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Filme für die Freiheit
KULTUR | ETHNO-FILMFEST (15.03.2005)
Von Jörg Rostek
Zwei Personen im falschen Kinosaal, sie flüchten unter dem fast befreiend wirkenden Gelächter der Anwesenden, dann auf der Leinwand, unsagbarer Schmerz. Eine muslimische Frau erzählt, wie sie ihre 14-köpfige Familie verlor... Wer glaubt, er kenne Indien, war nicht auf dem 2. Münster Ethno-FilmFest im Cinema.

Reger Applaus am Ende des ersten Filmes zu Ehren von Rahul Roy, teils höflich, teils begeistert. Diskussion. "Wie fanden Sie Ihre Hauptdarsteller, Herr Roy?", usw. In Deutschland weiß man nur wenig über Indien. Wenig Wissen, wenig Fragen. Das Publikum betrachtet Ausschnitte indischen Lebens: indische Hoffnungen, Träume und Enttäuschungen, unübersehbares Gewimmel in indischen Straßen. Männer beherrschen das Stadtbild. Wo sind die Frauen in diesem Land? Obwohl sie auf der Leinwand in Rahul Roys Dokumentarfilm "Majma-Performance" nicht sichtbar sind, bleiben sie dennoch ständig präsent, alleine durch ihre Abwesenheit. Nur einmal kommt eine Frau zu Wort und Rahul Roy fragt sie: "Bist du glücklich?" Indien ist männlich. Marktschreier bieten lautstark ihre Waren an. Aslam verkauft Medizin gegen Impotenz, argumentiert, versucht mögliche Käufer von der Qualität seiner Ware zu überzeugen. Gestikuliert, umgeben von neugierigen braunen Männeraugen. Am Ende der Show erstehen einige, misstrauisch dreinblickend, eine rote Pampe in Einmachgläsern. Diesen Beruf hat Aslam nie gewollt, so sagt er später, aber was hätte er den sonst anderes tun sollen als das Geschäft des Vaters zu übernehmen, dem er voll Missgunst gegenüber stand. Sein Sohn ist auch dieser Meinung. Ob er auch denselben Pfad einschlagen wird, bleibt offen. Szenenwechsel. Männer, die schwitzend und schnaufend miteinander ringen. Ihr Lehrer dirigiert sie mit einem langen weißen Stock, gibt harsche Befehle. Vor der Kamera erklärt er dem Zuschauer mit geschwällter Brust seine Lebensphilosophie. Heutzutage gebe es keine richtigen Männer mehr, aufgrund der modernen unreinen Sexualmoral, so klärt er uns auf, und wegen der schlechten Ernährung. Die Frau, die Rahul Roy fragt, ob sie glücklich sei, war die seine. Später erfährt man, dass Khalifa Barkat außerdem zur Marktpolizei gehört und er kurzerhand die Quadratmeter für seine Ringerschule "annektiert" hat. In Indien ist wohl nichts so wie es scheint. Nur die Armut, die ist offensichtlich. Sie schläft mit den Menschen auf der Straße. Sie speist und umarmt sie, kleidet sie und lenkt ihre Schritte. Und doch spricht aus den Augen der Armen die Hoffnung. Dieser Film war noch gnädig.

