Wenn die Eltern keine Hilfe sind
GESELLSCHAFT | SCHULVERWEIGERUNG (21.07.2011)
Von Michael Billig | |
Mecklenburg-Vorpommern versucht viel, um seine Landeskinder zum Schulabschluss zu führen. Zwei Sozialarbeiterinnen in Wismar holen den Nachwuchs morgens aus dem Bett. Jugendliche in Rostock besuchen nur an zwei Tagen den Unterricht. Den Rest der Woche verbringen sie in Betrieben. Im Plattenbau der AWO in Wismar gibt es für Schulverweigerer die "2. Chance". (c) iley.de Die höchste Abbrecherquote der Nation Jeder vierte Jugendliche im mecklenburgischen Wismar verlässt die Schule ohne Abschluss. Damit stellt die kreisfreie Stadt einen traurigen Rekord auf. Sie weist die höchste Schulabbrecherquote der Nation aus, wie eine Anfang des Jahres veröffentlichte Studie der Bertelsmann-Stiftung belegt. 2008 waren es 62 und im Jahr darauf 65 junge Wismarer, die nicht einmal den Hauptschulabschluss schafften. Die Region, die seit Jahren hohe Arbeitslosigkeit, demografischen Wandel und nicht zuletzt die Abwanderung junger Menschen beklagt, ist in höchste Alarmbereitschaft versetzt. Besserung tritt aber nur sehr langsam ein. Kathrin Wenzel, pädagogische Leiterin der AWO in Wismar, sieht allein in dem Standort Mecklenburg-Vorpommern einen Nachteil für die Entwicklung vieler Kinder. Das Bild vom abgehängten ostdeutschen Norden hat sich offenbar ins Selbstverständnis der Menschen gebrannt. Wenzel redet über das Land zwischen der Insel Usedom und der Hauptstadt Schwerin ein bisschen so, als handele es sich um eine hilfebedürftige Familie – bildungsfern und sozial schwach. Von den Lehrern vor die Tür gesetzt Gemeint sind aber Jugendliche wie Dustin und Moritz. Die beiden Freunde aus Wismar blödeln herum, kichern und schaukeln sich gegenseitig hoch. "Dustin hat so eine komische Lache. Da muss ich immer mitlachen", erzählt Moritz und verkneift sich ein Grinsen. Die Jungs sind 13 Jahre alt und gehen in die 7. Klasse einer Gesamtschule. Die Sozialarbeiterinnen Heine und Reek bezeichnen sie als "verhaltensauffällig". Die Jungs störten den Unterricht. Die Lehrer wüssten sich oft nicht anders zu helfen, als sie vor die Tür zu setzen. Auf den Zeugnissen hagele es Fünfen. Aus den Störern drohen Abbrecher zu werden. Ihre Eltern bekamen einen Blauen Brief, der sie zum Rapport in die Schule bestellte. Dustin und Moritz beschlossen daraufhin, die "2. Chance" zu nutzen. So landeten die beiden Schüler vor einem halben Jahr in dem Projekt. Die "2. Chance" wird bundesweit in fast 200 Städten und Gemeinden angeboten und liegt in den Händen freier Träger. Initiiert vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend und finanziert mit Geld aus dem Europäischen Sozialfond sollen die Projekte dazu beitragen, die Abbrecherquote in Deutschland zu halbieren. Im Jahr 2009 haben exakt 58.354 junge Menschen die Schule ohne Abschluss verlassen. In Mecklenburg-Vorpommern hat sich die Abbrecherquote innerhalb eines Jahr zwar um ein paar Prozentpunkte verringert. Doch mit 14,1 Prozent liegt sie immer noch über dem ostdeutschen Durchschnitt. Verglichen mit dem Bundesdurchschnitt ist sie doppelt so hoch. Überforderte Eltern, oft alleinerziehende Mütter Dustin und Moritz treffen sich nach der Schule im Plattenbau der AWO. Dort lernen sie in kleinen Gruppen, machen Hausaufgaben zusammen und verbingen gemeinsam ihre Freizeit. Moritz' Noten haben sich inzwischen ein kleinwenig verbessert, bei Dustin ist alles unverändert. Er zuckt mit den Schultern, als sei es ihm egal. Wunder kann die "2. Chance" offenbar nicht vollbringen. "Manchmal ist es schon ein Erfolg, wenn man mit den Jugendlichen über ihre Probleme reden kann", sagt Sandra Reek. Die Eltern jedenfalls seien mit den Kindern überfordert. Oftmals handele es sich um alleinerziehende Mütter. Söhne rutschten dann in die Rolle des Partners und Töchter in die der besten Freundin. Tessa ist so ein Fall. "Sie hat Zuhause das Sagen", berichtet Reek über das zwölf-jährige Mädchen. Sie käme manchmal gar nicht an sie heran, erzählt die Pädagogin weiter. Tessa fehle regelmäßig in der Schule, mehr als 100 Tage in diesem Jahr schon. Dann wieder tauche das Mädchen nachmittags plötzlich in der AWO auf. In der Schule könne sie sich nicht konzentrieren, begründet die Sechstklässlerin ihr Verhalten. Und Zuhause? "Mutti kann mir nicht helfen", sagt sie bloß. Vor allem Förderschüler ohne Abschluss Neben der vielzitierten Perspektivlosigkeit im Flächenland Mecklenburg-Vorpommern ist auch die Schweriner Schulpolitik ein Grund für die hohe Schulabbrecherquote. Wie kaum ein anderes Bundesland hat man in der Vergangenheit auf das Modell Förderschule gesetzt. Das geht auch aus dem Bildungsbericht des Kultusministeriums hervor. So vermeldeten die Schulen für Kinder und Jugendliche mit "sonderpädagogischen Förderbedarf" über Jahre hinweg nahezu gleich bleibende Klassenstärken – und das trotz rapide sinkender Schülerzahlen im Land insgesamt. Zum Schuljahr 1992/93 etwa zählte Mecklenburg-Vorpommern 300.000 Schüler, davon besuchten 13.000 eine Förderschule. 