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Schulden machen, um Schulden abzubauen
WIRTSCHAFT | HINTERGRUND III (11.08.2012)
Von Frank Fehlberg
Was für Ottonormalverbraucher undenkbar erscheint, ist für Paul Krugman das wirtschaftspolitische Gebot der Stunde: Schulden machen, um Schulden abzubauen.

Viele Staaten stehen durch Jahrzehnte der Verschuldung und vor allem zuletzt aufgrund der "Rettungsschirme" in der Finanzkrise tief in der Kreide. Ihr Interesse ist es daher grundsätzlich, eine ausgeglichene Haushaltspolitik anzustreben. Die derzeitige Wirtschaftslage zwingt die Staaten nach Krugman aber dazu, Schulden mit Schulden zu bekämpfen. Für eine Rechtfertigung dieser Haushaltspolitik müsse man die Staatsschulden in das Verhältnis zum Bruttoinlandsprodukt (BIP), dem Jahres-Gesamtwert aller Güter und Dienstleistungen innerhalb einer Volkswirtschaft, setzen.

Hohe Staatsverschuldung kein Hindernis für aktive Wirtschaftspolitik


photocase.com / ig3l

Krugmans Logik: Wenn die Wirtschaft wächst, wachsen die Steuereinnahmen, umso einfacher sind die Schulden zu händeln. (c) photocase.com / ig3l

Die wirtschaftlichen Gefahren einer hohen Staatsverschuldung wirken aus dieser Perspektive weit weniger gefährlich - wenn die Wirtschaft wächst, wachsen die Steuereinnahmen, umso einfacher ist die laufende Bedienung der Schulden. Die Zins-Steuer-Quote, die das Verhältnis der Steuereinnahmen zum Zinsdienst an der Staatsverschuldung angibt, sagt mehr über die tatsächliche Belastung eines Staates aus als beängstigende absolute Zahlen. Die Neuaufnahme von Staatsschulden für die direkte Ankurbelung der Wirtschaft ist ein notwendiger Schritt, um die vorhandenen Schulden überhaupt auf ein verträgliches Verhältnis zu bringen.

Doch wird mit den absoluten Schuldenzahlen und mit der entsprechenden betriebswirtschaftlichen Fehlinterpretation des makroökonomischen Einnahme-Ausgabe-Prinzips der Druck vor allem auf die Krisenländer in Europa erhöht. Hier seien aber nicht die Schulden an sich das Problem, sondern verfehlte Wirtschaftspolitik und die Finanzkrise. "Europas große Täuschung besteht in dem Glauben, dass die Krise durch unverantwortliche Haushaltsführung zustande kam. […] Die Schulden explodierten erst mit Beginn der Krise." Übereilte Währungsunion, Spekulationsblasen (z.B. die spanische Immobilienkrise), Bankenrettung und galoppierende Kürzungspolitik - hier sieht Krugman vor allem die Gründe für die Misere in Europa.

Alternative: Dauerrezession


Würde das Augenmerk statt auf die hochgeschnellten aktuellen Zinsen für Staatsanleihen (Geldbeschaffung der Staaten an den Märkten) auf die Entwicklung der Realwirtschaft gelegt - den Menschen in Südeuropa wäre mehr geholfen als mit Vorwürfen, sie hätten über ihre Verhältnisse gelebt. So aber drohen sie das Opfer einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung zu werden: "Aus Angst vor einer Zahlungsunfähigkeit meiden die Anleger die Anleihen eines Landes und provozieren damit genau die befürchtete Zahlungsunfähigkeit."

Dass die Euro-Staaten bis heute ihr Geld indirekt über private Investoren beschaffen müssen anstatt dass die Europäische Zentralbank (EZB) ihre Anleihen aufkauft, ist für den US-Amerikaner Krugman ein verschärfendes Element der Krisenpolitik. Die US- aber auch die Britische Notenbank behalten die Gefahr von zu hohen Zinsen auf Staatsanleihen seit jeher mit möglichen Eigenankäufen im Griff. Dieser Umstand lässt auch den wirklichen Charakter von Staatsschulden hervortreten: "Letztlich sind Schulden nichts anderes als Geld, das wir uns selbst schulden […] denn die Schulden der einen sind das Einkommen der anderen", so Krugman, wenn man von der Staatsverschuldung im Ausland einmal absieht.

Der Staat ist als wirtschaftlicher Akteur nicht als privates Unternehmen zu betrachten, das irgendwann zahlungsunfähig ist und pleite gehen kann. Er ist vielmehr der Bürge der Gesamtschulden, der mit weiteren Schulden die Realwirtschaft beleben und den privaten Schuldnern ihre Tilgungsverpflichtungen verträglicher gestalten kann, "denn nun sind diejenigen Akteure entlastet, deren Verschuldung tatsächlich wirtschaftlichen Schaden anrichtet." Krugman weiter: "Die Alternative wäre eine Dauerrezession, die das Schuldenproblem nur weiter vergrößert." Das historische Beispiel einer erfolgreichen Ankurbelung der Wirtschaft durch den Staat sieht Krugman allerdings ausgerechnet in den Rüstungsprogrammen, mit denen die USA ab 1940 in Richtung Krieg umschwenkte.

Keine Chance für Küchenpsychologie und Hausfrauenökonomie


Die staatliche Übernahme auch von privaten Schulden - wie bei der umfangreichen Rettung des casinoähnlichen Finanzbetriebs (nach Keynes) oder zum Ausgleich der schlechten Steuermoral wie in Griechenland - stellt für Krugman aus makroökonomischer Sicht kein Problem dar. "Natürlich wäre jede Lösung in gewisser Weise eine Belohnung für frühere Exzesse - aber die Wirtschaft ist keine Moralfabel." Die Sparappelle des deutschen Finanzministers Wolfgang Schäuble - ganz auf der Linie der Selbstgeißelung im Finanzmarktinteresse - hält Krugman für die verkehrteste Reaktion, da weniger auszugeben letztlich nur heißt, auch weniger einzunehmen und die Krise der Realwirtschaft zu verlängern. Die Realwirtschaft als Motor des Vehikels Volkswirtschaft habe keinen irreparablen Schaden oder "Strukturprobleme", die man mit "Flexibilisierung" der Arbeitsverhältnisse und Privatisierung von öffentlichem Eigentum beheben müsse. Lediglich die Fahrzeugelektrik der Volkswirtschaft sei ausgefallen - und wenn die Batterie defekt sei, werde ja nicht der ganze Motor ausgewechselt.
   





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