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Mitfahrgelegenheit
KULTUR | KURZGESCHICHTE (15.07.2008)
Von Katharina Nocun
Zuerst starrten wir uns nur über unsere zeitungen hinweg verschämt an, der alte mann in dem anzug und ich. Dann begann das gespräch, auf seinen anstoß hin wohlgemerkt. Ich wäre auch viel zu verschüchtert gewesen um es ins rollen zu bringen. damals. Er fragte mich, was ich vom kommunismus halte.

Er sah alt aus, verstaubt wie ein buch, das lange keiner mehr ausgeliehen hat, in der hintersten ecke der bibliothek würde er stehen, bei den unbeliebten romanen aus dem 18. jahrhundert oder auch bei dem originalwerk darwins über seine reise zu den galapagosinseln in der abteilung für biologie (als ich einmal jahre später wegen einem referat danach fragte, war es verkauft worden, da niemand es je ausgeliehen hatte).

Kommunismus, ja, was war doch gleich meine meinung dazu.... meine eltern haben immer gesagt, dass es im sozialismus kein klopapier zu kaufen gab. Mein lieblingsbuch war damals 1984. Der kommunismus befand sich immer im krieg, im krieg mit dem kapitalismus. Genau so wie sich der kapitalismus im krieg mit dem kommunismus befand. Ideologien auf landkarten gepresst. Es war ein glaube, eine religion, die keinen zweiten gott neben sich duldete (ob er nun klopapier oder die ewige erlösung bot).

Ich sagte, kommunismus sei eine gute idee, eine gute idee, wenn da der mensch nicht wäre. Der mensch, der nun einmal keine maschine ist, und der fehler macht und öl verliert. Und lieber faul in der sonne liegen will, als die ausdünstungen einer fabrik einatmen zu müssen. Fortschritt riecht nun einmal meist nicht gut. Ich sagte, dass das system nicht funktionieren kann, weil menschen daran beteiligt sind. Und menschen sind nicht perfekt.
Der alte mann runzelte die stirn, schwere falten wie aus dickem brokat legten sich über seine stirn. Er bräuchte jemanden, der ihm die gut durch ständiges stirnrunzeln ausgebildeten stirnfalten hält und abstützt, sonst würden sie eines tages seine augen verdecken, dachte ich mir und schaute ihn nachdenklich an. Wahrscheinlich legte ich in diesem moment den grundstein für die meinigen.
Sein rücken versteifte sich, er nahm haltung an und sagte ernst, stalin hätte mehr menschen umgebracht als hitler. Ein mörderisches system sei der kommunismus, teufelswerk, so wie der faschismus. Von gott verlassene systeme, von menschen erdacht um die menschen zu knechten.
Er fing an zu rechnen, rechnete die gefallenen an der front mit den kriegsgefangenen zusammen und rechnete weiter bis nach sibirien und noch weiter, verrechnete die summe mit toten juden und polen. Vor meinen augen addierte und multiplizierte er leichenberge als wären es bakterienkulturen in einem versuch über zellteilung...ich sollte bloß nicht denken, das er einer ideologie nachsprach, es ging um fakten, das sollte ich merken.

Nur der glaube könne uns retten, sagte er unvermittelt, mitten in dieser gleichung der vermissten und tot geborgenen. Der glaube an gott, natürlich, nicht der an stalin oder hitler. Was hätte denn noch angesichts dieses menschengemachten grauens bestand, außer dem glauben an eine höhere Instanz...und ich, ich sollte ihm glauben, das merkte ich schnell. Der anzug und die falten strahlten eine aura der kompetenz aus. Die ehrwürdige, respekt verlangende erfahrung mit dem leben verkörperten die stirnfalten. Er war ein gesamtkunstwerk mit seiner genauso zerfurchten und zerknitterten zeitung in der hand.
Er saß noch gerader als zuvor da in seinem federkernsitz und die landschaft zog an uns vorbei, düsseldorf hatten wir schon längst hinter uns gelassen, die sonne schien und die bäume wippten im zugfenster auf und ab und verschwanden wieder. Begrenzte horizonte hat man hier, der viereckige zugfensterkasten ist das maß der betrachtung. Die sonne verfing sich ab und zu in unserem staubigen abteilungsfenster, seine stirnfalten warfen nun schatten und ich fragte mich, ob er noch gerader sitzen konnte. Ich persönlich hielt es zwar für unmöglich, sein rückrad müsse doch irgendwann aus dem fleisch springen, wenn der zug nur noch ein wenig mehr wippt. Nur ein wenig mehr.

