Zielobjekt: Student
GESELLSCHAFT | HINTERGRÜNDLICH (15.01.2006)
Von Jörg Rostek | |
"Ein Student ist nichts wert, solange er sein Studium nicht beendet hat", sagt der Volksmund. "Wegen des Irak-Krieges gingen die Leute auf die Straße und wegen Afrika nicht", sagt ein Mitglied der Amnesty International Hochschulgruppe zu Münster. Es ist Montag Abend. Während andere noch über den Beginn einer neuen Arbeitswoche stöhnen, diskutiert die AI-Hochschulgruppe im Dämmerlicht des Café do Brasil, Ecke Hindenburgpkatz, über die Durchsetzung der Menschenrechte. Hier haben Studierende beschlossen, mit Hilfe der weltweit agierenden Menschenrechtsorganisation Amnesty International, ihren Teil zur weltweiten Durchsetzung der Menschenrechte durch Wort und Tat beizutragen. In den Kinderschuhen Die Miglieder effizient einzusetzen ist für die Gruppe eine Herausforderung. Noch immer sind nicht alle Aufgaben verteilt. Ständig werden Zuständigkeitsbereiche an Freiwillige zugewiesen. Und Freiwillige gibt es reichlich. "Wir haben offene Türen eingerannt", sagt Tobias Lemmel, der Zuständige für die Kernaufgaben AI-Hochschulgruppe. Denn: über sechzig Studierende zeigten Interesse, als es im April letzten Jahres galt, eine Abteilung von Amnesty an der Universität in Münster ins Leben zu rufen. Ein unerwartet reges Interesse, das sogar die Initiatoren überraschte. Wer, woher kommt und ob ein Freiwilliger bereits anderswo organisiert ist, spielte dabei keine Rolle. Trotz der organisatorischen Probleme konnte die im April gegründete AI-Hochschulgruppe schon einiges leisten. Neben einem Benefizkonzert und dem Projekt "Open Hair Day 2005" auf dem Kunstrasen vor dem paläontologischen Museum wurde über die Unterdrückung von Studenten im Iran aufgeklärt. Mit mehreren Informationsständen brachte die Hochschulgruppe das Thema Menschenrechte auf Münsters Straßen. Am 10. Dezember, am Tag der Menschenrechte, wurde eine Demo veranstaltet. Leider kamen nur eine handvoll Leute, aber immerhin. Nur "Gutmensch" ist zu einfach Fragt man Mitglieder der Gruppe nach ihren Beweggründen für ihr Engagement, sind diese vielfältig: Als Student habe man noch genug Zeit und die wolle man positiv nutzen. Trotz des Unialltags sei das Interesse an Menschenrechten geweckt worden und es sei "eine tolle Möglichkeit Theorie und Praxis zu verbinden." Außerdem gewinne man durch die Mitarbeit bei Amnesty an Qualifikation (auch für den Lebenslauf), denn gearbeitet werde bei Amnesty mit rein wissenschaftlichen Daten. Das Ziel sei es, mit glaubhaften Quellen zu arbeiten und Fehlinformationen zu vermeiden. Schließlich habe man einen Ruf zu verlieren, der in der deutschen Bevölkerung sehr gut zu sein scheint. Und schließlich sei die Arbeit für die Menschenrechte auch befriedigend und erfüllend und letztlich trage die westliche Welt auch Verantwortung. Da fragt man sich, ob die nahende Einführung von Studiengebühren ein derartiges soziales Engagement von Leuten, die sich wirklich einsetzen wollen, noch zulassen wird. Ein Sitzungsprotokoll Wie sieht nun genau ein Sitzungsverlauf der AI-Hochschulgruppe aus? Nachdem festgelegt wurde, wer das notwendige Sitzungsprotokoll verfassen darf, werden die Tagespunkte festgelegt. Danach hält ein Mitglied der Gruppe einen Vortrag über ein spezifisches Thema, zum Beispiel das Thema Menschenrechte als solches. Es folgt eine ausgedehnte Diskussion und ungeklärte Fragen werden versucht zu beantworten. An wen richtet ein Mensch seinen Anspruch auf Menschenrechte, besonders, wenn er staatenlos ist und deshalb niemanden hat von dem er die Einhaltung seiner ihm angeborenen Menschenrechte einfordern kannt? Sind Bürgerrechte auch Menschenrechte? Schlagwort: lebensverlängernde Maßnahmen, ist aktive Sterbehilfe gegen die Menschenrechte? Oder ist dies gar kulturkreisabhängig? Menschenrechte und Selbstmord, ist Selbstmord ein Menschenrecht? Verletzt die EU durch ihre Politik Menschenrechte? Thematisiert wird auch die Identität von Amnesty. Hat AI ein Identitätsproblem? Die Bearbeitungsqualität liegt hierbei mit der Quantität der Themen im Wettstreit. Ein Dilemma für Amnesty. Kann man sich um alle und alles kümmern, oder überhebt man sich? Deshalb fanden in der Vergangenheit Austritte statt. Einige Mitglieder diskutieren aufgeweckt, andere hören still zu. Plötzlich holt jemand ein Buch heraus und schlägt eine Begrifflichkeit nach. Zu lernen gibt es viel, vor allem wenn man sich bisher nicht mit der Menschenrechtsproblematik auseinandergesetzt hat. "Es geht darum, dass man etwas gemeinsam macht." 