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Wo 'Scheiße' gewinnt - Betrachtungen eines Poetry Slams
KULTUR | WIDER DAS VERSTUMMEN (15.09.2008)
Von Jörg Rostek
Aus ganz Nordrhein-Westfalen sind Poetry Slammer nach Münster gereist, um sich aneinander zu messen und das Publikum entscheiden zu lassen - eine Sammlung von Eindrücken.

Langsam trudeln die ZuschauerInnen und PoetInnen ein. Man kennt und umarmt sich. Ein Journalist wird dies später als Klassentreffen bezeichnen. Da die Slammer an Tischen sitzen, die mit roten Decken überzogen sind, kann ich sie vom Publikum unterscheiden. "Fehlt nur noch der Rotwein und die Kerzen", denke ich, und betrachte meine Hand. "Jetzt ist es Literatur", stempelte mir Andy Strauß, Mitorganisator dieses NRW-Slams, auf die Haut und ich frage mich, was ein in sechs Minuten vorgetragener Text mit Goethe, Kafka, Brecht und Frisch zu tun hat und in welche Epoche der deutschen Literatur ich Poetry Slams einordnen kann. Ich nehme mir vor, mich in den kommenden drei Tagen mit dieser Frage zu beschäftigen und die Eigenarten eines Slams aufzuschreiben.

J. Rostek

Szenen vom NRW-Poetry-Slam, oben: "Froschman aus Trashland" lost die Gruppen aus. Mitte: Ein Slammer liest seine Geschichte. unten:Tobias Kunze wird als Sieger gefeiert. (c) J. Rostek

Münster ist eine Poeten-Stadt. Insgesamt gibt es dort fünf unterschiedliche Poetry-Slams. Da ist es nur konsequent, dass auch dank Andreas Weber die NRW-Meisterschaft in Münster ausgetragen wird. In den Räumen des "Cuba Nova" und der "Cascade" werden sich 40 PoetInnen, aufgeteilt in vier Gruppen à 10, messen. Alle KandidatInnen haben sich im Vorfeld auf anderen Slams qualifiziert, darunter mehrfache Slam-PreisträgerInnen und auch GründerInnen von Slams. Manche sind schon seit über 13 Jahren dabei. Aber auch unbeschriebene Blätter werden vom Froschmann aus Trashland, so heißt die Glücksfee des Abends, ausgelost und auf die vier Gruppen verteilt. So etwas können auch nur Menschen organisieren, die tief in der "Slamily", also der Slammergemeinschaft verwurzelt sind. "Wir sind Zeuge einer Weltpremiere", ruft jemand, und das, obwohl am ersten Tag nur Gruppen-Auslosung ist und die eigentliche Show erst am zweiten Abend beginnt. Nur zwölf SlammerInnen werden es ins Finale schaffen. Nur einer kann Meister werden. Und wer zwischen Vorrunde und Finale Entspannung und geistige Erquickung sucht, der kann in einer eigens dafür organisierten Buchmesse stöbern.

Kein Blatt vor den Mund

Nachdem die Verlosung vorbei, die PoetInnen den Gruppen zugeteilt und die Getränke bestellt sind, beginnen Konzerte. Roger Trash kommt mit seiner Mischung aus Herbert Grönemeyer, Marius Müller Westernhagen und Udo Lindenberg nicht beim Publikum an. Als Trash schließlich sagt: "Danke für Eure Toleranz", trifft er den Nagel auf den Kopf.
Was auffällt, ist die Anwesenheit des WDR, der inzwischen nicht nur versucht, sich als Ausstrahler von Stand-Up-Comedy zu etablieren, sondern auch als Medium für Poetry Slams und damit innerhalb der "Slamily" eine rege Debatte über deren drohende Kommerzialisierung ausgelöst hat.
Sebastian 23 könnte solchen Erfolg haben, denn er trifft ganz den Nerv des Publikums, Jan Koch ebenso. Sascha Matesic alias "Sushi da Slamfish", der angeblich an über tausend Slams teilgenommen hat, nimmt kein Blatt vor den Mund. Ein gelungener Auftakt.

Arne Nielsen singt

Als letzte Darbietung des Abends soll "Der Büro", eine Zwei-Mann-Schlager-Elektro-Pop-Band, die Bühne betreten. Doch ein Hindernis steht dem Dänen Arne Nielsen und sein Jugendfreund, Christian "der Stopher" im Weg. Die Compact Disc, von der ihre Musik abgespielt werden soll, hängt. Und da Frontmann Arne sich weigert, ohne musikalische Untermalung einzulaufen, steht der junge Mann am Laptop gehörig unter Druck. Nach dem vierten Fehlversuch schnauzt Arne: "Hör auf, Student zu sein und mach mal was richtig". Der Student kontert, dass es nicht sein Fehler, sondern die Compact Disc beschädigt sei. Arne, Autor des Buches "Buddeln 1-3" zurück: "Das ist nicht mein Fehler ist der typische Satz eines Deutschen". Die Studierenden seien doch alle "von Mama und Papa verwöhnt", er jedoch müsse "da draußen" sein, wo es "kalt ist".
Um zu untermalen, wie kalt das Leben sein kann, liest Arne Nielsen den Brief des Fans Claudia vor. Es ist sein ganz eigener Beitrag zu diesem Poetry Slam.

Hallo der Büro!

Hier schreibt euch Claudia aus Wipperfürth!

