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Ich trage Sombrero
KULTUR | ZUR IDENTITÄT (10.06.2010)
Von Bianca Hüsing
Ich werde niemals einen mp3-Player benutzen! Schon die Umstellung von Langspielplatte auf CD war eine Schandtat jener Kulturfeinde, die alles beschnellen und zerstückeln wollen.

Doch wie, so frage ich, soll eine persönliche Beziehung zu einzelnen Musikstücken und Künstlern bestehen, wenn jeder plötzlich überall seine komplette CD-Sammlung in Kleinstformate gepfercht bei sich tragen kann?
Das oben angeführte Szenario gehört noch zu den argumentativ ausgereifteren Episoden eines menschlichen Lebens, das nicht vergleichbar, nicht gewöhnlich, nicht wie alle sein will. Besser formuliert hat dies meine Philosophie-Lehrerin, als sie mich nach meiner Aussage „ich glaube nicht an die Wissenschaften!“ als Individualistin beschimpft hat.
Das Anders-sein-um-des-anders-sein-willen greift natürlich auch in jenem Bereich unserer selbstzentrierten Kultur, in den jeder, der um ihn einen Bogen machen will, umso stärker eingesogen wird: Fußball.
iley.de

Mexiko, was willst Du mehr. (c) iley.de


Um die Schmach der Unselbstständigkeit zu überwinden, konnte ich als Zwölfjährige natürlich keinesfalls den Bazis zujubeln, deren Freund mein Vater ist. Also entschied ich mich für den seinerzeit ärgsten Titelkonkurrenten in Schwarz-Gelb. Aus dieser innerfamiliären Trotzfeindschaft hat sich eine Leidenschaft für den passiven Ballsport entwickelt, die mich dazu veranlasste, nebst Amateurfußball und Bundesliga auch jedes erdenkliche Spiel der Weltmeisterschaften in Frankreich, Südkorea/Japan und hierzulande zu verfolgen.

Deutschland geht gar nicht

Deutschland zu unterstützen war für mich – man ahnt es – undenkbar, weil viel zu naheliegend. Also war ich zunächst für alles offen, bis 2002 auf dem Fernsehbildschirm ein Meer aus grün, rot und weiß mit Sombreros als Sahnehäubchen meinen Blick fing. Lustige, lebensfrohe, lautstarke Latino-Fans aus Mexiko gaben mir ein Gefühl dafür, was Mentalität auch bedeuten kann. Vor diesem Hintergrund habe ich die folgenden Begegnungen der Mexikaner viel detailverliebter als bisher observiert und durfte feststellen, dass die Jungs auf dem Rasen ähnlich passioniert spielten, wie ihre Fans auf den Rängen tanzten. Pässe, die ankommen. Schnelle Pässe. Die Ästhetik des gekonnten Balltretens, die einen Gruppensieger vor Italien, Kroatien und Ecuador auszeichnet.

Leider scheint ein Großteil der deutschen Bevölkerung da andere Prioritäten zu setzen, denn als ich für das Achtelfinalspiel der Mexikaner gegen den bösen Nachbarn aus den Vereinigten Staaten die Schule geschwänzt habe, irrte ich durch die Straßen mit einem selbstgebastelten Fähnchen, um eine Kneipe zu finden. Kneipen gab es zwar welche, jedoch übertrug keine von ihnen das wohl brutalste Spiel der Weltmeisterschaft. Mit einer inzwischen völlig entnervten Freundin kapitulierte ich schließlich und ging mit ihr in ein Bekleidungsgeschäft. Während sie sich dem Hauptziel ihres freien Tages in der Umkleide wimdete, hörte ich aus dem Radio die traurige Kunde von der mexikanischen Niederlage.

Wie damals ist es bis heute selten vorgekommen, dass wir die Hürde des Achtelfinales erfolgreich genommen hätten. Nichtsdestotrotz hat sich meine Sympathie für dieses Team zementiert, dessen Spiele auch in der vergangenen Weltmeisterschaft mehr als sehenswert waren. Und was eine potenzielle Begegnung zwischen der deutschen und der mexikanischen Nationalmannschaft betrifft, so werde ich hoffentlich nicht als Vaterlandsverräter gescholten, wenn mein Herz sich das Leder ins deutsche Netz wünscht. Mit meiner inzwischen angesammelten Fanausrüstung, bestehend aus Trikot, Nationalflagge und Sombrero, werde ich jedenfalls auf dem Weg dahin meiner Aufgabe als Anhänger gerecht. Mut macht mir die Wiederbelebung des Stürmers Cuauthémoc Blanco, den ich 2006 schmerzlich vermisst habe.

Die Zeit bis zum hoffentlich großartigen Eröffnungsspiel zwischen Mexiko und dem Gastgeber werde ich damit zubringen, mit musikalischer Untermalung aus meiner mp3-Sammlung auf dem Handy zu überlegen, ob ich die mittelamerikanische Elf nun aus Gründen geplanter Andersartigkeit, oder aber aus Überzeugung und Treue anfeuern werde.
   



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