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Jura - nein danke
GESELLSCHAFT | LIEBE ZUM BERUF (15.03.2005)
Von Astrid Weih
Schon praktisch gesehen ist es verrückt, Jura zu studieren. Struktur und Ablauf des Studiums sind mehr als nur veraltet.

Vor einigen hundert Jahren war es vielleicht noch möglich, sich einen Überblick über das geltende Recht zu verschaffen und sich als Rechtskundiger im damaligen Normensystem kompetent zu bewegen. Heute jedoch, wo alles geltende Recht in Papierform ohne Schwierigkeiten den Saal eines Schlosses ausfüllen könnte, ist es tatsächlich unmöglich, jede Norm zu kennen. Wenn man dazu noch bedenkt, dass all die Bücher, in denen das, was geltendes Recht ist, näher erläutert, Juristendeutsch übersetzt oder um die Bedeutung der verwendeten Worte diskutiert wird, ganze Bibliotheken ausfüllen, liegt es auf der Hand, dass Professionalität in der heutigen Zeit Spezialisierung voraussetzt. Abstrus ist es daher, wenn der Jurastudent an der Oberfläche unzähliger Rechtsgebiete kratzen soll, die sogenannten Basiskenntnisse in unterschiedlichsten Bereichen erwerben soll, um am Ende der aussichtslosen Versuche, all die Daten auf seiner intellektuellen Festplatte unterzubringen, als sogenannter Generaljurist angeblich zum Richteramt befähigt zu sein.

Semesterferien sind dem jungen Juristen unbekannt. In diesen schreibt er Hausarbeiten, in denen ein Fall völlig abseits des Lebens bis zum kleinsten Detail theoretisiert und abstrahiert wird. Blass und überarbeitet trifft man den strebsamen Jungakademiker an, der so wohl auf sein Berufsleben vorbereitet werden soll. Die 4 Punkte, die zum Bestehen einer Klausur nötig sind, werden von erfahrenen Semestern gern als die magischen 4 Punkte bezeichnet. Das Wort Magie mutet seltsam an, wenn Anforderungen so hoch gestellt werden, dass es selbst bei größtem Bemühen nicht selten eine Frage des Zufalls ist, ob man wenigstens 4 von 18 Punkten erhält oder nicht. Kein Wunder, wenn früher oder später das Selbstbewusstsein leidet und Jurastudenten zu den guten Kunden des Psychologen zählen. Ausgerechnet diejenigen, die anderen Menschen später helfen und ihnen bei ihren Problemen Halt bieten oder möglicherweise sogar über Recht und Unrecht entscheiden sollen, werden systematisch überfordert und in seelische Not gebracht. Ältere Juristen haben häufig eine unangenehme, überlegen-väterliche Art und machen es damit dem Anfänger schwer, sich geleitet, aufgehoben und geachtet zu fühlen. Persönlichkeitsentwicklung zählt nicht zum Studieninhalt. Fremdsprachliche Bildung, Rhetorikkurse, Förderung sozialer Kompetenz - die Stimmen sind laut, die danach rufen. Doch unbeachtet prallen sie an der Mauer des Bestehenden ab. Diejenigen, die etwas ändern könnten, haben ja ihr Examen in der Tasche. Ihr Bankkonto ist voll. Sie existieren davon, dass die Lage so misslich ist, warum sie dann ändern?

Jura - die Lehre von der Gerechtigkeit. Gerechtigkeit, theoretisch verstanden als das Finden von Lösungen und Kompromissen im Falle des Aufeinandertreffens verschiedener Interessen, streitender Individualität oder eines Ressourcenkonflikts. Recht und Gesetz sollen im Idealfall eine kreative Möglichkeit sein, das friedliche Zusammenleben der Menschen zu bewirken und damit gesellschaftlichen Frieden zu sichern.

