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Weg von den Dingen
GESELLSCHAFT | AUS DEUTSCHLAND NACH BOLIVIEN (15.05.2005)
Von Michael Billig
Es ist kurz nach elf Uhr vormittags und die Tür der kleinen Bar am Pier im bolivianischen Copacabana geht einen Spalt weit auf. Ihr deutscher Inhaber wagt sich ein paar Schritte ins Tageslicht und verschwindet gleich wieder.

In der Nachbarschaft sitzen zwei junge Touristen aus Irland, genehmigen sich ein Bier und genießen den Ausblick auf den Titikaka-See. Bis zum Sonnenaufgang waren sie Gäste bei dem Deutschen und warten nun darauf, erneut einkehren zu können. "Eigentlich müsste ich längst aufgemacht haben", so der Barbesitzer, der vor 17 Jahren sein Heimatland verlassen hat. Doch die vergangene Nacht kostete ihn den Schlaf. Statt sich in die Küche zu stellen, würde er sich nun lieber ins Bett legen.

Tags zuvor war es dem Deutschen gelungen, seinen Laden in den Morgenstunden zu öffnen. Da standen einfache Holzstühle und Holztische vor der unscheinbaren Bar ohne Namen. Neben Heißgetränken und Bier bot er auch kleine Speisen an: Gulasch, Gyros Tzatziki und Chili vegetarisch oder mit Fleisch. Heute wird daraus nichts. Das Gesicht des Barbesitzers ist von Müdigkeit gezeichnet. Mit dem zerzausten, roten Bart, geflickter Jeans, Wollpullover und Wollmütze sieht er so aus, als wäre er ein Matrose, der nach monatelangen Strapazen auf See endlich wieder Landgang hat. Seine blauen Augen, eben ein typischer Deutscher, wie ein Freund bemerkte, sind klar. Er weiß, dass die Iren draußen sind. "Die haben gestern viel Mist gequatscht. Sie hatten dabei großen Spaß. Wir haben ja auch viele Drogen konsumiert", erzählt der gestrandete Seemann, der eigentlich gelernter Mechaniker ist. Und er müsste eigentlich die Bar aufmachen. "Ich brauche die Einnahmen", setzt er träge fort und zündet sich eine Zigarette an. Zunächst geht er jedoch in die Küche, um sich einen starken Kaffee zu kochen.

Während dessen kommt Coco völlig verschlafen in den Raum, wo heute die Tische und Stühle gestapelt sind. Der Peruaner erinnert mit der langen Feder eines Condors im schwarzen Haar an die Sioux-Indianer aus den Verfilmungen der Karl-May-Romane. Doch er hat nicht vor, um ein Feuer zu tanzen. Er schaltet den Fernsehapparat ein und fletzt sich auf die Couch. Der Deutsche, der kein Problem hat, über sein Leben Auskunft zugeben, aber seinen Namen nicht veröffentlichen möchte, kommt mit einer dampfenden Tasse und einem Aschenbecher zurück. Er schickt seinen indianischen Freund, der mit den Indios Südamerikas nicht viel gemeinsam hat, auf den Markt. "Er kann froh sein, dass ich ihn hier wohnen lasse", greift der Barbesitzer mit rauchiger Stimme wieder seine Lebensgeschichte auf. Die beiden haben sich vor langer Zeit in Peru kennen gelernt. Drei Jahre lebte der Deutsche in dem Land, wo es mit der Tempelanlage Machu Picchu das beeindruckendste Zeugnis der Inkakultur gibt. Damals begegnete er auch seiner heutigen Ehefrau. Kaum zwei Monate waren er und sie zusammen, da stellte sich heraus, dass die junge Frau ein Kind von ihm erwartete. Für die Familie der Peruanerin war es wichtig, dass sich die Eltern vermählten. "Also haben wir geheiratet", kommentiert der Familienvater trocken. Seine Stirn liegt in tiefen Falten. Sein Blick schweift in die Ferne. Er schweigt eine Weile und steckt die nächste Zigarette an.

Dann lacht er ein wenig, hustet und berichtet weiter: "Meine Frau meinte nach der Geburt, sie könne mit dem Kleinen nicht mehr zwischen Spinnen und Schlangen leben." Das bedeutete, dass sie dahin wollte, von wo er sich vor langer Zeit für immer verabschiedet hatte. Sie wollte mit Kind und Ehemann nach Deutschland. Für den Barbesitzer kam das aber unter keinen Umständen in Frage, so dass die Beziehung in die Brüche ging. "Ich war auf einer Demonstration gegen ein Atomkraftwerk und die Bullen haben mir den Kopf blutig geschlagen", beginnt er zu begründen, warum er schon mit dreizehn wusste, dass er einmal Deutschland verlassen würde. "Meine Eltern sagten, es geschehe mir recht", ergänzt er kopfschüttelnd. Heute ist er 36 Jahre alt. Alle paar Monate ruft er zu Hause an, obwohl man sich nichts zu sagen hat. "Mein Vater ist Jugoslawe und meine Mutter Polin. Beide sind jedoch stark von der Gesellschaft in Deutschland geprägt", so der gebürtige Schwabe. Der Vater hat 40 Jahre bei Daimler-Benz im Raum Stuttgart gearbeitet. Den Sohn hätte er gern in seinen Fußstapfen gesehen. "Die Arbeit war das wichtigste für ihn. Dann Haus, Auto und Fernsehgerät", erinnert sich der Barbesitzer. Um weiter bei den Eltern wohnen zu dürfen, absolvierte er eine Ausbildung zum Mechaniker. "Ich habe sogar abgeschlossen und war anschließend drei Jahre bei IBM tätig", betont der Auswanderer, der sich als junger Erwachsener mit seinen Ersparnissen auf den Weg nach Südamerika begab.

Ein Junge taucht unerwartet in der Bar auf und legt drei Feuerzeuge auf einen Tisch. Er hat sie auf der Straße gefunden. Der Deutsche testet sie auf ihre Funktionsfähigkeit und beginnt wieder zu rauchen. Der Junge, der vielleicht im Alter seines neunjährigen Sohnes sein mag, geht kurz in die Küche und verabschiedet sich ein wenig später mit Bananen, Orangen und einem Stück Brot in den Händen. Die Zwei haben ohne viele Worte ein Tauschgeschäft abgeschlossen. "Wegen ihm bin ich hier", kommt der Seemann noch mal auf seinen verlorenen Sohn zu sprechen. Mutter und Kind sind auf die andere Seite des Titikaka-Sees gezogen und leben im peruanischen Puno. Mit dem Bus ungefähr vier Stunden entfernt. "Ich möchte in der Nähe sein", sagt der Vater, der die beiden seit einigen Jahren nicht mehr gesehen hat.

Auch Coco ist inzwischen vom Markt zurück und hat ein Frühstück zubereitet. Während der Deutsche einen zweiten Kaffee trinkt und sich das Rührei schmecken lässt, tritt das Unvermeidliche ein. Die beiden Iren sahen den Indianer in die Bar gehen und entschieden, nicht mehr länger auf Einlass zu warten. Sie setzen sich an den einzigen benutzbaren Tisch, wo auch der Seemann verweilt und reißen ihn aus seinen Gedanken über die Vergangenheit. Sie bestellen Bier und damit ist die Bar endlich geöffnet - vermutlich wieder bis zum nächsten Morgen.
   





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