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Eine Kritik an der Finanzmarktreligion
WIRTSCHAFT | STAATSSCHULDENKRISE (10.04.2012)
Von Frank Fehlberg
Zu den Grundlagen jeglicher Religion zählen Vertrauen, Glaube und Hoffnung. Das zunehmende Versagen dieser elementaren weltanschaulichen Bindekräfte greift zurzeit ein einflussreiches Glaubensgebäude an: dasjenige des Finanzkapitalismus.

„Der Markt“ kann seine ethischen und normativen Voraussetzungen nicht alleine schaffen. Ein Allgemeinplatz, möchte man meinen, aber er ist über seine sicher geglaubte Selbstverständlichkeit in die Bedeutungslosigkeit gestolpert. Damit der Markt als abstrakte Handlungswirklichkeit funktioniert, sind nicht in erster Linie seine materiellen oder rechtlichen Gegebenheiten von Bedeutung, sondern „Leistungen“, die keiner seiner Teilnehmer sehen, geschweige denn mit Kosten-Nutzen-Denken taxieren kann: Vertrauen, Glaube und Hoffnung. „Hergestellt“ werden diese unsichtbaren Güter nicht innerhalb der „Freiheit“ des Marktes, sie sind die individuelle Vorleistung des in anderer Weise „freien“ Einzelmenschen, der als Person oder als Teil einer Organisation zum Marktteilnehmer wird. Die politische und soziale Wirklichkeit ist kein Markt, die Freiheit des Marktes ist nicht die Freiheit des Einzelnen. Diesen Konflikt macht der Finanzmarkt überdeutlich, der von einem Glaubensgebäude ganz eigener Art getragen wird.

dyrka

Wir himmeln sie an: Gott und Geld. (c) dyrka

Die gegenstandslose Welt der Finanzen

Damit ein Markt wie derjenige, den sich der Finanzkapitalismus mittlerweile durch globale Vernetzung erschaffen hat, seine Teilnehmer in ihrem Streben nach Profit nicht enttäuscht, muss der Glaube an seine Möglichkeiten stets aufrecht erhalten werden. Was jedoch der Markt der an der Realwirtschaft ausgerichteten Güter und Dienstleistungen durch den Nachweis von materieller Substanz noch einigermaßen sozial verträglich in Aussicht stellen kann, ist in der gegenstandslosen Welt der „Finanzprodukte“ längst in Gefahr. Mehr noch als die Realwirtschaft lebt die Finanzwirtschaft von immateriellen Voraussetzungen. Das Geld ist hier nicht nur das Tauschmittel des Vertrauens, Grundlage des Austausches unterschiedlichster Waren und Arbeitsleistungen, sondern wird mehr und mehr zum Selbstzweck einer realitätsfremden Rationalität der Bedürfnisbefriedigung.
Anders: Die Realwirtschaft ist nur noch die Magd der Finanzwirtschaft, sie ist die Rechtfertigung und das Ausbeutungsreservoir, das der buchstäblichen Geldmacherei der Jünger des Mammon zur Verfügung zu stehen hat. Um das Spiel, das „die Märkte“ mit Staaten, Gesellschaften, letztlich mit dem ausgelieferten schwachen Einzelmenschen treiben, ungehindert weiterführen zu können, brauchen die Verfechter der wundersamen Geldvermehrung eine verabsolutierte Weltreligion des Geldes.

Irre Rationalität

Der Finanzmarkt ist der Gott derjenigen, welche die gesetzmäßige Unerbittlichkeit des biologischen Überlebenskampfes in einer „effektiven“ ökonomischen Organisation der Menschheit wiedererkennen wollen. Damit ist er vor allem ein Gott jener Vulgärdarwinisten, die den Finanzmarkt für sich als ohnehin bereits wirtschaftlich Stärkere dienstbar machen wollen. Ihr Gott richtet erbarmungslos die wirtschaftlich Erfolglosen, er liebt die Erfolgreichen. Ihre Annahmen sind gewiss nicht irrational, aber ihre Konsequenzen zeugen gewissermaßen von einer „irren Rationalität“. Kein Mensch kann sich seine Welt und das Entscheiden in ihr ohne eine individuelle, anhand einer tragfähigen Rationalität emporgebauten Glaubenskonstruktion vorstellen. Die Qualität dieser Rationalität verbürgt dabei die Wirkmächtigkeit der individuellen und damit letztlich auch einer höheren sozialen Religion von gesellschaftlicher Bedeutung.
Eine übergreifend nachvollziehbare, handlungsleitende und deshalb eben glaubhafte Rationalität braucht Lehrsätze, die eingängig sind und unbedingte Orientierung in allen Entscheidungslagen bieten. Von Beginn seiner Entwicklung an war der Glaube des Finanzabsolutismus daher auf Dogmen und Prediger seiner eigentümlichen Rationalität angewiesen. Solche hat er mittlerweile reichlich und beinahe allgegenwärtig zu bieten. Seine Lehren basieren auf notwendigerweise eindeutigen Aussagemustern, die man von Glückskeksweisheiten wie auch Abreißkalendern her kennt und die eine so einfache wie schlagkräftige „Frohbotschaft“ abgeben. Seine Prediger mit dem Nimbus des „Experten“ haben es in den letzten 30 Jahren geschafft, sich von staunenden und überforderten Zweiflern zu den bestimmenden Halbgöttern der Wirtschaftstheorie erheben zu lassen.

