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Jack, the Wolfskin
KULTUR | KURZGESCHICHTE (09.02.2009)
Von Katharina Nocun
Eine Studentin kann sich am Tag nach der Party offenbar an so gut wie nichts mehr erinnern. Mit einem jungen Mann soll sie getanzt haben. Dabei war sie sturzbetrunken; blaue Flecken an den Beinen. Später begegnet sie dem Typen wieder...

Mein Fahrrad war einmal mehr seit Wochen verschwunden, daher musste ich den Bus nehmen. Schneematsch lag auf den Straßen und der Weihnachtsmarkt sorgte wie immer für eine Viertelstunde Verspätung.
Ich las wärend der Fahrt ein Buch. Japanische Literatur der späten Siebziger. Als wir den Aegidimarkt passierten, verbrannte des Protagonisten alter junger Freund gerade den Brief seiner Jugendliebe, um auf diese Weise nie erfahren zu müssen, wie ihre Gefühle auf das Vergangene bezogen, auf ihn bezogen, wirklich waren. Um nie zu wissen, wie es wirklich war, weil es manchmal einfacher ist, eine bewusste Entscheidung des Verlassens, einen einfachen Strich zu ziehen, als vom Schicksal gezogen zu werden. In eine Richtung, die zu wählen man selten in der Lage ist. Unwissenheit wurde hier als besondere Form der Mündigkeit dargestellt, als bewusste Entscheidung. Japanische Literatur dieser Zeitperiode ist gelinde gesagt etwas gefühlsdramatisch.

Alte Dame im Bus regt andere auf

Als wir den überbevölkerten Aegidimarkt passierten, begann die alte Frau, die am Domplatz bereits schräg hinter mir saß, sich mit dem jungen Herren hinter mir zu unterhalten. Fahrradfahren in Münster, ein nie enden wollendes Thema, wie mir scheint. Die anfänglich harmlosen Anekdoten mündeten in der detaillierten und entrüsteten Beschreibung eines Unfalls, verursacht durch einen jungen Mann und seine zwei Beifahrerinnen um die zwanzig. Wahrscheinlich haben sie rumgealbert, wahrscheinlich haben sie nichts gesehen, waren unaufmerksam, so die Vermutung der alten Dame.
Die Polizei sagte später, sie selbst habe die Vorfahrt missachtet. Keine Rechte hätte man mehr heute, schimpft sie. Der junge Mann stimmte ihr zwar nicht zu, doch er zweifelte ihre Aussagen auch nicht an. Relativierte nur am Rande, wie man es bei alten Menschen, deren Fähigkeit zur Einsicht begrenzt scheint, oft zu tun pflegt. Sie fuhr fort, regte sich auf, die Stimme wird bestimmter, so gar nicht zur fortgeschrittenen Gebrechlichkeit und dem Alter passend. Ich wollte mich umdrehen und sie anschreien, was das denn solle, sich erst nicht an die Verkehrsregeln zu halten und dann zu behaupten, man habe keine Rechte, wenn sie ihre Pflichten als Verkehrsteilnehmer nicht einmal kenne. Dieses Pauschalisieren alter Leute, die junge Leute des Vandalismus und mutwilligen Rowdietums beschimpfen, regt mich jedes mal auf.
Fast vergaß ich darüber in Gedanken hinter den Augen herzulesen und ich führte mir den Abschnitt noch einmal zu gemüte. Der besagte Brief wurde im fernen Japan gedanklich noch einmal auf dramatische Art und Weise verbrannt. Ich drehte mich langsam um, als die alte Hexe wieder an Fahrt gewann, auf der Höhe der Mensa, wollte etwas sagen und schwieg dann doch.

Hinter mir, jemand, den ich kenne

Hinter mir, schräg, saß jemand, den ich kenne. Wir sind im selben Kurs. Als er aufstand, an der Polizeischule, erklärte er, der immer noch aufgebrachten, jetzt wieder gebrechlichen alten Frau, wo sie aussteigen müsse und verabschiedete sich höflich. Als wir das Gebäude betraten, hielt er mir die Tür auf, blieb an einem Partypromostand stehen, während ich zu meinem Seminar eilte.

