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Streikwelle schwappt über Grenzen
GESELLSCHAFT | HOCHSCHULE INTERNATIONAL (12.11.2009)
Von Olaf Götze
Die Ereignisse in Europa überschlagen sich derzeit. Von Stunde zu Stunde gibt es neue Meldungen von Studierendenprotesten. Ausgehend von der Lage in Münster gibt iley einen Überblick:

Die Studierenden aus Münster hat die Räumung des Audimax nicht verschreckt. Sie ändern stattdessen ihre Taktik. Sie kündigen weitere „Uni-Aneignungen“ an. Die Rektorin zeigte sich beeindruckt und sperrte kurzerhand das Schloss ab. Alle Veranstaltungen mussten aus dem repräsentativen Uni-Gebäude verlegt werden. Die temporäre „Aneignung“ eines leeren Hörsaals fand dennoch statt, mit dem Ziel freie Bildung in Form eines gemeinsamen Workshops zu realisieren. Auch ein Polizeiaufgebot konnte die AktivistInnen nicht daran hindern. sich diesen Freiraum einfach zu nehmen.
Dabei haben es die Bildungsstreik-AktivistInnen gar nicht allein auf das Rektorat abgesehen. Man erhofft sich zwar von hier aus Unterstützung für die Abschaffung von Studiengebühren oder der Anwesenheitspflichten in Vorlesungen und Seminaren, doch viele Forderungen der Studierenden richten sich ebenso an Landesregierungen und den Bund oder die eigenen Fachbereiche. Am 10. Dezember wollen sie gemeinsam gegen die Kultusministerkonferenz in Bonn demonstrieren.

Bildungsstreik gewinnt an Fahrt

Bis vor wenigen Wochen stand der „heiße Herbst“ im Bildungsstreik noch in den Sternen. Zwar gab es bundesweite Vernetzungs- und lokale AktivistInnentreffen, doch die Zahl der Menschen, die sich konkret einbrachten, hielt sich in Grenzen. Für den 17. November waren zahlreiche Proteste – europaweit – neben Deutschland besonders auch in Italien und Frankreich angekündigt, doch zu sehen war davon noch nichts. Dann machten die Österreicher, allen voran die Akademie der Bildenden Künste und die Universität Wien den Anfang. Sie besetzten im Anschluss an eine Demonstration kurzerhand den Audimax, den größten Hörsaal der Universität. Diese couragierte Aktion stellt den Startschuss für die Bewegung unter dem Titel „Uni brennt!“ dar. Seitdem breitet sich die Welle des Protestes über ganz Europa aus.

Schon 15 Hochschulen dabei

Die Münsteraner waren eine der ersten, die einen Audimax in Deutschland besetzten. Seitdem werden es täglich mehr. Die Heidelberger Studierenden, sie waren bereits im bundesweiten Bildungsstreik im Juni Vorreiter, besetzen nun seit mittlerweile einer Woche Hörsäle an der Universität. Auch an der Universitäten Potsdam, Marburg, Darmstadt, Tübingen und der Akademie der Bildenden Künste München eigneten sich Studierende Universitätsräume an. Und bisher mussten nur die Marburger durch eine Räumung erzwungen und die Darmstädter auf Druck des Rektorates wieder abziehen.
Dagegen kamen seit Wochenbeginn zahlreiche neue Hochschulen hinzu, so dass sich mittlerweile tatsächlich von einem Flächenbrand „Uni brennt“ sprechen lässt. Per Livestream lassen sich beispielsweise die beiden Audimaxbesetzungen in Duisburg und in Essen im Internet verfolgen. Auch in Dresden und Greifswald sind Hörsäle besetzt und damit auch zwei ostdeutsche Hochschulen vertreten, an denen es beispielsweise noch keine allgemeinen Studiengebühren gibt. Hinzu kommen die Uni Mainz, die Uni Landau, die Hochschule Niederrhein/Mönchengladbach und die Uni Bielefeld. Die Studierenden der FU Berlin beschlossen auf einer Vollversammlung mit etwa 500 anwesenden Studierenden die Besetzung des Hörsaales 1a.