Dogmen und Glaube des Finanzkapitalismus

„Das freie Spiel der Kräfte sichert den Wohlstand aller.“ Aus Sätzen wie diesem leiten sich die Handlungsanweisungen der Marktgläubigen ab. Ein wahrer Katechismus der Marktreligion kann auf ihn aufgebaut werden. Was ist das „freie Spiel der Kräfte“? Die Freiheit der Menschen, ihre wirtschaftlichen Bedürfnisse selbstbestimmt zu befriedigen. Was ist der „Wohlstand aller“? Das materielle Wohlergehen der Gesamtheit, das mit dem Vollzug der wirtschaftlichen Freiheit des Einzelnen entsteht. Wie findet beides zusammen? Durch den Markt. Was ist der Markt? Ein auf wenigen Regeln basierendes System des Austausches von Waren und Dienstleistungen. Auf welcher Voraussetzung basiert der ideale Markt? Indem er den Marktteilnehmern die möglichste Handlungsfreiheit zur Erreichung ihres persönlichen Vorteils lässt.
Die Finanzwirtschaft hat über diese Grundsätze hinaus noch das Schmiermittel des Marktes, das Geld, zum Selbstzweck gemacht und seine dynamischen Ströme zum Indikator der Lage der Realwirtschaft erklärt. Spielten die Banken, Versicherungen und Investoren am Markt einstmals eher eine Rolle als Dienstleister und Unterstützer so sind sie heute die Herren über Gedeih und Verderb des globalen Marktgefüges. Diese Gottgleichheit nennt sich „Systemrelevanz“.

Geld- statt Wertschöpfung

Das Wort „Geldschöpfung“ bekommt unter solchen Prämissen einen gänzlich neuen Klang. War das Geld einmal der Ausdruck eines realen Wertes oder eines damit noch zu schöpfenden Wertes, ist es heute möglich, es ohne Bezug zur realen Wertschöpfung zu erzeugen und zu vermehren. Die wundersame Geldvermehrung fällt jedoch mit schwerer Last auf die realen Gegebenheiten zurück. Von den Banken geschöpftes Geld, hinter dessen sprunghafter Zunahme kaum eine Beziehung zur wirtschaftlichen Wirklichkeit steht, muss schließlich doch von jemandem erarbeitet oder auf anderem Wege in seinem Wert gerechtfertigt werden. An diesem Punkt beginnt die rücksichtslose Ausbeutung und Anzapfung aller Ressourcen, die dazu nötig sind: Arbeitskraft, öffentliche Güter, Umwelt.

„Ich kann nur so viel ausgeben, wie ich habe.“ Klingt plausibel, daran soll sich nach gängiger Finanztheologie rationales wirtschaftliches Handeln im Bereich der Geldpolitik ausrichten. Mit dieser Aussage werden aber nur jene Kleingläubigen und schwäbischen Hausfrauen ruhiggestellt, welche die Folgen der Konterkarierung des Diktums auf globaler Ebene des Finanzkapitalismus nicht durchschauen sollen. Kein Staat, kein privater wirtschaftlicher Betrieb, ja nicht einmal die ganz normale schwäbische Mittelstandsfamilie kann jedoch auf dieser Grundlage ihre wirtschaftliche Zukunft gestalten.
Ob Infrastrukturprojekte, Auftragsfinanzierung oder Autokauf – der Kredit ist der Treibstoff des Kapitalismus. Der Satz für die Kleingläubigen wird von den Priestern der Finanzlogik dann gebracht, wenn es ans Eingemachte geht. Wenn das übermäßig geschöpfte Geld an unregulierten Finanzmärkten seinen Werttribut fordert, wird unter dieser Losung zum Sparen, Kürzen, Lohndrücken und Privatisieren geblasen. Für das politische Endergebnis der in jeder Talkshow gepredigten Rationalistenbinse gibt es mittlerweile einen treffenden Begriff: „marktkonforme Demokratie“. Plötzlich haben alle, nicht nur die Bankerelite und ihre Anleger, die Kleriker des Mammons, „über ihre Verhältnisse“ gelebt. Folglich müssen daher auch alle daran arbeiten, die aberwitzige Rationalität der Klerikerkaste zu bestätigen und weiterzuführen, besser: sich ausbeuten und erniedrigen zu lassen.