Dr. Graefs hatte schon angefangen. Mit seinen Sandalen, seiner Hornbrille und seinen leicht grauen Haaren, dem ewig zerknittertem Hemd, steht er schon da und gestikulierte wild mit den Händen. Ich nehme einen Stuhl aus dem Nebenraum, bugsiere mich zwischen Graefs und Tür, am Tisch. Lars lächelt mich an. Mir ist nicht nach Zurücklächeln zumute, ich starre auf das karrierte Blatt, denke nach, ohne zu denken. Wechsel den Fokus und betrachte einen kleinen Ballen Papier auf karriertem Grund. Einige Minuten später kommt der junge Mann aus dem Bus und setzt sich direkt neben mich, leicht nach vorne gebeugt, mit einem Kaffee in der Hand. Auf seiner Jacke, die er nicht abnimmt, steht Jack Wolfskin, ein Wolfskopf lächelt mir zu. Ich schaue seinen schwarzen Haarschopf an, kann ihm nicht in die Augen sehen. Wir kennen uns, wie ich bereits erwähnt habe.
Graefs referiert über Sicherheitsgefühl und sozialen Hintergrund, schreibt immer wieder euphorisch Dinge an die verschmierte Tafel. Dinge, die ich abschreibe in kleiner Ameisenschrift. Mir scheint es nicht gut zu gehen, denke ich, wie außerhalb von mir. Große Gedanken auf engem Raum. Die Lüftung ist seit dem letzten Sommer ausgefallen und die Oberlichter versorgen nur die hintersten Reihen mit einer ausreichenden Menge Sauerstoff. Dieses Weiß der Wand brennt sich in mein Gehirn ein zusammen mit dieser Schrift. Dr. Graefs ist nun beim Bedrohungspotential des äußeren Erscheinungsbilds angelangt, bei Alter, Geschlecht und Fähigkeit zum Kampfsport. Mukido-können. Der Kurs lacht.

Der Kurs lacht

Dann wendet er sich an den jungen Mann neben mir. Wenn jetzt jemand mit einer großen Statur, stehen sie einmal bitte auf. Er ist über zwei Meter groß, bullig, überragt Dr.Graefs um Köpfe. Er lächelt sein breites Zahnpastalächeln und verleiht seinem Täterprofil so eine feine Prise wohldosierter Ironie. Wenn jetzt so jemand auf mich zukommt und ich kann kein Mukido. Der Kurs lacht, beide lachen. Wenn jetzt jemand wie sie, er sieht mich erwartungsvoll an, Augen durch Hornbrillengläser, und doch... wenn jetzt so jemand, doch ich stehe nicht auf, will nicht neben ihm stehen, vor allem nicht als Vorzeigeopfer für den Kurs... Wenn jetzt so jemand dort steht, überlegt man sich das mit dem Mukido. Der Kurs lacht einmal mehr. Ich lache nicht. Ich kenne den jungen Mann, wie ich bereits erwähnt habe. Er ist einer der Gründe, warum ich keinen harten Alkohol mehr trinke.
K. Noucon