Proteste in England – „Come clean on Fees“

Bereits zu Beginn der Proteste erreichten die Audimax-Protestler Solidaritätserklärungen aus ganz Europa. Beispielsweise von Studierenden der Universität Lublin in Polen, mit denen auch eine Live-Schaltung zustande kam. Es steht dennoch zu erwarten, dass sich die Proteste weiter ausbreiten. Mit der Universität Basel wurde am Mittwoch erstmals eine Hochschule in der Schweiz besetzt. Ebenfalls Proteste, insbesondere gegen die immer weiter ansteigenden Studiengebühren „Tuition Fees“, erreichen langsam auch englische Städte. In Birmingham demonstrierten am Mittwoch Hunderte Studierende gegen die missliche Lage an den Hochschulen und im Bildungssystem. In weiteren englischen Städten werden derzeit Proteste geplant, so ein Kommentator eines lokalen Fernsehsenders. Dort findet sich die Bewegung unter den Titeln „Fund our Future“ oder auch „Come clean on Fees“ und gleichnamigen Twitter-Kanälen. Auch in der Niederländischen Universitätsstadt Utrecht starteten Studierende diese Woche Solidaritätsaktionen. Da auch die italienischen und französischen Studierenden für den 17. November Proteste angekündigt haben, ließe sich beinah schon von einer europaweiten Bewegung sprechen. Was die Studierenden verbindet, sind die verstärkten ökonomischen Zwänge, die auf die Hochschulen durchschlagen. Die dagegen gerichtete „Global Week of Action“ („Education is not for sale“) findet Anhänger in der ganzen Welt. Auch die University of California ist seit zwei Wochen besetzt.

Europa-Bolognese vereint Studierende

Der Bologna -Prozess lässt sich auffassen, als eine Reform, die im Sinne der Studierenden zu mehr Vergleichbarkeit der Studiengänge und zu einheitlicheren Regelungen für das Hochschulstudium führen sollen. Doch nahezu zeitgleich mit dem Bologna-Prozess wurde die sogenannte Lissabon-Strategie initialisiert, welche Europa im Jahr 2010 zu dem wettbewerbsfähigsten und dynamischsten, wissensbasierten Wirtschaftsraum der Welt entwickeln möchte. Damit wird der Bologna-Prozess in eine wirtschaftliche Entwicklung eingebunden, welche an den Hochschulen zu einer Kommerzialisierung der Bildung führt. Diese wirkt sich europaweit gleichzeitig in zum Teil sehr ähnlichen, zum Teil unterschiedlichen Formen aus. Es werden Studiengebühren eingeführt, Hochschulräte mit externen Mitgliedern eingesetzt und demokratische Mitbestimmungsrechte ausgehebelt. Zugangsbeschränkungen werden verstärkt und in einigen Ländern auch Fördermaßnahmen zur Studienfinanzierung gekürzt. Die Lehre wird zunehmend nach Marktinteressen ausgerichtet und kritische Institute sind von Schließung bedroht. Darüber hinaus werden Studiengänge verschult und der Druck zum zügigen Abschluss beispielsweise durch neue Exmatrikulationsregelungen und Zugangsbeschränkungen zum Masterstudium verstärkt.

In den Protesten sehen die Bildungsaktivisten die Chance, diese Entwicklung zu stoppen. Dabei lassen sich die Studierenden bisher auch nicht gegeneinander ausspielen. Obwohl die österreichischen Universitäten derzeit angesichts ihrer geringen Zugangsbeschränkungen ein massives Problem mit deutschen Studierenden haben – in Salzburg alleine studieren 3000 Deutsche – fordern die BesetzerInnen weiterhin Zugang zur Hochschule für alle. Mit einem gestärkten Bewusstsein für gemeinsame Ziele, sollte es möglich sein, diese auf europäischer Ebene zu artikulieren. Dabei helfen können Vorhaben, wie der Europäische Studierendenkongress von BildungsaktivistInnen Anfang Juni 2010 in Bochum.

UPDATE: Bis 24 Uhr des 11. November befinden sich auch die Hochschulen Uni Göttingen, Uni Hildesheim, HU Berlin, LMU München, Uni Hamburg, Uni Würzburg sowie die FH Coburg im Streik mit Besetzungsaktionen.
   






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