Finanztheologen und Prediger

Die rituelle Wiederholung der finanzökonomischen Dogmen dient zur Huldigung und damit zur Stabilisierung des Marktes sowie der Festigung des Glaubens seiner Teilnehmer an ihn. Ihre Verkündigung wird neben einer Klerikerklasse mit wissenschaftlicher Autorität vor allem von erfolgreichen Marktteilnehmern übernommen. Nicht nur die Festigung des Glaubens- und damit des Geschäftslebens der Anhänger dieser Religion ist das Ziel der Verkündigung, sondern die unbedingte Missionierung der verbliebenen Ungläubigen, ob sie an den Hebeln der politischen und gesetzgeberischern Macht sitzen, auf einem ausreichend großen Vorrat an Geld oder besser, beide Positionen miteinander verbinden.
Denn dort fällt die Bekehrung zu einer Religion des äußerlichen Erfolges leichter, wo sich das abgehobene Selbstbild des wirtschaftlichen Mehrleisters bereits in angemessenen finanziellen und machtpolitischen Sphären entfaltet hat. Die täglichen Andachten und Gottesdienste des Finanzkapitalismus kommen als „Wirtschaftsnachrichten“ in Form von Börsenberichten in die Wohnzimmer. Wer meint, hier würde er über die Lage der Wirtschaft informiert, irrt gewaltig. Mögen sich manchmal „Experten“ von Banken und Versicherungen hier vorgeblich um die Realwirtschaft sorgen, am Ende sind sie doch nur orakelnde Statisten in der Allgegenwart des finanzwirtschaftlichen Supremats über das Weltgeschick. Die benebelnde Wirkung solcher interessengefärbten Wirtschaftsnachrichten trifft selbst diejenigen, deren „Rendite“ durch die Machenschaften der Eliten gering ausfällt oder sich gar negativ wendet.
Mit der bestechenden Finanzlogik und dem Freiheitsbegriff der Märkte lassen sich trefflich Arbeitende gegen Arbeitslose und noch verbliebener Mittelstand gegen Prekariat hetzen. Ein gezielt gesetzter Erlöserbegriff wie „Bildung“ verheißt die erfolgreiche Teilhabe am Markt, derweil er längst in die Euphemismustretmühle geraten und angesichts der Realität etwa des „Bildungsprekariats“ inhaltsleer geworden ist.

„Sünder“ und „Opfer“

Die Krise des Finanzkapitalismus gefährdet nicht etwa seine Glaubensgrundsätze. Als Glieder einer ausgewachsenen Religion, die innere Widersprüche sehr lange verdaut und damit ihre Unangreifbarkeit noch festigt, haben die Geldgläubigen schon eine Abwälzung der Schuld parat: Weil Ungläubige sich nicht an die Regeln halten, funktionieren auch die gepredigten Dogmen nicht. Die Finanzkrise wird zur „Staatsschuldenkrise“, die „Schuldensünder“ müssen „Opfer“ bringen, um wieder auf den Pfad des Glaubens und des Wohlergehens zurückkehren zu können. „Sparen“ – vielmehr: „kürzen“ und „privatisieren“ – ist das Opfern in der Finanzreligion. Und wenn durch all das „Sparen“ die öffentlichen Güter, das Einkommen des größeren Teils der Gesellschaft, der wirkliche „Wohlstand aller“ und schließlich das Funktionieren der öffentlichen Ordnung zwecks aussichtsloser realer Aufrechnung der aufgeblasenen Schulden zerstört sind? Dann wird von den oberen Zehntausend die Schuld allein bei denen gesucht werden, die dem Vollzug ihrer Freiheit wegen Faulheit und mangelndem Glauben an die Segnungen der Freiheit nicht nachkamen.

Mehr Volks- statt Betriebswirtschaft

Die Lösung liegt in der Durchbrechung der zerstörerischen Weltanschauung des enthemmten Finanzkapitalismus. Am besten schnellstmöglich, denn neue destruktive Glaubensgebäude gedeihen unter ihrem zunehmenden Druck, von denen wir auch keine verträgliche Regelung des Gemeinwesens erwarten können. Ein erster Schritt wäre der Übergang von der alleinigen betriebswirtschaftlichen Herangehensweise an den (Finanz-)Markt zur volkswirtschaftlichen, auch an Maßstäben des Gemeinwohls orientierten Regelung eines Gutes, das tatsächlich nicht verspielt werden darf: der möglichste Wohlstand aller.
Doch auch auf tieferen Ebenen muss der Geist des Finanzkapitalismus angegriffen und mit einer positiven Alternative ersetzt werden. Die Hauptarbeit ist am verzerrten Menschenbild zu leisten, eine Aufgabe, zu der alle gläubigen Idealisten aufgerufen sind. Ihre Arbeit wird sicher keine kurzfristige Rendite bringen, die Unterlassung der gemeinsamen Anstrengung aber beschleunigt den Zerfall unserer Gesellschaft.
   






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