Was man weiter sah und hörte: Gesang, Lyrik, nach Freiheit schreiend, Frauen, die für ihre Rechte kämpfen und einstehen. Musik, die nur aus Klatschen oder vereinzelten Trommelgeräuschen besteht, Lieder über das Leben der indischen Unterschicht, ein Sänger hat Tränen in den Augen vor Trauer und Sehnsucht nach Gerechtigkeit, kurz schmeckt das Bier nicht mehr. Indische Kinder, die fleißig und aufgeregt ihr Gelerntes aufsagen. Ein Kind blättert durch sein Lexikon und entdeckt die Welt, erzählt fasziniert was es sieht. Kinder, die ein besseres Englisch sprechen als ich mit meinen dreiundzwanzig Jahren, Lebensfreude leuchtet aus ihren Augen, heiteres ansteckendes Gelächter in Schulen und einige Zuschauer im vierzig Quadratmeter großen Kinosaal des Cinema lachen mit, Kleinkinder, die begeistert die Kamera umtanzen, ältere Mittelschüler, die vor der Kamera davonlaufen. Abgestumpfte Phantasie. Bildung scheint auch ihren Preis zu haben. Indische Frauen erzählen von ihrer Pubertät, wie sie sie erlebten. Sie beschreiben die Veränderungen ihres Körpers und ihre Reaktionen darauf und lachen, während sie einen weiblichen Grundriss, ein Abbild auf einen menschgroßen Bogen weißes Papier zeichnen und beständig Charakteristika des Frauenkörpers hinzufügen, eine Szene von Frauen für Frauen, Männer hören andächtig zu. Aufklärung in einem Land ohne Aufklärung.

Zwangssterilisationen bei indischen Frauen und Männern in den 70ern, Söhne gebären als gesellschaftliche Pflicht und Zwang, eingeschlossen sein, acht Kinder, wie viele werden überleben? Sterilisationen und Abtreibungen, durchgeführt ohne Narkose. Das Gesichter von Frauen auf dem Operationstisch, schmerzverzerrt, ihre Münder werden zugehalten von der gummiüberzogenen Hand der Krankenschwester, damit sie nicht schreien, eine versucht etwas zu sagen, doch durch die Finger kann der Zuschauer es nicht verstehen. "Ich will einen Sohn", so der Wunsch der indischen Frau, nein, der indischen Gesellschaft. Mädchen sind wenig wert. Sterilisationen wie am Fließband. Auf der einen Seite warten die einen, auf der anderen Seite trauern die anderen um ihre Fruchtbarkeit, schmerzgekrümmt, dazwischen erläutert ein indischer Arzt seine revolutionäre und ökonomische Sterilisationsmethode und rammt dabei einer weiteren Frau ein armlanges Rohr in den Unterleib. Der Verlust der Fruchtbarkeit wird entschädigt, und zwar mit Geld. Die Entschädigten unterschreiben ihre Zustimmung mit ihrem Fingerabdruck. Das Einzige, das noch fehlt ist die Zustimmung des Ehemanns. Unternehmen, die dem Staat willige Patienten zuführen und dafür eine Prämie kassieren. Eine Industrie. Implantate, verkauft von US-Firmen an "Entwicklungsländer", die der staatlich verordneten Verhütung dienen sollen, jedoch mit drastischen Nebenwirkungen. Sie sind unwissende Versuchspersonen, im Laufe der Zeit wurden diese Implantate an 3.500 Inderinnen getestet. Dann ein Werbespot. Drei Tomaten in einem Einmachglas. Ein Deckel wird von oben darübergestülpt. Da in das Glas keine drei Tomaten Platz finden, werden alle vom Deckel zerquetscht. Dazu der Werbeslogan: "One or two, thats enough. Plan your family."