Im ersten Semester bekommt man vorgetragen, dass das Rechtssystem den Zusammenhalt einer Gesellschaft sichert, indem natürliches Vertrauen (welches ab einer größeren Anzahl zusammenlebender Menschen nicht mehr vorhanden sein kann) durch Systemvertrauen in allgemein gültige von jedem verstandene und anerkannte Regelungen ersetzt wird. Das Alltagserleben zeigt jedoch, dass die Regelungen vom Gesellschaftsmitglied weder verstanden und anerkannt sind, noch, dass ein Vertrauen darauf möglich oder berechtigt wäre. So verwandelt sich der wohlige Schauer, den die Rechtssoziologie, -philosophie und -psychologie im ersten Semester hinterlassen haben mögen, recht schnell zu einem kalten Erschaudern angesichts der juristischen Realität in einem modernen Rechtsstaat, der sich mit Demokratie, Sozialität und der Wahrung der Menschenrechte brüstet. Trotz gut gemeinter theoretischer Ansätze dient unser deutsches Rechtssystem in erster Linie einem anderen Zweck als dem der Gerechtigkeit. Seine Erschaffer und ständigen Veränderer sitzen nicht zufällig auch in den Aufsichtsräten der großen Wirtschaftsunternehmen. Die Befürchtung kommt auf, dass man als Bürger keine echte Wahl bezüglich seiner Rechtsvertreter hat, die Macht eines Politikers nicht weit über diejenige einer Marionette hinaus geht und das Ganze irgendwie in Zusammenhang mit einer materiellen, oberflächlichen und künstlichen Gesellschaftswelt stehen könnte.

Dennoch fällt die Entscheidung schwer, das Studium abzubrechen. Schuldgefühle den Eltern gegenüber, die die monatliche Finanzkraft zur Verfügung stellen, die Ahnungslosigkeit, was man anderes machen sollte und die Angst sich als Versager zu fühlen oder angesehen zu werden, sind die üblichen Gründe. So kämpft sich der (ver)zweifelnde Student nicht selten bis zu 10 Jahre durch das Studium. Wenn er Glück hat, mit dem erhofften Abschluss in der Tasche.

Endlich darf man sich Rechtsreferendar nennen und hat sogar mit echten Fällen zu tun. Spätestens jetzt hat man das Gefühl, gar nichts für die Praxis Brauchbares gelernt zu haben, was sich bei dem schnellen Durchlauf durch die praktischen Stationen auch nicht groß ändert. Diesmal geht es neben den 4 Punkten auch um das Prädikat "praktisch verwertbar". Den im Staatsdienst eingesetzten Jungjuristen überrascht womöglich, dass "praktisch verwertbar" nicht unbedingt auch "rechtlich korrekt" bedeutet. Denn nicht selten steht das politisch gewünschte Ergebnis über gesetzlicher Richtigkeit. Wer die Chance nutzt, verbringt fünf Monate im Ausland. Im geschickt gewählten Einsatzort kann man vom deutschen Beamtensold wie ein König leben und sich vom letzten Jahrzehnt seines Lebens erholen. Unbeschwert genießt, wer sich nicht jetzt gerade die Sinnfrage stellt.

Die Durchfallquote des Zweiten Staatsexamens ist immerhin recht gering, so dass die meisten Referendare schließlich Volljuristen werden. Die Eltern atmen auf, in der Annahme, dass ihrem Schützling nun endlich alle Türen offen stehen. Und die Eltern der Jahresbesten haben sogar annähernd recht damit. Auf die Väter und Mütter der vorsichtig geschätzt über 90 % Absolventen mit nur durchschnittlichen Examensnoten, d.h. unter 6,5 Punkten (von 18!), kommen dagegen neue Sorgen zu, denn der Arbeitsmarkt für Juristen ist nicht mehr das, was er mal vor 10 Jahren war. Nachmittags sehen sie im Fernsehen die Sendungen aus dem Gerichtssaal und abends Serien von erfolgreichen, gewitzten Anwälten, die selbstredend den Armen und Schwachen zur Seite stehen. Angesichts dessen können sie kaum glauben, dass ihr armes Kind nun möglicherweise Taxi fahren muss, bis es vielleicht bei der zweihundertsten Bewerbung als einer von mehreren hundert Interessenten erfolgreich zum Vorstellungsgespräch eingeladen wird und für eine Mindestentlohnung eine 50-Stunden-Woche schrubben darf, ohne eine wirkliche Wahl bezüglich seiner Klientel oder seines Aufgabenbereiches zu haben.

Idealisten sollten sich ein Jurastudium darum lieber nicht antun ... oder ... sollten gerade sie es?
   



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