Bestellung: Ein Pils, eins geht noch. (c) K. Noucon

Ich erinnere mich an den Tag nach der Fachschaftsparty Jura, wie ich damals aufgewacht bin in meinem Bett, morgens um zehn, immer noch betrunken und halb bewusstlos und mich nicht erinnern konnte, warum meine Knie so dunkelblau und rot waren. Woher all die blauen Flecke kamen, die Oberlippe blutig, vielleicht bin ich das selbst gewesen. Die blauen Flecken auf meinen Beinen. Die Handabdrücke auf dem linken Oberarm, jeder Finger ein dunkelblauer, rötlich schimmernder Fleck. Ich erinnere mich nicht mehr. Es dauerte Wochen, bis sie verschwunden waren, vor allem die Blutergüsse hielten sich hartnäckig. Doch die Erinnerung an den Abend kam und kam nicht zurück. Dies war der einzige Filmriss, den ich jemals hatte.
Sebi hatte diese zwei Liter Flasche Wodka. Und der junge Mann und ich, wir haben wohl getanzt, das wurde mir erzählt, ich sei hingefallen, sagte man mir. Aber hinfallen alleine und all die blauen Flecken erscheint mir irgendwie nicht den ganzen Abend, die ganze Lücke füllen zu können. Ich weiß es nicht mehr, weiß nicht mehr was ich tat, was er tat. Weiß, dass irgendwann Jule und Sonja und Sebi mich in ein Taxi brachten, mir halfen zu laufen, weil ich es alleine nicht konnte. An jenem Abend tanzten wir, der junge Mann und ich, das wurde mir erzählt und daher wohl all die Blutergüsse.
In der Woche darauf grüßte er mich vor der Uni und ich fragte mich, ob wir uns kennen würden und Sonja sagte, ich solle mich fern halten von diesem, wie sie es sagte, brutalen Typen. Sie sagte es nicht, sie schrie schon eher, hinter dem netten jungen Mann her. Wie er mich behandelt habe, als ich betrunken war. Ich weiß es nicht mehr, ich erinnere mich nicht, sagte ich immer wieder. Ich konnte ihre Entrüstung nicht wirklich teilen, ich wusste nicht, was geschehen war und wirklich erzählen konnte sie es irgendwie auch nicht. Für mich war das alles nicht passiert, was auch immer passiert war. Denn ich weiß es nicht. Ich weiß es nicht. Er erschien mir nicht bedrohlich, eher wie ein großer Teddybär. Ich ließ das Denken denken sein und die Blutergüsse verschwanden allmählich wieder aus meinem Blickfeld.

Kriminalität definieren

Er setzte sich wieder, nachdem die kurze Demonstration körperlicher Überlegenheit beendet war und ich schaute zur Seite, aus den Augenwinkeln, und sah Jack Wolfskin auf seiner Jacke stehen. Dr.Graefs war wieder in sein liebstes Thema, die Definition von Kriminalität vertieft. Wir sollten einen Einblick in den von kriminellen Gefahren durchwirkten Alltag der Unterschicht bekommen. Ihre Probleme repräsentierten schließlich nicht das Umfeld, in dem die meisten von uns Mittelschichtskindern aufgewachsen sind. Meine Gedanken schlugen an der nächsten gedanklichen Abzweigung andere Wege, als die des Dozenten ein. Wie ein ordentlicher junger Mann wirkte er, hilfsbereit zu alten Damen. Ich weiß, warum ich ihm nicht in die Augen schaue. Denn mag sein, dass er mehr weiß als ich und ich will es ehrlich gesagt nicht mehr wissen, woher die Blutergüsse kamen, ob ich es war, die hingefallen ist, was er getan hätte, wären meine Freunde ohne mich gefahren. Hätte meine Freundin nicht gesagt, man müsse mich dort wegholen, was in den Stunden, an die ich mich nicht erinnere, passierte. Ich war offensichtlich nahe an der Bewusstlosigkeit, nicht zurechnungsfähig, und doch tanzte er mit mir. Dieser nette junge Mann mit dem schwarzen Haar.

Später fragte er mich nach der Demo, sagte, wie als wären wir verabredet gewesen, er hätte leider nicht kommen können. Wie zur Entschuldigung, wofür weiß ich nicht. Er erzählte mir von einem neuen Skandal in der Presse und ich hörte zu und nickte, regte mich auf, wie ich es immer tue und er war so engagiert und interessiert und bedauerte so sehr, dass er nicht gekommen ist. Und ich schwieg, ließ das Gespräch im Sand verlaufen, hörte Dr.Graefs mir das Wort erteilen, regte mich auf, schaute in nickende Gesichter, die Diskussion wurde auf morgen vertagt und ich verließ als eine der ersten den Raum, rannte zum Bus, wieder die Zehn, in der Hoffnung ich würde ihm dort nicht mehr begegnen, vertiefte mich wieder in mein Buch, ließ meine Gedanken in Richtung einer fernen Stadt in Japan schweifen, in der jener alte junge Freund Hondas die Wahrheit nicht erfahren wollte. Weil es einfacher so war.
9. Februar 2009

   





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