Zwei Personen im falschen Kinosaal, sie flüchten unter dem fast befreiend wirkenden Gelächter der Anwesenden, dann auf der Leinwand, unsagbarer Schmerz. Eine muslimische Frau erzählt, wie sie ihre 14-köpfige Familie verlor, alle verbrannt, getötet bei Pogromen von radikalen Hindus gegen die muslimische Minderheit, sie lächelt trotzdem, hat nicht den Verstand verloren vor Trauer und Schmerz, und weint schließlich doch. Manipulierte indische Medien, vor allem Zeitungen. Erwachsene, die nichts gesehen haben wollen, Kinder, die alles gesehen haben und berichten. Und überhaupt Berichte. Berichte über grausame menschenverachtende Taten. Und dann darüber Berichte. Wie abgestumpft man als Zuschauer schon ist. Schon vieles gewohnt. Alles schon gesehen. Vielleicht in den Abendnachrichten, aber die sind entschärft und so stockt schließlich doch den Zuschauern des 2. Münster EthnoFilmFestivals der Atem als eine Frau berichtet, wie sie aus ihrem Versteck beobachtete, wie unbekannte Männer mit Schwertern ihre schwangere Schwester aufschlitzten und sie sah, wie der Embryo an der Schwertspitze baumelte. Auch die verbrannten und zerstörten Gebäude zeugen von den Grausamkeiten, verübt im Dunkel der Nacht. Und hinter mir gähnt jemand. Junge Mädchen, die von der Ermordung ihrer Mutter erzählen, ein Photo hochhalten und ihr wie aus dem Gesicht geschnitten scheinen. Menschen aufgestachelt von machtgierigen Politikern, Menschen werden abgeschlachtet und dann ist nichts gewesen. Sogar Wahlmanipulationen zugunsten der Mehrheit zulasten einer unterdrückten Minderheit, die mit dem Rücken zur Wand steht. Verfolgung und Tod, Qual und Entsetzen, ein Filmfestival des Schreckens, nicht zu (er)fassen. Mütter, die mitansehen mussten, wie ihre Tochter vergewaltigt wurden. Sie sprechen zu uns, zum Publikum, wollen gehört werden. Stimmen aus einer anderen Welt, die doch die unsere ist.

Politischer Widerstand in Indien formiert in Organisationen. Trotzdem konnten sie den Bau der Staudämme nicht verhindern. Fünf Inderinnen in einem Boot aus Holz, eine zeigt in das braune aufgestaute Wasser. "Hier ist unser Dorf." Und immer wieder dieser indische Staat, dem die Menschen scheißegal sind. Dämme, die auf einen Schlag 400.000 obdachlos machen, schon bevor das Wasser gestaut wurde. Dazu genügt eine Unterschrift unter einen Kaufvertrag. Deutsche Unternehmen wie Siemens bauen fleißig mit, das schafft schließlich Arbeitsplätze. Menschen, die nie das Land erhielten, das ihnen ersatzweise versprochen wurde und falls sie es doch bekamen war es trocken und öde, ausgetrocknet auch als folge des Staudammbaus. Doch Menschen können sich auch wehren. Der Projektor füllt die weiße Leinwand, zeigt Menschen, demonstrierend für ihr Recht auf Selbstbestimmung, Bilder des Widerstands gegen die verhassten Staudämme, Bilder des Mutes. "Unser Dorf ist unser Dorf, bleibt unser Dorf." Polizeieinsatz, die Dorfbewohner werden weggetragen, raus aus den Ministerien, raus aus ihrem Dorf, indem sie seit Jahrhunderten lebten, werden hinausgetragen in eine ungewisse Zukunft, damit das Wasser ungehinderte Bahn hat, um alles zu überschwemmen. Vor unseren Augen überschwemmt das Wasser die indische Demokratie.

