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Die unerträgliche Leichtigkeit des Völkerrechts
GESELLSCHAFT | ACH, RUANDA (15.06.2005)
Von Jörg Rostek
Der wichtigste Bestandteil des weltweiten Rechtsystems ist das Völkerrecht. Der wichtigste Bestandteil des Völkerrechts ist der Versuch, das Menschsein zu schützen. Die Verrechtlichung der Menschlichkeit ist ein Produkt des Krieges. Genauer, sie ist das Kind von Gewalt und Vernunft.

Nachdem die Souveränität der Fürsten im Zuge der Französischen Revolution (1789) durch die Souveränität des Staates ersetzt wurde, entwickelte man aus Gründen der Vernunft das humanitäre Völkerrecht für jene Ausnahmesituation, in welcher der Staat zumindest vorübergehend nicht die Möglichkeit hat, seine Bürger wirksam zu schützen. Das heißt im Kriege. Aus jus ad bellum (das Recht zum Krieg) wurde jus in bello (das Recht im Krieg), also Kriegsrecht.

Ruanda im Sommer 1994. In 100 Tagen sterben nach offiziellen Angaben 1.074.017 Menschen. Das sind 10.740,17 Menschen am Tag und 447,51 Menschen pro Stunde. 90 Prozent von ihnen waren Tutsi, 10 Prozent oppositionelle Hutu. Nach der ersten offiziellen, 2002 veröffentlichten Statistik der ruandischen Regierung unter Tutsi - Präsident Kegame waren fast 60 Prozent der Opfer jünger als 24 Jahre, darunter zahllose Kinder und Säuglinge. Sie wurden mit Knüppeln, Hämmern, Schusswaffen und Sprengstoff umgebracht. Die Hutu - Regierung hatte im Vorfeld tausende Macheten aus China importiert. Im März 1995 erhielt das Auswärtige Amt ein vertrauliches Schreiben. Es enthielt folgende Zahlen:

Bevölkerung Ruandas
März 1994 7,8 Millionen
November 1994 5,7 Millionen

Das Wort Völkermord kam in dem Bericht nicht vor.


Vor allem in der 2. Hälfte des 17. Jahrhunderts wurde der Versuch unternommen, den Krieg als solches zu zivilisieren. Es wurden zwischenstaatliche Verträge abgeschlossen, wie etwa die Vereinbarung, Gefangene nicht zu Galeerensklaven und Kinder unter zwölf Jahren nicht zu Kriegsgefangenen zu machen, Kriegsgefangene unter bestimmten Voraussetzungen auszutauschen, Urkunden und Archive von Städten, welche die Kapitulation angeboten hatten unantastbar zu lassen, usw. Trotzdem bestätigen die Historiker, dass gegen Ende des 18. bis tief in das 19. Jahrhundert hinein eine Rückentwicklung, genauer, eine Barbarisierung der Kriegsführung stattfand. Eine der Hauptursachen wird hierbei die Entwicklung moderner Waffentechniken genannt, aber auch das Ersetzen von Berufsheeren durch Volksheere, sowie der vom Nationalismus beflügelte Kampfeswille. Die Auswirkungen waren verheerend und veranlassten die Menschheit nach einem übergeordneten Rechtssystem zu suchen. Dies führte zu den Haager Abkommen von 1899 und 1907.

Die New York Times bezeichnete den Völkermord in Ruanda als eine "Jahrhunderte lange Stammesfehde". Auch der US-amerikanische Präsident Bill Clinton sprach von "Stammesgroll". Sein französischer Amtskollege Mitterrand wurde mit den Worten zitiert: "Ein Genozid ist in Afrika nicht so schlimm wie anderswo."

Schon der Völkerbund, der Vorgänger der Vereinten Nationen (UN), kannte ein Kriegsverbot, wenn auch ein beschränktes. Im Falle eines Angriffs auf ein einzelnes Mitglied galt der Bündnisfall. Eine vollkommene Ächtung des Angriffskrieges erfolgte erst im Jahre 1928 durch den Briand-Kellogg-Pakt. Nach dem 2. Weltkrieg kam es zu den berühmten vier Genfer Abkommen von 1949.

Man erkennt eine bewusste Arbeitsteilung. Das Haager Recht begrenzt die Mittel der Kriegsführung und das Genfer Recht stellt Regeln für die Erhaltung des Lebens und der Menschenwürde in Kriegszeiten auf.

Heute wissen wir, dass der Genozid in Ruanda kein plötzlicher Ausbruch archaischer oder chaotischer Kräfte war, sondern ein Werk von Offizieren, die nach der mysteriösen Ermordung von Hutu - Präsident Habyarimana am 6. April 1994, er starb bei einem Flugzeugabsturz, die Kontrolle des Militärs und der Milizen, der Polizei und der Zivilverwaltung an sich gerissen hatten. Mit der Logik eines organisierten Staates wurde eine Propagandakampagne bis in das kleinste Dorf hineingetragen und eine ganze Bevölkerungsgruppe stigmatisiert und zum Abschlachten freigegeben. Der Völkermord in Ruanda war das Ergebnis einer bewussten Entscheidung, getroffen von einer modernen Elite, die sich durch Verbreitung von Hass und Angst den Machterhalt zu sichern suchte.

Das Ende des 1. Weltkrieges 1918 änderte das Völkerrecht grundlegend. Im groben umrissen sind hierbei folgende Entwicklungen zu nennen, die seitdem stattfanden: der Kreis der vom Völkerrecht geschützten wurde ausgeweitet, es fand seitdem weltweite Anwendung und wurde enorm verstärkt, die Völkerrechtsregeln intensiver. Die Organisationen zur Durchsetzung des humanitären Völkerrechts verbreiteten sich über die ganze Erde. Außerdem hatte nun die Betonung des Einzelnen und seiner Stellung einen höheren Stellenwert. Man nenne hierbei das Schlagwort Menschenrecht. Die Diskussion um diese Stellung dauert auch heute noch an. Besonders in der im Jahre 1945 geschaffenen UN. In der Charta der Vereinten Nationen herrscht kein Kriegsverbot, sondern ein Gewaltverbot.

In diesen 100 Tagen reagierten die Vereinten Nationen und auch die interventionsfreudigen Mächte wie Frankreich, Belgien und die Vereinigten Staaten auffallend langsam. Ihr Interesse galt allein der Evakuierung der eigenen Staatsbürger. Das erste UN-Kontingent in Ruanda wurde auf dem Höhepunkt der Massaker nicht erhöht, sondern auf 270 Mann reduziert. Ein zweites erreichte Ruanda erst, als die von den Tutsi dominierten Rebellen der Ruandischen Patriotischen Front die für das Morden verantwortliche Hutu - Regierung nach langen Kämpfen vertrieben hatten. Der Konflikt wurde auf dem Schlachtfeld beendet.

Der Ökonom Hannes Spengler (Quelle: FAS vom 5. Juni 2005) hat den durchschnittlichen Wert eines Menschenlebens in Deutschland berechnet. Er beträgt 1,65 Mio. Euro.
Ein Männerleben hat einen höheren Wert (1,72 Mio. Euro) als ein Frauenleben (1,43 Mio. Euro).

Wie hoch ist der Wert eines Menschenlebens in Ruanda?
   





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