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Der Kunterbuntergang des Abendlandes
KULTUR | VERGESSENE BÜCHER (15.02.2006)
Von Antoine Sétif
... die Welt der expressionistischen Moderne im Spiegel der absurden Grotesken Klabunds.

Ein kubistischer Maler, der sich einen Würfel auf den Kopf schraubt und fortan "eckig" lebt, ein "B. d. B. (Bund des Bösen)", der den ewigen Krieg propagiert als Vorschlag für einen besseren Menschen, eine ächzende alternde Bettstatt, die auf der Suche nach einem Pfarrer ist zur Absolution - absurde Unterhaltung, wie sie nur Klabund beherrscht in seinen grotesken Prosastücken, die in der Zeit zwischen 1911 und 1921 entstanden sind. Sie bewegen sich zwischen spitzem "Ja" und "Nein", mit dem der Dichter gleich einer Lanze die menschlichen Eintagsfliegen seiner Zeit aufspießt, um sie in seiner Käfersammlung zu bewahren: "Und wer sich in gerechter Selbsterkenntnis / Für ein libellenähnlich Wesen hielt, / Der findet sich erstaunt als Mistbock wieder" sind die Eingangsworte, mit denen der Leser den satirischen Boden der phantasmagorischen Erzählungen Klabunds betritt.

Wer bzw. was aber ist 'Klabund'? 'Klabund' - das ist eine Wortmischung aus 'Klabautermann' und 'Vagabund', mit der sich Alfred Henschke seit den zehner Jahren zunächst als Dichter einen Namen machte. Doch das literarische Pseudonym, das er sich im Jahre 1913 zulegte, entsprang weniger rein ästhetischen Gründen, sondern hing mit der splitternden Kritik seiner blasphemischen Verse zusammen, mit denen Henschke schon in frühen Jahren die Staatsanwaltschaft gegen sich aufbrachte. Anders als die meisten Grotesken des Expressionismus, die nahezu ausschließlich den Effekt des Grauens beim Leser evozierten, nähern sich Klabunds Grotesken wieder stärker dem antiken Vorbild an, welches das Humoristische mit dem Ironischen vereint. Auf humorvolle Weise karikiert Klabund mit Erzählungen wie etwa "Der Kriegsberichterstatter", "Weltgeschichte vom psychoanalytischen Standpunkt" oder "Kubismus" die sozialhistorischen und geistesgeschichtlichen Entwicklungen seiner Zeit, die es dem postmodernen Leser ermöglichen, die expressionistische Moderne zugleich aus der Perspektive eines Zeitzeugen zu betrachten, der seine Kritik auf kunstvolle Art und Weise in der Parodie offenbart. Doch nicht nur mittels seiner in Vers- und Prosazeilen gekleideten Kritik machte sich Klabund in den ersten beiden Jahrzehnten des Zwanzigsten Jahrhunderts einen Namen. Gleichsam bekannt wurde er durch seine freien Übertragungen von chinesischen und japanischen Versen sowie asiatischer Sagen in deutsche Prosa - wie etwa des "Kreidekreises", das in der Zeit der Weimarer Republik sich als eines der am meisten gespielten Theaterstücke Geltung verschaffte. Vom Standpunkt seiner zeitkritischen Bänkellieder und der Orientierung an asiatischer Literatur aus lässt sich Klabund in der Literaturgeschichte als Vorgänger des vier Jahre jüngeren Bertolt Brechts verorten.
Heutzutage erscheint es nahezu unvorstellbar, dass Klabunds Werke bis in die zwanziger Jahre hinein bestsellerartige Auflagenhöhen erreichten, ist der Name 'Klabund' doch nur noch wenigen Antiquariaten ein Begriff. So bin auch ich, obgleich schon damals über einige wenige Gedichte mit diesem eher unbekannten Dichter des Expressionismus vertraut, vor nahezu einem halben Jahrzehnt über einen Buchhändler in einem Antiquariat mit dem "Kunterbuntergang des Abendlandes" in Kontakt gekommen.

