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Muslim oder kejawen?
GESELLSCHAFT | KULTUR IN JAVA (15.11.2005)
Von Serkan Demiral
Wer kennt nicht die weltberühmten Märchen des Nahen Ostens aus 1001 Nacht in denen sich Sultane in ihren prunkvollen Palästen von Untertanen bedienen lassen.

Serkan Demirel

Eine Dorfmoschee. (c) Serkan Demirel

Wohl jeder hat in Kindesjahren oder auch im Erwachsenenalter von diesen Erzählungen phantasiert. Aber gibt es denn heutzutage noch Sultane, die von ihren Palästen aus machtvoll ihr Reich verwalten und ihre Töchter mit prächtigen Prinzen verheiraten? In der Daerah istimewa Yogyakarta (Provinz mit Sonderstatus Yogyakarta) lebt Sultan Hamengku Buwono X., der neben seinem adligen Amt auch den Posten des demokratisch gewählten Provinzgouverneurs bekleidet. Im Süden Zentraljavas gelegen, gilt sein Sultanat Yogyakarta - auch kurz Jogja genannt - neben dem unweit gelegenen Surakarta als das Zentrum der javanischen Kultur, die in Moral- und religiösen Glaubensvorstellungen noch sehr stark vom javanischen Sultanspalast (jav.: kraton) beeinflusst werden. Ferner ist Jogja auch das Bildungszentrum Indonesiens, wo derzeit mehr als 300 000 Studenten in über 120 Institutionen und Universitäten ihr Studium absolvieren. Die nahe gelegene und in der präislamischen Epoche erbaute weltgrößte buddhistische Stupa Borobodur und die für den Gott Shiva geweihte hinduistische Tempelanlage Prambanan ziehen außerdem jährlich unzählige Gläubige und Touristen aus aller Welt an. Das bedeutet nicht, dass sich die Bevölkerung auch zu diesen Religionen bekennt. Im Gegenteil. Der Großteil der Menschen in Yogyakarta sind Muslime. Welches Bild erscheint nun den meisten von uns bei diesem Faktum? Eine Darstellung, welche in den letzten Jahren durch die westliche und nicht-muslimische Politik und Medien in Szene gesetzt wurde. Verabschieden Sie sich nun davon. Denn in Java malt der Islam ein eigenes Gemälde.

Wie Java zum Islam kam oder die wali songo

In dem Gepäck arabischer und indischer Händler befand sich neben verkäuflichen Waren auch ihr Glaube. Dieser traf zum ersten Mal während ihrer Reisen über die malaysische Halbinsel auf das indonesische Archipel, dessen Beweis, das im 10. Jahrhundert gegründete Sultanat Aceh im Norden Sumatras ist. Jedoch wurde der Islam auf Java erst durch die so genannten wali songo (Neun Wali) gezielt in den Anfängen des 16. Jahrhunderts verbreitet. Die Folge dessen: eine Vielzahl von Königen mit ihren Reichen konvertierten zum Islam. Heute bekennen sich ungefähr 90 Prozent der Bevölkerung Indonesiens zum islamischen Glauben. Doch stellt sich die Frage, ob all diese Menschen (Gesamtbevölkerung Indonesiens liegt derzeit bei ca. 250 Millionen Menschen) ihren Glauben auch in gleicher Form praktizieren. Die weltgrößte und mitgliedsreichste islamische Organisation NU (Nadhatul Ulama) und die in Yogyakarta durch Ahmad Dahlan gegründete Muhammadiya waren im vergangenen Jahrhundert wichtige Akteure - und sind dies auch in der gegenwärtigen Entwicklung des indonesischen Islam. Beide haben in Form von gesellschaftspolitischenen Diskursen auf verschiedene Weise einflussreiche Beiträge geleistet. Doch trotz dieser organisierten Gruppen, die mehrere Millionen Mitglieder verzeichnen, ist es auffällig, dass der Islam in verschiedensten Teilen Indonesiens auf unterschiedlichste Weise ausgeübt wird. Dies ist darauf zurückzuführen, dass die Verbreitung des Islam zu unterschiedlichen Zeiten je nach Region ungleichen Konditionen ausgesetzt war. So hat der Islam an den Küstengebieten im Gegensatz zum javanischen Inland ein ganz anderes Gesicht.

