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Streit um Religion und Meinungsfreiheit - eine Anmerkung
GESELLSCHAFT | DEBATTE (15.02.2006)
Von Robert Laude
Die Wellen schlagen hoch in diesen Tagen. Zwölf schlechte und respektlose Karikaturen Mohammeds scheinen den so genannten 'Kampf der Kulturen' ein Stück näher gebracht zu haben.

Wir alle kennen die Fernsehbilder von brennenden Botschaften und Flaggen, Massendemonstrationen, hysterischen Vertretern der angeblich einzigen Wahrheit. Es scheint, als sei in der moslemischen Welt ein Flächenbrand entfacht, der einen Dialog unmöglich macht. Doch halten wir einen Moment inne und schauen genauer hin.

Medien vermitteln nicht das ganze Bild

Harald Jähner hat in der Berliner Zeitung [1] einen bemerkenswerten und klugen Aufsatz über die mediale Berichterstattung des Konfliktes geschrieben. Sein Fazit lautet: "Nichts ist falscher als das zu tun, wozu der Streit um die Mohammed-Karikaturen am meisten verlockt: aus ihnen direkte Rückschlüsse auf das Verhältnis zwischen den Kulturen im Allgemeinen zu ziehen." Denn der Konflikt ist komplexer, als er durch die Medienberichterstattung und besonders die Fernsehbilder scheint. Dies hat auch mit unseren Sehgewohnheiten, mit der Art, wie wir unterschiedliche Ausschnitte einer komplexen Wirklichkeit verknüpfen, zu tun. Denn: "Der Mensch nimmt Ausschnitt für Ausschnitt zusammen und beides für das Ganze. Das hat er gelernt, seit es das Kino gibt. Man sieht den Mob in Beirut, wütende Demonstranten in Teheran, Steinewerfer in Palästina und zieht den Schluss: Da steht die Welt in Brand."

Wie meist, wenn es um Nachrichten geht, muss man sich fragen, was nicht berichtet wird. Der Satz 'Nur schlechte Nachrichten sind gute Nachrichten' lockt eigentlich keinen Hund mehr hinter dem Ofen hervor; dass Nachrichten gemacht werden, ist allgemein bekannt. Und dennoch ist es wichtig, sich diese Funktionsweise vor Augen zu führen. Was fehlt, sind Meldungen darüber, wo es keine Ausschreitungen gab. So etwa in Deutschland, Frankreich, Großbritannien. Die Demonstrationen in der Türkei sind friedlich geblieben, die Reaktionen aus den nordafrikanischen Staaten Marokko, Tunesien und Algerien waren besonnen. Mäßigende Aufrufe muslimischer Organisationen weltweit werden nur kurz erwähnt und kommen in unserer Wahrnehmung nicht gegen die Emotionalität der Bilder an. "Ein paar Tausend Krawallmacher und Steinewerfer in verschiedenen Städten der Welt genügen, um unser Bild von 1,5 Milliarden Muslimen zu prägen. Die schweigende Mehrheit war noch nie stummer als in diesen Nachrichten. [...] Weil die Aufrührer in Beirut, Jakarta und Damaskus wissen, dass sie vom verängstigten Westen bereitwillig als Repräsentanten der ganzen islamischen Welt wahrgenommen werden, geben sie auf den Straßen obskure symbolische Kriegserklärungen ab." Dies ist eine Falle, in die wir nicht hineintappen sollten.

Keine Einschränkung der Meinungsfreiheit

Doch noch eine andere Falle lauert: als Reaktion auf den von diktatorischen, menschenverachtenden Regimes und Religionsführern angefachten Mob aus ungebildeten, uninformierten und frustrierten Menschen, die den Machtversessenen nicht als Kanonen- sondern als Kamerafutter dienen, die Meinungsfreiheit einzuschränken.

Zu einer offenen, demokratischen Gesellschaft gehört es, auch Provokationen auszuhalten, die immer dort entstehen, wo entgegengesetzte Meinungen und Weltanschauungen aufeinander treffen und somit den Wettbewerb der Ideen vorantreiben, ohne den sich eine Gesellschaft nicht weiterentwickeln kann. John Stuart Mill, ein englischer Philosoph, drückte die Bedeutung der Meinungsfreiheit in seinem Werk "Über die Freiheit" folgendermaßen aus:

"Das besondere Übel der Unterdrückung einer Meinungsäußerung liegt darin, dass dadurch die ganze Menschheit beraubt wird, die Nachwelt so gut wie die Heutigen, und zwar jene, die diese Meinung ablehnen noch mehr, als die, die sie vertreten. Denn wenn die Meinung richtig ist, so beraubt man die Menschen einer Gelegenheit, die Wahrheit an die Stelle eines Irrtums zu setzen; ist sie dagegen falsch, bringt man sie um einen kaum geringeren Nutzen: nämlich die deutlichere Wahrnehmung und den lebhafteren Eindruck von der Wahrheit zu gewinnen, wie sie durch den Zusammenprall mit dem Irrtum entsteht." [2]

Freilich ist es uns heute nicht mehr möglich in weltanschaulichen Fragen eine einzige gültige Wahrheit zu verkünden, erst recht nicht in Glaubensfragen. Das mag oft nicht leicht sein und die Suche nach einer verlässlichen Orientierung schwierig machen, aber das ist der Preis unserer Freiheit.

