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Studierende im Ländle dürfen bald mitbestimmen
POLITIK | BADEN-WÜRTTEMBERG (18.03.2012)
Von Michael Billig
Vor mehr als 30 Jahren schaffte der damalige Ministerpräsident Hans Filbinger (CDU) die Verfasste Studierendenschaft in Baden-Württemberg ab. Den Allgemeinen Studierendenausschuss, kurz Asta, degradierte er zu einer Servicestelle ohne Mitspracherechte und ohne eigene Finanzkraft. Die grün-rote Landesregierung in Stuttgart macht diese Entmündigung nun rückgängig.

„Wir wollen die studentische Mitbestimmung im Land stärken“, sagt Wissenschaftsministerin Theresia Bauer. Es geht immerhin um 311.000 Studierende. Die Grünen-Politikerin gibt dem Vorhaben, die Verfasste Studierendenschaft einzuführen, einen modernen Anstrich. Auf einer Internetseite stellte ihr Ministerium den entsprechenden Gesetzentwurf öffentlich zur Debatte. Innerhalb von sechs Wochen befüllten nicht ganz 200 Nutzer und knapp 500 Beiträge die Foren. Ergebnisse der Onlinediskussion sollen laut Bauer in die weitere Arbeit am Gesetz einfließen.

Patrick G. Stoesser

Die Einführung der Verfassten Studierendenschaft war ein Ziel des Bildungsstreiks. 2009 gingen wie hier in Heidelberg dafür Tausende junger Menschen auf die Straße. (c) Patrick G. Stoesser

Stupa oder Stura

Für den meisten Diskussionsstoff sorgt die Frage, welche Organisationsform sich die Verfasste Studierendenschaft geben soll. Die Entscheidung darüber will die Ministerin den Studierenden vor Ort überlassen. Im Groben stehen zwei Modelle zur Abstimmung: Studierendenparlament (Stupa) mit Asta oder Studierendenrat (Stura). Jede Hochschule kann es sich aussuchen. Ein Stupa ist der Bundestag in klein. Es setzt sich aus gewählten Listen, häufig parteinahe Hochschulgruppen, zusammen. Die mit den meisten Sitzen bilden in der Regel die „Regierung“, den Asta. Die Juso-Hochschulgruppen bevorzugen dieses Modell. Es würden ihnen mehr Einfluss ermöglichen.
Anders wäre das bei einem Stura. Der ist am ehesten mit dem Bundesrat vergleichbar. Statt der Länder entsenden Fachschaften ihre Vertreter in das Gremium. Landesstudierendenvertreterin Laura Maylein aus Freiburg deutet an, dass dieses Modell den „gewachsenen Strukturen“ im Ländle am nächsten komme. Parallel zu den offiziellen Asten ohne politisches Mandat haben sich in der Vergangenheit so genannte u-Asten entwickelt, wobei das „u“ für unabhängig steht. „Die sind basis- beziehungsweise rätedemokratisch organisiert“, sagt Maylein. Die u-Asten haben den Maulkorb Filbingers abgelegt und äußern sich zu hochschulpolitischen Themen. Der usta, wie er in Karlsruhe praktischerweise heißt, fordert zum Beispiel eine Zivilklausel für seine Hochschule (das KIT).

Grün-Rot löst Wahlversprechen ein

Stupa oder Stura – der Ring Christlich-Demokratischer Studenten (RCDS) in Baden-Württemberg kann sich mit keinem Modell anfreunden. Der CDU-nahe Verband lehnt die Verfasste Studierendenschaft grundsätzlich ab, insbesondere die Zwangsmitgliedschaft jedes Studierenden. In einer Kampagne macht der RCDS gegen die Pläne mobil. Landeschef Erik Bertram fordert eine Art Volksentscheid. Das Studentenvolk solle abstimmen dürfen, ob es die Verfasste Studierendenschaft überhaupt will. Doch nichts weist daraufhin, dass sich Ministerin Bauer von ihrem Weg abbringen lässt.
Die Verfasste Studierendenschaft ist ein Wahlversprechen. Sie wird kommen. Wo sie sich bis Ende Juni 2013 nicht konstituiert hat, stülpt ihr die Landesregierung das parlamentarische Modell über. So sieht es der Gesetzentwurf vor. An kleinen Hochschulen, so erzählt Studierendenvertreterin Maylein, könnte das für Probleme sorgen. „Es ist schwierig, genügend Studierende zu finden, die sich hochschulpolitisch engagieren wollen“, sagt sie. 15 Parlamentarier, wie im Gesetzentwurf gefordert, an einer Hochschule mit weniger als 2000 Studierenden aufzutreiben, hält Maylein für fast unmöglich.