Das bildungssystem ist der schlüssel, sagte er unvermittelt in die pause hinein und kniff die augen zusammen. Das bildungssystem forme das system langfristig wie nichts anderes. Hitler hätte das gewusst und stalin, fuhr er fort, nun die gestik der mit manschetten bewehrten arme zur unterstützung nehmend. Warum gab es den bund deutscher mädel, warum die jungen pioniere? Er sah mich in dieser rhetorischen (ja, das merkte ich sehr wohl) pause erwartungsvoll an. Ich starrte auf seine manschettenknöpfe und seine zusammengekniffenen augen, die großen täler seiner falten und dachte, dass er doch wie ein verbitterter lehrer wirkte. Und lehrern zeigte man keine emotionen, so viel hatte mich das bildungssystem gelehrt (eine weisheit, die wohl in fast jedem system überlebenswichtig scheint). Gib dem lehrer das was er hören will und du bist fein raus. Also weitete ich meine augen und sah ihn an. Manipulation vielleicht, sagte ich. Nur ein wort : ma-ni-pu-la-tion, und ich zog es wie kaugummi auf meiner zunge, ließ durch meine lippen immer nur silbe für silbe ins abteil dringen. Rollte die augen dabei fragend, als wenn ich mir nicht ganz sicher wäre und nur seine ausführungen mich zu dieser vermutung gebracht hätten. Lehrer mögen so etwas.
Ja, richtig, sagte er mit fester stimme und schlug unvermittelt auf das polster, die gestalt wippte und wankte. Ich hatte das richtige stichwort anscheinend gefunden, der vortrag konnte nun wieder weitergehen. Ich sage dir, kind (so kindlich fühlte ich mich gar nicht mehr): wer die bildung kontrolliert, kontrolliert die gesellschaft. Lügen können auf diese weise in die köpfe der menschen gepflanzt werden und mitwachsen. Nimm nur als beispiel hierfür die evolutionstheorie. Er richtete sich noch gerader auf, bevor er fortfuhr, und daran merkte ich, dass er den kern seiner rede nun erreicht hatte (zu einer rede war es inzwischen wohl angewachsen, da ich nicht sprach und auch nicht zu sprechen hatte). Ich war nur der stichwortgeber. Gerader zu sitzen war definitiv ganz vollkommen ausgeschlossen. Ein wenig sorgen machte ich mir schon, wusste ich doch, dass die knochen alter menschen beginnen morsch zu werden wie altes holz. Osteoporose, poröse. Ob sein rückgrat wohl gerade oder gesplittert brechen würde?

Ein paar menschen haben knochen ausgegraben und behaupten nur auf diese knochen gestützt, dass es so etwas wie evolution geben würde (mir schauderte es, woher hatte er gewusst, dass ich an knochen dachte). Aber ich frage dich, sind wie nachfahren der affen oder nicht eher ein abbild gottes? Wenn auch nur ein mangelhaftes und oft fehlgeleitetes. Wie groß mag wohl die wahrscheinlichkeit sein, dass sich ein derart komplex ausgestaltetes biologisches system wie das menschliche gehirn ausbildet. Haben wir nicht im gegensatz zu den affen noch zusätzlich eine seele, eine gabe der erkenntnis, einzigartig in der natur? Ist es nicht unwahrscheinlich, dass die evolution nur ein einziges vernunftsbegabtes wesen, den menschen, erschuf? Wo bleibt da die vielgerühmte konkurrenz und vielfalt der arten? Ist es da nicht eher wahrscheinlich, dass die bibel doch wahrheit spricht. Er musste luft holen, so aufgebracht schien er mir über die dinge die er sprach und er kramte ein stofftaschentuch aus der hosentasche, um sich über die faltige stirn zu wischen. In den abgründen seiner falten blieben tote flussarme aus schweiß zurück. Bei jedem weiterem stirnrunzeln würden sie weiter mäandrieren und sich an anderer stelle wieder eingraben. Renaturierte sorgenlandschaften.
Keine theorie kann bewiesen werden, keine von beiden, und doch wird darwins tagtraum in unseren schulen gelehrt. Sollte hier nicht die demokratische freiheit, sich selbst das auswählen zu können worin man unterrichtet werden soll, greifen? Die armen kinder können doch noch nicht die tragweite dessen erkennen und abschätzen, die armen kinder. Er schüttelte den kopf und sah mich mitleidig an. Auch ich sah ihn mitleidig an. Ich für ihn das kind, das ich nicht wahr, unschuldig, was ich nicht war und er für mich der alte verbitterte mann, der er wahrscheinlich irgendwie doch nicht ganz war. Doch um so tief blicken zu können reicht die strecke zwischen köln und endstation nicht aus.