Gandhi flimmert über die Leinwand, wird erschossen, wird begraben, unter trauernden Menschenmassen begraben. Da steht ein Dorf einen Steinwurf entfernt von einem Atombombentestgebiet und während die Dorfbewohner vor der Kamera befragt werden, kann man das Dröhnen von weiteren Bombentests vernehmen. Die Antiatombombenbewegung ist sehr aktiv in Indien. Aber die Polizei auch und deshalb werden sie abgeführt und interniert. Grenzen spalten die Menschheit. Inder die sagen, dass sie die Pakistani hassen, Pakistani, die sagen, dass sie Indien in die Luft jagen und in Stücke reißen wollen. Brennende Puppen eingewickelt in die Fahne des Feindes. Der indische Militärcode für einen erfolgreichen Atombombentest: "The Bhudda is smiling." Der Premierminister, damals noch Vajpayee, besucht das Testgelände, blickt in ein Loch und geht wieder. Er kostet nicht das verseuchte Wasser des nahegelegenen Dorfflusses. Er lernt nicht die, zum Wohle des indischen Stolzes, radioaktiv verseuchten Dorfbewohner kennen, die bald am Krebs zugrunde gehen. Sucht nicht die entstellt Geborenen. Vielleicht bemerkt er, dass es hier weniger Tiere gibt als anderswo im ländlichen Indien. Verendet, allesamt. Zwei Atommächte, die sich hassen. Und trotzdem verfolgen wir mit der Hilfe der Kamera ein friedliches indisch-pakistanisches Freundschaftstreffen. Sehen Menschen, die sich lächelnd umarmen, Gesänge für den Frieden anstimmen, tanzen und durch ganz Indien marschieren für den Frieden. Während sie auf ihrem Marsch Unterschriften gegen die atomare Bewaffnung Indiens sammeln, werden sie von Passanten gefragt, ob sie nicht stolz seien auf die von Indien erlangte Errungenschaft. Denn schließlich sei man jetzt wer. Jetzt erst sei man auf der Weltkarte, dank der Atombombe. Nein sagen sie, sie seien gegen eine Wiederholung von Hiroschima und Nagasaki und marschieren weiter. Und Eltern erzählen von ihren gefallenen Söhnen. Pakistani und Inder besuchen gemeinsam die Gedenkstätten in Hiroshima und Nagasaki. Keine Worte können diese Bilder beschreiben, als ein Überlebender von Nagasaki beschreibt, wo sein Haus war, mit Tränen in den Augen. Menschen leben neben Uranminen und sterben deshalb an allen Krebsarten. Sie selbst werden durch die Mine ernährt, weil sie dort Arbeit finden, und sie werden dort von ihr getötet, weil sie Uran finden. Ein Mann führt einen Geigerzähler durch eine Dorfhütte. Bei normaler Radioaktivität zeigt das Gerät einen Strahlenwert von 40 an, in der Nähe der Hüttenwand schlägt es aus, auf 350.

Das 2. Münster Ethno-FilmFestival im Cinema hat gezeigt, dass man ohne millionenschwere Schauspieler und technische Ausrüstung großartige Filme machen kann. Ein herzlicher Dank gilt Rahul Roy, der dieses Kinoerlebnis zusammenstellte. Das Cinema hat ein weiteres Mal vorgeführt, was verantwortungsvolles und engagiertes Kino bedeutet. Respekt vor dem Mut der Dokumentarfilmer, die diese beeindruckenden Filme gedreht haben und sich gegen die Versuche des indischen Staates, ihre freiheitlichen Rechte zu beschneiden, zur Wehr gesetzt haben. Auch heute noch sind sie gezwungen ihre Dokumentarfilme gegen die Zensur zu verteidigen. Dokumentarfilme voller Menschenliebe, nahe am Menschen, für die Menschen und für ihr Land. Eine vorbildliche Form von Patriotismus. Dabei setzten sie viel aufs Spiel. Dieses Festival war eine Stimme der Armen und Unterdrückten, gehört von nur 250 Menschen an drei Tagen. Ein schrecklich schöner beeindruckender und erschütternder Blick aus Indien auf Indien, von unten auf die Untersten.

Programm vom 2. Münster EthnoFilm-Festival:
1. Majma - Performance, Indien 2001, Regie: Rahul Roy
2. Sitas Family, Indien 2002, Regie: Saba Dewan
3. A Night of Prophecy, Indien 2002, Regie: Amar Kanwar
4. One, Two, Three, Four..., Indien 1995, Regie: R. V. Ramani
5. Something like War, Indien 1985, Regie: Deepa Dhanraj
6. Final Solution, Indien 2004, Regie: Rakesh Sharma
7. Words of Water, Indien 2002, Regie : Sanjay Kak
8. War and Peace, Indien 2002, Regie: Anand Patwardhan


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