25 Personen sind bei der heutigen Sitzung anwesend. "Was in der Generalversammlung der UN beschlossen wird, interessiert niemanden", bricht es aus dem Plenum hervor. Trotzdem ist die Stimmung optimistisch. Die Durchsetzung der Menschenrechte sei eine "Entwicklung", die ihren Lauf nehme, sagt jemand. Und alle scheinen im Stillen zu hoffen, das dies stimmt. "Es geht darum, dass man etwas gemeinsam macht", bekommt man als Besucher der Sitzung zu hören. Sätze wie "man kann sich alles allein beibringen" kommen wie selbstverständlich über die Lippen der Teilnehmer. Stellt sich ein Problem, wird beschlossen einen Workshop zu gründen, um sich das Handwerk zur Problemlösung selbst beizubringen. Trotzdem scheinen Koordinationsprobleme der AI-Gruppen untereinander zu bestehen. "Wir haben ein Ziel und es ist Schwachsinn gegeneinander zu arbeiten", ist der Kommentar aus der Gruppe dazu, und jemand schießt nach: "Wir sollten wissen, was wir wollen." Schließlich soll man feststellen, dass "die Gruppe lebt." Die Münsteraner AI-Hochschulgruppe selbst weiß, dass sie noch in den Kinderschuhen steckt. Man kann sich gut vorstellen, dass alle Gruppen, die sich für eine bessere Welt einsetzen, nach ihrer Gründung, mit den gleichen Problemen zu kämpfen haben. Sie führen nach ihrer Geburt Entwicklungsdiskussionen, die Teil der Entwicklung der Gruppe sind und damit Teil der Gruppenkindheit. Sprich: die Suche nach der eigenen Identität. Und jetzt zum Tagespunkt Ringvorlesung Ein Projekt, das gegenwärtig die Afrika- und Kindersektion der Hochschulgruppe (Ansprechpartnerin: Katrin Schröder) am meisten beschäftigt, ist die geplante Ringvorlesung mit dem Titel "Menschenrechtsverletzung an Kindern in Afrika", die im Sommersemester 2006 an der Uni Münster stattfinden wird. Ziel sei es, die Vorlesungsreihe interdisziplinär zu gestalten. Die Themenliste reicht weit und ist eine Liste der ärgsten Verstöße gegen die Menschenrechte von Kindern. Kinderarbeit, Beschneidung von Mädchen, Kinderarmut, Kinderhandel, Kindersoldaten und sexueller Mißbrauch (auch verübt von Blauhelmsoldaten). Diese und viele weitere Themengebiete sollen von April bis einschlißlich Juli wissenschaftlich aufgearbeitet werden. Es bleibt zu hoffen, dass man auch etwas darüber erfahren wird, wie die Menschen auf dem afrikanischen Kontinent leben und nicht nur wie sie sterben ("Zeigt das wahre Afrika"/Die Zeit, 12.01.06) Zum Zeitpunkt der Veröffentlichung dieses Textes standen elf Referenten fest. Darunter auch bekannte nahmen aus der Münsteraner Lokalpolitik, wie der Bundestagsabgeordnete Christoph Strässer (SPD), aber auch Vertreter von nationalen und internationalen Organisationen wie das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarneit und Entwicklung (BMZ), "Terre des femme" oder UNICEF. Die genauen Termine werden bald in den Vorlesungsverzeichnissen der verschiedensten Institute nachzulesen sein. Auch ist parallel zu den Vorlesungen ein Forum im Internet geplant. Dort wird man dann seine Eindrücke schildern und nach Herzenslust Kritik anbringen und diskutieren können. So, wie man in der Hochschulgruppe darüber diskutierte, ob die Parteimitgliedschaft von Herrn Strässer (SPD) und dem möglichen Referenden Ruprecht Polenz (CDU) den beiden nicht die Möglichkeit gebe, für ihre Parteien Werbung zu machen. Genau das will die AI-Hochschulgruppe nicht zulassen. Zielobjekt: Student Der AI-Hochschulgruppe, deren Ziel es ist bei Studenten das Interesse für die Situation der Menschenrechte zu wecken, scheint das Veranstalten einer Ringvorlesung der direkteste Weg zu sein. Afrika sei als Thema in Münster unterrepräsentiert, so der Vorwurf an die Universität. Man darf gespannt sein, ob die AI-Hochschulgruppe auch im Wintersemester 2006/07 eine Ringvorlesung organisieren wird. Und wenn ja, darf man auch gespannt sein, über welches Gebiet der Menschenrechtsrealität dies sein wird. Wieviele Studenten werden wohl zur geplanten Ringvorlesung erscheinen und sich mit dem unbequemen Thema Menschenrechte in Afrika auseinandersetzten? Die Kellnerin im Café do Brazil, die die AI-Hochschulgruppe bediente, wahrscheinlich nicht. "Ich fliehe lieber vor der Realität", so sagt sie. Und fügt hinzu: "Ich mag keine Bücher, die schlecht ausgehen. Ich liebe Happy-Ends. Politik interessiert mich nicht." Leider scheint die Welt noch meilenweit von einem Happy-End entfernt zu sein. |