17 Jahre später sind es zusammen nur noch 130.000 Schüler, aber 10.000 an Förderschulen. Ihr Anteil an der Gesamtschülerzahl ist in den letzten Jahren kontinuierlich auf acht Prozent gestiegen. Gleichzeitig erhöhte sich die Quote der Schulabbrecher. Es hat Jahre gedauert, ehe dieser Zusammenhang erkannt wurde. Mittlerweile sieht das Kultusministerium offenbar ein, dass es sich mit dieser Schulform auf einem Irrweg befindet. Die Förderschule ist ein Auslaufmodell. Eingangsklassen werden nun nicht mehr angeboten, wie Kultusminister Henry Tesch bestätigt. "Die Inklusion ist jetzt unser vorrangiges Ziel", sagt der CDU-Politiker. Für einige kommt die Einbeziehung wie auch immer benachteiligter Menschen in die regulären Schulen zu spät. Laut der Bertelsmann-Studie stehen 80 Prozent aller Förderschüler in Mecklenburg-Vorpommern ohne Abschluss da. Diese Quote sieht nur in wenigen Bundesländern besser aus. Bildungsforscher: Schulen müssen sich der Arbeitswelt öffnen Bildungsforscher Klaus Klemm, der die Bertelsmann-Studie durchgeführt hat, schließt aus seinen Daten: Das separierende Förderschulsystem sei zu hinterfragen. Statt Aussortieren und Trennen von Kindern und Jugendlichen sei eine konsequente Inklusionspolitik notwendig. Ferner weist er darauf hin, dass sich die Quote der jungen Menschen ohne Hauptschulabschluss in der Regel im beruflichen Schulwesen halbiere. Da holten Schüler nach, was ihnen zuvor verwehrt blieb. Klemm empfiehlt deshalb, dass sich allgemeinbildende Schulen der Arbeitswelt öffnen sollten. Genau das passiert in Mecklenburg-Vorpommern. Der 18-jährige René sagt von sich, dass er früher viel Mist gebaut hat. Um seine Schullaufbahn war es nicht gut bestellt. Heute besucht er die Baltic Schule in Rostock und hat bereits kurz vor seinen Abschlussprüfungen einen Ausbildungsvertag in der Tasche. "Ich werde Straßenbauer", sagt René. Er und vier seiner Mitschüler sitzen um einen Tisch und falten Papierflieger. Sie schreiben eine Bastelanleitung und übersetzen diese ins Englische. Sie lernen fächerübergreifend. Mit herkömmlichen Unterricht, wie er in den anderen Räumen dieser Gesamtschule stattfindet, hat das nicht mehr viel zu tun. Das pädagogische Konzept, das hier dahinter steckt, nennt sich Produktives Lernen, kurz PL. PL sieht vor, dass René nur zwei Tage in der Schule verbringt. Die restliche Zeit der Woche ist er bei der Firma tätig, die ihn nun auch anstellen will. Was er dort erlebt, wird im Unterricht aufgeriffen. Die eigens fortgebildeten Lehrer haben vor allem die Aufgabe, ihre Schüler zu motivieren. "Wir entwickeln gemeinsam Lerninteressen. Ich lerne auch mit den Schülern mit", sagt Lehrer Lutz Graumann. Schulleiterin Almut Häupl sagt, dass die Rolle des klassischen Paukers ausgedient habe. Sie bezeichnet Lehrer gern als Coaches. Häupl: "Wir wollen Schüler zu lebenslangem Lernen befähigen." Produktives Lernen und flexible Schulausgangsphase Produktives Lernen wurde vor fünf Jahren in Mecklenburg-Vorpommern als Pilotversuch gestartet, um die Abbrecherzahlen zu senken. Für Häupl ist PL aber mehr als ein Notfallprogramm. Sie sieht junge Menschen dadurch besser auf das Berufsleben vorbereitet. Mittlerweile machen landesweit 27 Schulen mit. Auch die Bundesländer Berlin, Brandenburg, Sachsen und Sachsen-Anhalt haben PL eingeführt. Einsteigen können Schüler ab der 8. Klasse. In der Rostocker Baltic Schule entscheiden sie sich dann zwischen regulärem Unterricht und Produktivem Lernen. Für PL müssen sie sich extra bewerben. Die Zahl der Plätze ist auf 36 begrenzt. Wer dabei ist, hat zwei bis vier Jahre Zeit, seinen Haupt- oder Realschulabschluss zu machen. "Jeder lernt unterschiedlich schnell", sagt Häupl und spricht von einer "flexiblen Schulausgangsphase". Neben Inklusion, PL und dem Projekt "2. Chance" gibt es in Mecklenburg-Vorpommern eine Reihe weiterer Versuche, das Problem der Schulabbrecher in den Griff zu bekommen. "Wir können es uns nicht leisten, Schüler auf der Strecke zu lassen", sagt Schulleiterin Häupl. Sie appelliert auch an die Unternehmen, sich besser auf die Jugendlichen von heute einzustellen. Dazu gehört auch eine bessere Bezahlung für Auszubildende, wie Minister Tesch findet. Die Namen der Schüler wurden verändert. |