Ministerium will Asten "Finanzexperten" vorsetzen

Noch ein anderer Punkt ist aus ihrer Sicht strittig: die Finanzautonomie – die nach dem aktuellen Entwurf offenbar keine darstellt. Wie überall soll sich die Verfasste Studierendenschaft aus einer kleinen Gebühr finanzieren. Dafür wird jeder Studierende vermutlich zehn Euro pro Semester berappen müssen. An großen Hochschulen kommt eine hübsche Summe zusammen, ein Betrag im mittleren sechsstelligen Bereich, über den die Studierendenvertreter verfügen können. Damit sie ihn nicht verprassen, will Ministerin Bauer „Finanzexperten“ in der Verfassten Studierendenschaft installieren. Die könnten auch aus der Hochschule kommen. Maylein spricht deswegen von einem „Schattenkanzler“. Die Rektoren wollten Kontrolle ausüben. „Sie wollen keine starke Verfasste Studierendenschaft“, behauptet die Studentin aus Freiburg. Das Wissenschaftsministerium in Stuttgart streitet ab, dass es sich um einen „Aufpasser“ handeln soll. Mehr um einen Berater. Politiker und Rektoren trauen den Studierendenvertretern schlicht nicht zu, dass sie mit dem Geld ihrer Kommilitonen umgehen können.
Das Misstrauen hat Gründe. Im Jahr 2007 geriet der Asta der Uni Bochum in die Schlagzeilen, weil er sich bei einem Konzert total verkalkuliert und einen Verlust von 230.000 Euro eingefahren hatte. Auch wenn dieser Fall ein absoluter Ausreißer ist – Landesrechnungshöfe beklagen immer mal wieder Schlampereien in den Finanzreferaten der Asten. Maylein relativiert: „Verschwendungen haben wir in jeder Institution“, sagt sie. Wichtig sei, dass die Finanzen künftig offen gelegt werden. „Dass jeder Student nachvollziehen kann, was mit seinem Geld passiert.“

Studentenvolk interessiert sich kaum für Hochschulpolitik

Fraglich ist, ob das die Studenten überhaupt so genau interessiert. Wenn es ums Semesterticket geht oder Preise in der Mensa, dann werden sie hellhörig. Vom Alltag in der Hochschulpolitik wollen nur wenige etwas wissen – wo wir bei den Schwächen von Stupa und Stura sind. Beide Modelle leiden unter der Geringschätzung der Studierenden. Es fehlt Personal und die Wahlbeteiligung kommt nur selten über 20 Prozent.
Als Grund für die Misere muss der Bologna-Prozess herhalten. Die Verschulung des Studiums lasse kaum Zeit für hochschulpolitisches Engagement, kritisieren Studierendenvertreter. Mancherorts wie jetzt an der Uni Mainz reagieren Asten mit „Anpassungen an die Studienbedingungen“ und wandeln Referate in projektorientierte Stellen um. An der Uni Münster gibt es damit bereits Erfahrungen. So wurde von 100.000 Euro, die der Asta im zurückliegenden Haushaltsjahr für Projekte eingeplant hatte, nur ein Fünftel ausgeschöpft. Klingt nach einem sparsamen Asta, seine Kritiker werfen ihm hingegen Untätigkeit vor. Sie verspotten das Projektstellen-Modell als „McKinsey-Asta“.

Wer die Mitbestimmung ernsthaft stärken will, muss sowieso viel weiter gehen und die Studierenden mit mehr Stimmrechten in der akademischen Selbstverwaltung, etwa in Institutsvorständen und im Senat der Hochschule, ausstatten. Die Einführung der Verfassten Studierendenschaft kann allenfalls ein Anfang sein.
   





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