Opfer und Täter nicht verwechseln

Gerade im Zusammenhang mit Auseinandersetzungen um die Verletzung religiöser Gefühle einiger Muslime scheint es jedoch manchmal eine Tendenz in unserer Gesellschaft zu geben, diese Freiheit des Denkens allzu leicht aufzugeben und, besonders perfide, Opfer und Täter zu vertauschen. Als Salman Rushdie 1989 wegen einiger angeblich blasphemischen Absätze in seinem Werk 'Die satanischen Verse' vom iranischen Religionsdiktator Khomeini mit einer Fatwa, d.h. dem Aufruf an alle Moslems Rushdie zu ermorden, belegt wurde und daraufhin etliche Jahre im Untergrund leben musste, kamen in Großbritannien Stimmen auf, die meinten, Rushdie wäre doch selber schuld und der britische Staat solle nicht länger die Bewachung des Schriftstellers finanzieren. Als der niederländische Filmemacher Theo van Gogh im letzten Jahr auf offener Straße von einem verblendeten Moslem erstochen wurde, schoben ihm Teile der europäischen Presse und Intelligenz eine Mitschuld an seiner Ermordung zu. Er hätte eben weniger provozieren sollen.

Das sind die gefährlichen Tendenzen in 'unserer' Gesellschaft: mit falsch verstandener Wischiwaschi-Toleranz aus Hass gegen 'unsere' Werte gespeiste Verbrechen wenn schon nicht zu entschuldigen, so doch zu relativieren und den Opfern eine Mitschuld zu geben.
Vergessen wir nicht: "Religiöse Verfolgung ist niemals eine Frage der Moral, sondern immer eine Frage der Macht." [3]

Dumm ist in diesem Zusammenhang auch die Aussage von Günter Grass gegenüber der spanischen Zeitung El Pais: "Im Westen wird derzeit selbstgefällig die Diskussion über den Grundsatz geführt, dass wir das Recht auf eine freie Presse genießen. Aber wer hier nicht Selbstbetrug betreibt, weiß genau, dass die Zeitungen von Anzeigen leben, und dass sie Rücksicht darauf nehmen, was bestimmte wirtschaftliche Kräfte diktieren. Die Presse selbst ist Teil enormer Unternehmensgruppen, welche die öffentliche Meinung monopolisieren. Wir haben das Recht verloren, unter dem Recht auf freie Meinungsäußerung Schutz zu suchen." [4]

Dass bestimmte Medienkonzentrationen in Europa problematisch sind und durchaus Tendenzen zu Meinungsmonopolen bestehen, ist keine Frage. Doch spielt sie hier keine Rolle. Denn es geht ja um eine grundsätzliche Frage. Und niemand, auch wohl kein Schriftsteller wie Günter Grass, kann in Abrede stellen, dass ?bei uns' die freie Meinung ein verfassungsmäßig geschütztes Grundrecht ist.

Den Dialog suchen, ohne die eigenen Werte zu vergessen

Dennoch sind die Medien in der Verantwortung, nicht nur über islam-fundamentalistische Tendenzen zu berichten, sondern auch über die gegenläufigen Bemühungen. Denn "die Wahrheit ist, dass ein großer Kampf für die Seele der muslimischen Welt im Gange ist, und da Macht und Skrupellosigkeit der Fundamentalisten zunehmen, ist es wichtig, dass wir schnellstens mehr über jene mutigen Männer und Frauen erfahren, die bereit sind, die Fundamentalisten in einen Kampf der Ideen und moralischen Werte zu verwickeln, dass wir sie verstehen und unterstützen wie einst die Dissidenten in der früheren Sowjetunion". [5)]

Die Lösung dieser und zukünftiger Auseinandersetzungen um die Frage, in welchem Verhältnis religiöse Ansichten und die Meinungsfreiheit stehen, kann wohl nur darin bestehen, sich der eigenen Werte bewusst, auf einen Dialog mit denen einzulassen, die an einem friedlichen Miteinander interessiert sind. Denen aber, die Hass und Verachtung gegenüber dem Anderen zu Ziel haben, muss entschieden Einhalt geboten werden - egal auf welcher Seite. Dass dies keine Aufgabe von Politikern, Religionsführern und Intellektuellen allein ist, sondern uns alle angeht, macht die türkische Schriftstellerin Elif Shafak deutlich:

"Wir brauchen viel mehr Moslems, die ihren Glauben an die Demokratie zum Ausdruck bringen und jene Moslems kritisieren, die mit Hassreden auf Menschen im Westen reagieren. Wir brauchen viel mehr Menschen im Westen, die ihrer Sympathie mit moslemischen Kulturen Ausdruck verleihen und jene Kräfte im Westen kritisieren, die mit Hassreden auf Moslems reagieren." [6]

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[1] Jähner, Harald: Der Mob, die Medien und die Mehrheit. Die Bilder vom Aufruhr der Muslime sagen wenig über das Verhältnis zwischen den Kulturen. Berliner Zeitung, Nummer 34, 9.2.2006, S. 33
[2] zitiert nach: Salman Rushdie: Überschreiten sie diese Grenze! Schriften 1992-2002., S. 300. 2004, Rowohlt
[3] Salman Rushdie 2004, S. 302
[4] "Kein Kampf der Kulturen, sondern zweier Un-Kulturen" Günter Grass nennt die islamischen Proteste eine fundamentalistische Antwort auf eine fundamentalistische Tat. In: Die Welt, 13.2.2006, http://www.welt.de/data/2006/02/10/843397.html
[5] Salman Rushdie 2004, S. 334
[6] Elif Shafak: Auf der Brücke stehen. "Unsere Ideale werden von Fundamentalisten attackiert": Im Karikaturenstreit kommt der Türkei eine Schlüsselrolle zu. In: Die Welt, 14.2.2006, http://www.welt.de/data/2006/02/11/843999.html
   




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