Dann sind sie also ein kreationist, sagte ich. Er schaute mich an, verwirrt über meine kenntniss der fremdwörterlandschaft dieser welt und runzelte ein letztes mal die stirn. Erst in der letzten ausgabe meiner liebsten zeitschrift hatte ich einen artikel über kreationisten als politische machtfraktion in den vereinigten staaten von amerika gelesen. Hatte mich noch ein wenig über die weltfremdheit einiger amerikanischer provinzen amüsiert, da sie doch so sehr mit dem sonst stets in den medien präsenten bild des modernen liberalen amerika kollidierten. Meiner auffassung nach jedenfalls.
Mag sein, dass sie uns so nennen, jedoch bin ich der meinung, dass wir einfach nur unseren gesunden menschenverstand zu gebrauchen wissen und nicht unüberprüfte theorien und mutmaßungen an unsere kinder tragen wollen.

Nächster halt duisburg hauptbahnhof, leierte die frau, die alle stationen deutschlands beim namen nennen kann, vom band.

Denk an meine worte. Er sagte nun nicht mehr kind zu mir. Wenigstens etwas. Glaube nie unvoreingenommen das was sie dir in der schule erzählen. Gott weiß die wahrheit und hat sie uns gegeben, nur ist der mensch anscheinend zu unfähig sich dies zu herzen zu nehmen. Ich bemerkte, dass die subtilität der argumentationslinie nun stark verkürzt und gedrängt in der kurzen strecke, welche uns noch vom duisburger bahnhof trennte, keinen platz zu finden schien.
Die erde wurde also in ein paar tagen geschaffen, wollen sie mir das damit sagen? Ich legte meinen kopf schief und schmunzelte. Nun, da unsere fahrgemeinschaft sich dem ende zuneigte und ich nicht mehr gezwungen war ihm gegenüber zu sitzen um nicht wegen schwarzfahrerei belangt zu werden, hatte ich mut zur ehrlichkeit. Und er selbst hat die skelette mit zerfallenen kohlenstoffatomen angereichert damit man bei der rückrechnung der radioaktivität eine falsche jahreszahl herausbekommt. Lassen sie mich raten: Die sintflut war die eigentliche todesursache, verursacht durch die verderbtheit der menschen. Interessante theorie, haben sie auch beweise? Unschuldiges interesse, in freundliche worte verpacktes offenkundiges misstrauen. Kind sein ist doch so schön, manchmal.
Lies nach in der bibel, antwortete er mir und fing an seine sachen zusammenzupacken, die zeitung zu erst (es war die frankfurter allgemeine). Wir tuckerten über die duisburger vorortnetze der bahn. Viel zu viele sich schneidende blutbahnen des wochenendverkehrs. Man hörte den zug nun leiser, bedächtiger sein benzin durch die venen pumpen.

Als er aufstand und sich verabschiedete, natürlich nicht ohne mir alles gute auf all meinen wegen und umwegen zu wünschen, blieb nichts von ihm mir gegenüber zurück als eine kuhle im polster und aufgewirbelter staub. Ich betrachtete die erst langsam und allmählich, dann immer schneller vorbeiziehende landschaft der menschlichen natur der städte, und dachte nach. Dachte an all die bücher, die die weisheit in sich gehortet haben sollen, und mir fiel auf, dass jeder glaube ein buch hat auf das er sich stützt und nie zuvor war mir die macht der bücher so deutlich vor augen geführt worden, wie durch diesen alten mann.
Nie zuvor hatte ich dergleichen parallelen zwischen menschlichen synapsen und satzbau und wortstellung gesehen. Es war fast so als hätten seine worte fußnoten gehabt, mit den passenden bibelzitaten gespickt. Nur leider konnte ich ihn nicht sehen, diesen imaginären anhang. Und so hatte mir der alte mann wenn auch nicht seine wahrheit, so doch eine andere, vielleicht womöglich noch tiefere nahegebracht. Ich wusste, sie müsste erst reifen und wachsen, aber irgendwann würde ich ihn vielleicht verstehen, den menschen und seine beziehung zu den buchstaben. Vielleicht durch die gedanken anderer menschen, wenn ich nur lang genug mitfahren würde ohne einzuschlafen. So lange ich sie beobachten würde, dachte ich, könnte mein wissen nur größer und nicht kleiner werden. Hinter jedem buch steht ein mensch und hinter jedem menschen steht ein buchregal. Und ich stand auf, nach einer weile, als der zug seine volle fahrtgeschwindigkeit erreicht hatte, um meine nächste mitfahrgelegenheit zu finden.
   






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