Ihr wisst nicht wer ich bin, aber ich weiß wer ihr seid, ihr habt das

Lied mit den Blumen gemacht. Seitdem mein Mann Bernd nicht mehr da ist

höre ich mir jeden Morgen beim Kaffee trinken das Lied von den Blumen

an. Bernd war 35 Jahre bei Opel, war kein einzigen Tag krank. Er machte

bei Opel da was mit den Stoßdämpfern, ich habe nie wirklich verstanden

was. Ich hätte ihm öfters mal zu seiner Arbeit fragen sollen, es ist

einer von den Sachen die ich versäumt habe. Ich schreibe euch diesen

Brief, um zu sagen, dass ich euch beide lieb habe. Das Lied hat mich

schon durch so manchen trüben Morgen gebracht. Ich habe mich an euch vor

allem gewendet weil ich weiß, dass diese Worte bei euch am besten

aufgehoben sind, vertraulich sozusagen.

In Liebe Claudia



Ein Fan-Brief, der in seiner Schlichtheit bestechend ist. Ich halte den Brief für authentisch, will es aber genau wissen. Deshalb frage ich Arnes Frau, die mir seltsam bekannt vorkommt. Sie antwortet mir, sie spreche nur Englisch. Der Brief jedoch sei echt. Arne bestreitet das. Seine Frau Karoline Eichhorn, eine berühmte deutsche Schauspielerinnen, hat mich glatt angeflunkert. Sogar zweimal in einem Satz. So kann's geh'n.

Nach dem Auftritt wird er noch abschließend hinzufügen, dass es eine "Demütigung" gewesen sei, "hier aufzutreten". Und überhaupt hätten sie nur für Andy Strauß, ihren Freund gespielt. Arne sagt dies mit begnadeter an Arroganz grenzender Aufrichtigkeit. Deshalb sind ihm die Zuschauerinnen und Zuschauer auch nicht böse.

Aufschrei durch Künstlergilde

Ob es das Publikum - während es sich die Texte der Poeten über Norweger, Eichhörnchen, Sex, das Schreiben, Rassismus, Verlassen werden, Rapper, Rosa, familiäre Autokinobesuche, Freunde beim Scheißen, Models, Werbung und Fernsehen, Raser, Pornos, Religion, Alkohol, Fußball, Verlassenwerden, Ü30-Partys, tägliche Routine und alltäglichen Wahnsinn ("Was weißt du schon davon?") anhört - kümmert(?): Am 10. September 2008 ging ein riesiger Aufschrei durch die Künstlergilde, weil zahlreiche Bundesländer vorgeschlagen haben, die Künstlersozialkasse (KSK) abzuschaffen. Als ich rumfrage, was das für Poetry-Slammer bedeuten würde, erhalte ich folgende Antworten: "Wir verdienen weniger als wenig und kommen deshalb gar nicht in diese Kasse rein." - "Das Ende der KSK wäre das Ende der freien Kunst". Ein Journalist der örtlichen Lokalpresse meint: "Wenn die Künstlersozialkasse abgeschafft werden würde, müsste ich mich finanziell aufhängen." Glücklicherweise hat ein Proteststurm die "Reform" der KSK hinweggefegt. Dass der Vorschlag jedoch jährlich hochkommt, stimmt mich nachdenklich.
"Literatur kann man eigentlich nicht bewerten, aber Poetry Slam tut es trotzdem", meint einer der beiden Moderatoren. Und dafür braucht man eben ZuhörerInnen, also Publikum. Schnell trennt sich in der "Cascade" die poetische Spreu vom Weizen. Wem es nicht gelingt, das Publikum zu fesseln, erhält weniger als 50 von 100 möglichen Punkten. Da das Publikum aber auch gnädig ist, ist auf den zehn ausgeteilten Tafeln selten eine in Gruppenarbeit entstandene "1" oder "2" zu sehen. Ein Vergnügen wäre es, Marcel Reich-Ranicki in das Publikum zu setzen und ihn mit den Leuten über die Qualität eines dargebotenen Textes diskutieren zu lassen. "Und vergesst nicht, der Applaus ist für den Dichter und nicht für die Wertung", so einer der Moderatoren.

Ein Gedicht über Exkremente

Am Tag des Finales ist das Cuba so voll, dass Leute, die keine Karte haben, draußen vor der Tür bleiben müssen. Drinnen zeigen die Moderatoren eindeutige Anzeichen von Müdigkeit. Die Arbeit der vergangenen Tage hat ihnen sichtlich zugesetzt. Ihre Stimmen haben größtenteils den Elan, die Witze an Würze verloren. Während "Großraumdichten", eine absolut peinliche Elektro-Poetengruppe aus Münster, deren Masche es ist, zu elektronischer Musik Texte vorzulesen, die aus Teenagertagebüchern gerissen worden zu sein scheinen, spreche ich mit einem der Moderatoren über die Möglichkeit von Slammern, eines Tages finanziellen Erfolg zu haben: "Das schafft kaum einer", meint er. "Vielleicht einer von vierzig", schiebt er nach. Deprimierend.
Ob der/die Auserwählte unter den FinalistInnen Tobias Kunze, Mischael Sarim Verollet, Nadja Schlüter und "der marian" zu finden ist, ist zu hoffen, denn Talent bewiesen sie alle vier. Dass jedoch Tobias Kunze mit seinem außerordentlichen und bisher unveröffentlichten Gedicht über menschliches Exkrement gewann, beweist, dass die Ästhetik und Form eines Textes sowie das darstellerische Talent des Vortragenden bei einem Poetry Slam wichtiger sein kann als Thema und Inhalt eines Textes. Beim Poetry Slam ist eben alles möglich. Poetry Slam lebt von den Unterschieden und der Vielfalt, die diese Art der zeitgenössischen Literatur bietet und möglich macht. Ein Grund unbedingt einen zu besuchen.

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