland spielt gegen Kroatien und könnte mit einem Sieg den Einzug ins Viertelfinale klar machen. Für so ein Spiel bin ich sogar bereit, meine eigentliche Sportliebe Handball mal ausfallen zu lassen. Mit Freunden treffe ich mich in der Moritz-Bastei, Deutschlands größtem Studentenclub, zum Public Viewing. Was uns zum „Öffentlichen Sehen“ verleitet, ist vor allem die Aussicht, mit ein paar Gleichgesinnten stimmungsvoll das Spiel zu erleben. Allemal besser als allein vor dem Fernseher. Es sind sogar noch ein paar Plätze frei, auf denen wir uns niederlassen. Irgendwie fallen wir auf, so ganz in Zivil zwischen all den Ballacks und Polskilinen und den Gesichtern in Nationalfarben.

Geklatscht aus Höflichkeit

Pixelquelle.de, Bild 220580

Schnappschuss beim Public Viewing in Köln. (c) Pixelquelle.de, Bild 220580

„Mit der Nummer 1 im Tor. Jens....“ – „LEHMANN“.... „Die Nummer 4 trägt Clemens...“ – „FRITZ“ „Wo spielt der Lehmann jetzt eigentlich?“ „Ich glaub Chelsea.“ „Nee, hat er, jetzt bei München.“ Ich dreh mich um: „Stuttgart“ – „Und vorher?“ – „Arsenal London“ „Ach ja, Arsenal. Danke.“ Ich nicke freundlich und dreh mich zurück. Torsten, ein Kumpel neben mir, grinst viel sagend. Inzwischen hat das Spiel angefangen. Zu sehen ist ein müder Kick. Geklatscht wird eher aus Höflichkeit.
Als Lehman eine Bogenlampe fängt ohne, dass ein Gegenspieler n der Nähe wäre ruft einer: „Im Tor mit einer tollen Parade unser Jens...“ – „LEHMANN“ „Jens“ – „LEHMANN“ – „Jens“ – „LEHMANN“ „Danke“ – „Bitte“ „Du Arschloch“ zischt einer hinterher. Ui, ein Eishockeyritual. In der 24. Minute dann das eigentlich Undenkbare: nach einer Unordnung im Strafraum erzielt der Kroate Srna das 1:0. „S-R-N-A. Wie spricht man das aus?“ tönt es von links vorne. Bedauern gibt es nur kurz. Nach der nächsten Parade schallt es wieder durch den Raum „Jens“ – „LEHMANN.“ „Jens“...

Es kommt noch besser: In der Reihe vor uns lässt sich eine adrette Dunkelhaarige das Abseits erklären. Leider vom Falschen: „Also, wenn alle Spieler bis auf einen, den von der anderen Mannschaft hinter dem Ball sind, also quasi der eine im Abseits steht..“ Die junge Frau nickt freundlich. „...und dann ein Pass gespielt, ohne, dass ein Abwehrspieler noch dahinter wäre...“ Die junge Frau nickt noch, nicht mehr freundlich „... dann hebt der Linienrichter die Fahne, also wenn er es gesehen und dann pfeift der Schiedsrichter...“ Die junge Frau schaut in eine andere Richtung. Das stört den Abseits-Erklärer nicht im Geringsten. Er führt seine epochale Ausführung fort. Man(n) ist ja schließlich Experte.

Auf der Leinwand ist das Spiel nicht besser geworden, dafür aber gleich Halbzeit. Der Pfiff ertönt und fast zeitgleich springen alle auf, um sich in einer Schlange vor den Toiletten zu versammeln. Wie früher Rauchen auf dem Schulhof ein soziales Ereignis war, scheint jetzt der gemeinsame Klo-Besuch das verbindende Element zu sein.

"Wo trinken wir weiter?"

Pünktlich zur zweiten Halbzeit sind fast alle wieder da. Und auch das Spiel läuft in bekannten Bahnen. Deutsche Ideenlosigkeit vs. Kroatische Konter. Mit Geschick und viel Glück schaffen die Kroaten in der 62. Minute das 2:0. Torschütze Ivica Olic, der beim HSV spielt, aber das wissen aus dem Raum vielleicht zehn Leute. Macht aber nichts, die deutsche Party geht weiter, auch wenn vielleicht einigen dämmert, dass wir das Spiel verlieren könnten.
Schweini zeigt nach seiner Einwechslung gute Ansätze, während Odonkor komplett abfällt, aber egal, der „kann ja so schnell rennen“ und „außerdem ist der ja sooooooooo süß.“ Mein Kumpel Torsten nimmt eine unnatürlich krampfhafte Haltung ein. Von hinten fragt jemand: „Gegen wen ist eigentlich das nächste Spiel?“

In der 79. Minute gelingt es Prinz Peng, das Chaos der Kroaten zu nutzen und mit einem wunderschönen Volleyschuss den Anschlusstreffer zu erzielen. Poldi jubelt kaum, im Gegensatz zur Fangemeinde vor der Leinwand. Applaus, Klatschen „Luuukaaaaaas“ – „PODOLSKI“. Nach weiteren gut zehn Minuten zwischen Hoffen und Bangen ist das Spiel zu Ende – Deutschland verliert nach schwacher Leistung 1:2 und muss ums Weiterkommen bangen.
Ich blicke mich um und denke, dass der sportliche Aspekt hier eher 'ne untergeordnete Rolle spielt. Traurig scheint kaum einer zu sein. Nach dem Spiel ist vor dem Spiel! „Wo trinken wir weiter?“ ruft jemand durch den Raum. 2006, die Heim-WM im eigenen Land war ein Volksfest, völkerverbindend, sommerlich, traumhaft...
Jetzt bei der EM wird versucht, dieses Gefühl wiederzubeleben, die Stimmung, die Emotionen. Fußball ist zum Partyevent geworden, längst nicht mehr nur Sport. Fußballfan kann jeder sein, es ist praktisch en vogue. Es gehört ja auch nicht viel dazu, ein bisschen Farbe, ein Fähnchen, den EM-Song von Olli Pocher auf dem Ipod...
Es scheint egal zu sein, wer gewinnt, wer spielt, wie die Regeln sind. Hauptsache Party. Oh (Fußball)-Gott.... gib Kraft.
   





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