Keineswegs erschöpft sich die Bedeutung des neologistischen Titels "Kunterbuntergang" in der Verschmelzung der Worte 'kunterbunt' und 'Untergang'. Es ist vielmehr eine Antwort auf Oswald Spenglers kulturphilosophisches Hauptwerk "Der Untergang des Abendlandes", das - zwischen 1918 und 1922 in zwei Bänden erschienen - mit seiner Verhandlung der Krise des abendländischen Bewusstseins großes Aufsehen erregte. In seiner gewählten stilistischen Form der Groteske stellt Klabunds "Kunterbuntergang" gewissermaßen die literarische Replik zum "Untergang des Abendlandes". Wie Spengler widmet sich auch Klabund der Wilhelminischen Ära. Der "Kunterbuntergang" gewinnt den Status eines Zeitzeugnisses, indem es die Grotesken eines ganzen Jahrzehnts umfasst, deren Zeugnischarakter sich nicht bloß auf expressionistische Ausdrucks- und Stilelemente beschränkt, sondern zugleich über seinen Inhalt die Verhältnisse der Zeit reflektiert. Aus seinen auswuchernden Übertreibungen, die vom Kriegsberichterstatter, dem die Augen verbunden werden über einen phantasievollen Journalisten sowie eines vom Dorf zum zukünftigen Dichter erkorenen Babys reichen, liest sich die Wahrheit der beschränkten Pressefreiheit oder der kulturellen Unbekümmertheit in bestimmten Regionen klar heraus.

Alfred Henschke ist am 4. November 1890 als Sohn eines Apothekers in der ehemals deutschen Stadt Crossen an der Oder (Krosno Odrzanskie) geboren. Nachdem er auf Bitten seines Vaters zunächst Pharmazie und Chemie in München studiert hatte, begann er das Studium der Theaterwissenschaften, Philosophie und Philologie in Berlin und Lausanne, das er 1912 jedoch abbrach, um als freier Schriftsteller zu leben. Noch im selben Jahr veröffentlichte Klabund seinen ersten Gedichtband "Morgenrot! Klabund! Die Tage dämmern!". Wegen "Verbreitung unzüchtiger Schriften" wurde der Dichter nach dem Abdruck eines seiner Gedichte ("Es hat ein Gott", 1912) in der Zeitschrift Pan gerichtlich verfolgt. Als Mitarbeiter der Zeitschriften Jugend und Simplicissimus verdiente sich Henschke seit 1913 seinen Lebensunterhalt. Neben den zahlreichen Publikationen von Gedichten, Novellen, Grotesken und Romanen, die in den Zeitraum von 1912 bis 1928 hineinfallen, erregte Klabund im Jahre 1917 großes Aufsehen mit dem in der Neuen Zürcher Zeitung abgedruckten "Offenen Brief an Kaiser Wilhelm II.", in welchem er den Kaiser zugunsten eines baldigen Kriegsendes zur Abdankung auffordert. Dieser Brief bildet jedoch eine Ausnahme im Werk des Dichters, da Henschke seine Kritik ansonsten nur über die Kunst äußerte, für die er sich Zeit seines Lebens erschöpfte. Klabund starb am 14. August 1928 in Davos an Schwindsucht und geriet schnell in Vergessenheit, nachdem die Nationalsozialisten seine Werke auf die Liste der verbotenen Bücher gesetzt hatten.

Obgleich der Elfenbein Verlag im Jahre 2003 anlässlich zu Klabunds 75. Todestages eine achtbändige Werkausgabe herausgegeben hat, zählen die Grotesken des "Kunterbuntergang des Abendlandes" - die in Bezug auf das Artistische eine der vielschichtigsten und größten Leistungen des Verfassers darstellen - zu den vergessenen Büchern, deren Buchdeckel nur noch der Zufall aufschlägt. Ihr Vergessen wurde zudem dadurch begünstigt, dass der Buntbuch Verlag 1983 unter dem gleichnamigen Titel eine Auswahl von Erzählungen und Gedichten Alfred Henschkes publizierte, die jedoch mit den Grotesken, die Klabund Anfang der zwanziger Jahre unter dem Titel "Der Kunterbuntergang des Abendlandes" im Roland-Verlag veröffentlichte, nichts mehr gemeinsam haben.

Klabund: Kunterbuntergang des Abendlandes. Grotesken
Roland-Verlag, München 1922, 152 Seiten.

   

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