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POLITIK | KURZGESCHICHTE (15.07.2008)
Von Katharina Nocun
Mein Freund rettet die Welt, jeden Tag. Und er sagt, er tut das auch für mich, jeden Abend. Und immer wenn er nach Hause kommt und sich in meinen Sessel fallen lässt, erschöpft von all dem Retten, dann frage ich ihn, ob er erfolgreich war. Erfolg. Das ist wichtig für ihn, beim Retten der Welt. Der Welt wegen, wie er es sagt. Denn darum sollte doch alles gehen.

Eines Tages, hatte ich frei und ich hatte Zeit, um ihn dabei beobachten zu können, ganz still und heimlich. Ich kam zu einer Kundgebung gegen etwas, dass von einigen nicht erwünscht war, wie es schien. Streng genommen war es zwar nicht die Rettung der Welt, aber zumindest ging es um eine strittige Frage, die an diesen Tagen im Stadtrat hitzig diskutiert wurde. Die Zeitungen hatten darüber berichtet, die Parteien und Gruppen Stellung bezogen. Sogar Kleinkinderkrippen hatten politisch Farbe bekannt, da es um die Gehälter der Erzieherinnen ging.
Es hat geregnet, wir waren nicht viele und ich hoffte, er würde meine rote Kapuze erkennen und die Art wie ich nervös von einem Fuß auf den anderen wippe. Ich hoffte, er würde mich inmitten der gestauten Passanten erkennen und mir zulächeln. Er stand auf der kleinen Bühne, einen abgenutzten Zettel in der Hand. Gestern hatte er noch bis tief in der Nacht mit gerunzelten Augenbrauen davor gesessen und sich mit mir beraten. Ich war müde und wollte einfach nur noch schlafen, fing an beim Sprechen das Denken zu lassen.
Abends überkommt einen früher oder später die Polemik. Letztendlich sagte ich etwas und er jauchzte und schrieb es auf diesen Zettel. Ich war stolz, denn es kam von mir und würde nun durch seinen Mund von dieser kleinen Tribüne erst durch Mikrofon, die Kabel, die Kabeltrommel und schließlich durch den Lautsprecher hinunter ins Volk gerufen werden und von da heraus in die Welt. Ach ja, die Welt. Deshalb waren wir ja alle hier.
Die Welt aus Kopfsteinpflaster. Die Welt aus unter Regenschirmen geduckten Köpfen. Die Haare der Welt kräuselten sich vor lauter Feuchtigkeit und alle Welt bereute es, keinen Schirm eingepackt zu haben, als man das Haus verließ. Er stand da, die Bühne war fast unsichtbar im Platzregen, und die Zuhörer auch.
pixelio.de/ S. Hofschlaeger

Die Rede: Einer redet, die anderen hören zu - oder weg. (c) pixelio.de/ S. Hofschlaeger

Sein rechter Fuß wippte ein wenig, wie er es immer tut, wenn er aufgeregt ist. Einige begannen ihren Weg weiter, die Fußgängerzone hinab zu schlendern, einige blieben kurz stehen. Einige nahmen Flyer an, die herumgereicht wurden und überflogen sie genauso eilig, wie auch oberflächlich. Es war eine rege Fluktuation, beschleunigt durch den nun aus allen Wolken platzenden Regen. Ich versuchte diese deprimierende Umgebung zu ignorieren. Versuchte mir vorzustellen, ich stünde nicht vor dem Rathaus, das wie ein Lebkuchenhaus aussieht und neben mir wäre nicht die reiche-Leute-Einkaufsstraße, die wie eine makabere altdeutsche Attrappe wirkt. Ganz so, als wären keine Häuser hinter den Fassaden, sondern rechteckige Fabrikhallen aus Wellblech und PVC. Ich fühle mich hier stets unwohl. Die Menschen sind zu gut geschminkt und angezogen, als dass ich mich gut fühlen könnte. Er sprach und seine Stimme tönte über den Platz, aus dem Verstärker und den Lautsprechern heraus.
Der Regen trommelte. Ich zitterte vor Kälte und war froh, dass ich meine rote Kapuze hatte. Er sah mich und lächelte, aber anders, abwesend. Er sprach über das hier und jetzt, die Ordnung und die Zukunft, wie sie sein könnte. So ganz ohne Regen. Und er schaute dabei in den Himmel, er sah gut aus in seinem schwarzen Kaschmirmantel mit dem Wollschal, wie ein Intellektueller, wie jemand, der Reden halten sollte. Ich klatschte bis meine kalten nassen Finger kein Gefühl mehr in sich bargen als er fertig und die Versammlung offiziell beendet war. Danach kam er nicht in meine Richtung auf mich zu.
Er musste erst einige Hände schütteln. Die Redner, der größte Pulk in der Menge, schüttelten sich selbst gegenseitig die Hände, gratulierten sich gegenseitig zu den wirklich gut gelungenen Reden. Schultern wurden geklopft und Zigaretten geraucht. Die Männer kannten sich, und Männer waren
es alle. Einige hatten Wollschals, andere schwarze Schirme. Ich stehe da und warte, rauche eine Zigarette und schaue meinem Freund zu, wie er die Welt rettet, in dem er mit der Kamera spricht und die Reporterin anlächelt. Als sie fertig ist, scheint er mich erst zu bemerken und stellt sich neben mich, lächelt mich auf die selbe Weise an. „Und, warst du erfolgreich?“, fragte ich ihn dann später abends zu Hause, als er sich in meinen Sessel fallen ließ.
„Ja, allerdings, die Abendzeitung war da, die Lokalzeitung auch.“, seufzte er und ließ sich noch
tiefer in die Polster sinken. Sein Gesichtsausdruck gab nun völlige Zufriedenheit wieder. „Und die Menschen?“
„Es hätten natürlich mehr sein können, aber der Regen, weißt du. Der Regen. Natürlich haben wir auch zu wenig Werbung gemacht. Na ja, kann man jetzt auch nichts mehr dran ändern. Hauptsache wir sind in den Medien präsent. Denn wer in den Medien ist, ist auch in den Köpfen der Menschen angekommen.“
Er nahm eine Zeitung und blätterte im Regionalteil herum, wie er es jeden Abend zu tun pflegt.
„Wie viele Flyer habt ihr denn unters Volk bringen können?“
„So um die einhundert.“
Er war bei den Bestattungsanzeigen angekommen. Ich sah es an den schwarz-weißen Blumenbildern in Großformat. Die Stadt ist eine wohlhabend mit Großformat-Todesanzeigen.
„Nur einhundert Flyer. Hmmm... das ist wenig.“
„Es ging nicht anders“
„Hattet ihr denn keinen, der plakatiert oder verteilt hat?“
„Nein, die mussten doch alle ihre Reden fertig schreiben, sonst hätte es keine Kundgebung
gegeben.“
   





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