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Plötzlich Neonazi – Warum man dem Wahl-O-Mat nicht trauen sollte
POLITIK | MITGEMACHT (25.09.2009)
Von Henning Brinkmann
Eine Wahlempfehlung sei das Ergebnis nicht, beschwichtigt die Bundeszentrale für politische Bildung. Doch zugleich bezeichnet sie ihren Wahl-O-Mat als „Frage-und-Antwort-Tool, das zeigt, welche zu einer Wahl zugelassene Partei der eigenen politischen Position am nächsten steht". Kann der Wahl-O-Mat diesen Anspruch erfüllen? Nein.

Abstimmung   Ergebnis
Stimmt die Wahl-O-Mat-Empfehlung mit Ihrer tatsächlichen Wahl überein?
 
Ja   Nein    

„Hilfe, bin ich jetzt ein Nazi?“ - diese verzweifelte Frage lässt die Bundeszentrale den ehemaligen ZEIT-Redakteur Toralf Staud in seinem Aufsatz auf der Wahl-O-Mat-Homepage beantworten. Staud beruhigt den (fiktiven) Autor der Frage: „Keine Angst, mit Dir ist alles in Ordnung.“ Trotzdem hat der Betroffene wohl einen Fehler gemacht: Er hat versucht, mit dem Wahl-O-Mat seine politische Gesinnung zu testen. Und ganz oben auf der Trefferliste landete die rechtsextreme NPD.
Damit ist er nicht allein. 5.302.654 Mal wurde die Internet-Wahlhilfe bei Verfassen dieser Zeilen angeklickt. Viele Nutzer blieben anschließend verdutzt bis ratlos zurück. Die NPD landete knapp vor der LINKEN, den Violetten, die „für spirituelle Politik“ stehen, oder vor der konservativen CDU. Die Gründe dafür sind vielfältig:

Politik ist kein Wunschkonzert – Inhalte beeinflussen sich wechselseitig. Interessen müssen abgewogen und verschiedene gesellschaftliche Gruppen entweder berücksichtigt oder geschickt gegeneinander ausgespielt werden. Der Wahl-O-Mat präsentiert die politischen Themen hingegen isoliert und ignoriert das Prozesshafte allen politischen Handelns. So kann die NPD (und mit Einschränkungen auch die LINKE), Mindestlöhne einführen, Managergehälter begrenzen, ein gebührenfreies Erststudium fordern, Betreuungsgeld für Kleinkinder in Aussicht stellen, Ausbildungsplätze garantieren und die Praxisgebühr abschaffen. Nach einer Gegenfinanzierung fragt der Wahl-O-Mat bequemer Weise nicht.

Die 38 Thesen des Wahl-O-Mats wurden nicht mit den Parteiprogrammen abgeglichen, sondern den Parteien zur Stellungnahme zugeschickt. Das Problem daran: Es kommt zu (willentlich) falschen Antworten - oder Aussage und Begründung der Partei sind widersprüchlich. Daran sind nicht die Parteien allein Schuld. Auch die überspitzte Formulierung der Thesen provoziert einerseits eine klare Haltung, in den Begründungen aber eine Differenzierung.
hofschlaeger/pixelio.de

Zu Tierversuchen äußern sich die Grünen widersprüchlich. (c) hofschlaeger/pixelio.de

So stimmen die Grünen der These „Ausnahmsloses Verbot von Tierversuchen“ zu. In der Begründung heißt es jedoch: „Tierversuche sollen nur noch dann durchgeführt werden dürfen, wenn sie unerlässlich sind und es keine Alternative gibt, um die Gesundheit von Mensch, Tier und Umwelt zu schützen.“ Die Bedeutung von „ausnahmslos“ ist zweifelsohne eine andere.
Ähnlich die CDU: Auf die Frage, ob das Erststudium „generell gebührenfrei“ sein soll, mag sie keine klare Antwort geben, rettet sich in ein „neutral“. In der Begründung gibt sie an: „Mit sozialverträglichen Studienbeiträgen sollen die Hochschulen ihre Lehrangebote gezielt verbessern und besondere Lehrprofile entwickeln. Das nutzt den Studenten.“ Ein klares „Nein“ zur These. Solche Beispiele finden sich bei fast jeder Partei, außer der rechtsextremen NPD: Sie verzichtet ganz auf Begründungen zu ihren Ansichten und muss sich so auch nicht in Widersprüche verstricken.

Die Thesen erlauben weder extreme Positionen noch Innovationen – alles befindet sich im politischen Mainstream. Nun wird mancher argumentieren, die Frage nach Staatsbeteiligung an Banken sei doch radikal. Das mag stimmen, aber ohne die weltweite Finanzkrise wäre diese Diskussion sicherlich nicht auf der aktuellen politischen Agenda gelandet. Und diejenigen, die die Agenda bestimmen, sind in den meisten Fällen die großen Parteien.
Wer erinnert sich noch an die Diskussion um das Dosenpfand? In der letzten Ausgabe des Wahl-O-Mat im Jahr 2005 wurde die Frage nach seiner Abschaffung tatsächlich als eines der (damals 30) bewegendsten Themen der Republik in die Abfrage aufgenommen. Wirklich näher käme man dem politischen Profil von Parteien abseits der politischen Mitte mit Thesen wie „Errichtung einer Eurasischen Landbrücke unter Nutzung der Magnetschwebebahntechnologie“ (Bürgerrechtsinitiative Solidarität), „Todesstrafe für schwere Drogendelikte“ (NPD-Forderung), oder „Internationaler Klassenkampf - organisiert die Welt aus den Angeln heben“ (MLPD).

Bevor nun der Eindruck entsteht, der Autor halte den Wahl-O-Mat für ein Werkzeug des Teufels: Ganz so schlimm ist es nicht. Das Online-Tool kann sicherlich Interesse an der Bundestagswahl wecken. Das generelle Interesse an Politik oder ein besseres Verständnis für sie fördert es aber nicht. Und ohne diese beiden Faktoren wird es für den Wähler schwierig, am Sonntag eine (für ihn) sinnvolle Wahlentscheidung zu treffen.

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