Die Hochzeit der Kultur Javas mit dem Islam

Obwohl der Koran Darstellungen von Menschen untersagt, hängen in den Hallen des kraton unzählige Portraits und Photographien der Sultane. Außerdem bewahrt bis zum heutigen Tage, wenn auch meist unter der älteren Generation, das berühmte Schattenspiel wayang kulit seine Tradition in der javanischen Kultur. Neben der Unterhaltung liefert das wayang Moralvorstellungen durch seine Charaktere und Geschichten, die auf die hinduistischen Volksepen des Mahabharata und Ramayana zurückgehen. Die aus Rindleder hergestellten Schattenfiguren wurden in der hinduistischen, wie auch islamischen Ära geprägt und zur Verbreitung der Religion verwendet. Die Kultur Javas spiegelt sich zudem auch in der javanischen Sprache und der Schrift wieder. Sie entstand aus dem altjavanischen Kawi und dem Sanskrit, welches zur Zeit der brahmanischen Gelehrten Javas als Hofsprache Verwendung fand und ist auch - jedoch gering von der arabischen Sprache und ihrer Schrift beeinflusst. Ferner setzt sich javanisch (Boso Jawi) aus verschiedenen Sprachebenen (Nggoko, Kromo Madyo und dem Kromo Inggil) zusammen, die in ihrer Anwendung von der Konstellation hinsichtlich des Status der Sprechenden abhängig ist. So spricht ein Höherstehender (priyayi) mit einem in der Gesellschaft Niedriggestellten (wong kawulo) das ungeschliffene Boso Ngokko, während sich ein Niedriggestellter mit einem Höherstehenden auf das höfliche und in den Anredeformen gewähltere Boso Kromo Inggil zurückgreift. Hier handelt es sich nicht um ein weiteres Phänomen der Kastengesellschaft. Denn Javaner sehen sich in ihrer Kosmologie als Teil eines Ganzen, welches ohne Toleranz und Respekt gegenüber den Mitgliedern ihrer Gesellschaft zerbröckeln würde - unabhängig von Status und Religion, während in einigen anderen islamischen Gesellschaften der Welt, Muslime sich von den Gruppen, die sie als Buchlose bezeichnen, also Nicht-muslimen, distanzieren. Obwohl durch die wirtschaftlichen Missverhältnisse, die politische Labilität des Landes und den Einfluss des Westens, insbesondere durch die Massenmedien, der Wunsch nach finanzieller Unabhängigkeit und somit nach Reichtum unter der Bevölkerung immer mehr zunimmt, ist die Akzeptanz der Menschen bezüglich ihres eigenen Gesellschaftsstatus auffallend. Nach der javanischen Kosmologie besteht eine grundlegende Harmonie in der Gesellschaft. Diese wird nicht von neuem reproduziert, sondern durch rechtes Verhalten gewahrt.

In Yogyakarta trifft man daher selten Javaner, die durch ihr Verhalten die Aufmerksamkeit anderer wecken, sei es nun durch lautes Preisen der Waren auf Märkten oder öffentlich ausgetragene zwischenmenschliche Streitigkeiten. Das Verantwortungsgefühl gegenüber ihrer Kultur und Mitmenschen ist sehr ausgeprägt. Dazu ein Beispiel: Ein Javaner verliert durch den Konsum von Alkohol seine Beherrschung und Kontrolle und wird ausfallend. Die Folge - jene Personen, welche diesem Verhalten beiwohnen, überkommt eine tiefe Betroffenheit und Scham, weil sie sich für diesen Menschen veratwortlich fühlen. Dies entspringt - meiner Ansicht nach - der javanischen Kosmologie. Und jene die sich eher mit ihrer Kultur als mit ihrer Religion identifizieren, nennen sich kejawen (engl. javaneseness). Das bedeutet nicht, dass sie keine Muslime sind. Nein, auch sie sind gewillt die fünf grundlegenden Pfeiler des Islam nachzugehen. Doch liegt es meist in ihrem individuellen Ermessen und Wunsch inwieweit sie diese erfüllen möchten. Demnach ist "KTP Islam" (KTP ist die indonesische Kurzform für Personalausweis, in dem auch die Religionszugehörigkeit der Personen verzeichnet wird) eine häufige Antwort der Javaner auf die Frage nach ihrem Glauben. Sie sind vor dem Staat Muslime, fühlen sich aber als kejawen. In den rituellen Praktiken des Sultan Hamengku Buwono X. und des kraton ist dies deutlich zu beobachten. Obwohl den Ritualen ein islamischer Gelehrter (Ustad) beiwohnt, sind diese Zeremonien in Symbolbedeutung und Durchführung im höchstem Maße durch die hinduistisch-buddhistischen Glaubenskonzepte Javas geprägt. Wie schon erwähnt ist der Einfluss des kraton auf die Glaubensvorstellungen der Javaner in Yogyakarta hinsichtlich der individuellen Konstruktion ihres Glaubens bezüglich kejawen und dem Islam von Bedeutung. Aus diesem Grunde ist es unzutreffend, den Islam auf Java sowie andere Regionen Indonesiens zusammenfassend als ein ganzes Gleiches zu betrachten. Denn das Gemälde des Islam in Indonesien zeichnet sich durch einen eigenen Duktus aus und ist in Technik und der Farbenvielfalt grenzenlos.

   




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