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Über einen faustischen Pakt
GESELLSCHAFT | UNTER VIER AUGEN (15.07.2007)
Von Michael Billig
Sheila F. Weiss war an der Aufarbeitung der Geschichte der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft im Nationalsozialismus beteiligt. Wir haben mit der Historikerin über Otmar von Verschuer gesprochen und sie gefragt, warum sich „Wissenschaftler“ in den Dienst der Nazis stellten.

Michael Billig

Die Historikerin Sheila F. Weiss arbeitet an einer Biografie über den Eugeniker Freiherr Otmar von Verschuer. (c) Michael Billig

Frau Weiss, warum interessieren Sie sich als eine US-Amerikanerin für NS-Deutschland?

Weiss: Ich habe in der Zeit studiert, als die neue deutsche Geschichtsschreibung, also die Arbeiten von Hans-Ulrich Wehler und der Bielefelder Schule, in den Staaten ans Licht gekommen sind. Das hat mich interessiert. Ich wollte genau wie alle Leute wissen, wie es im Land von Bach, Beethoven und Goethe zu dieser Barbarei unter den Nazis kommen konnte.

Sie stammen aus einer jüdischen Familie?

Weiss: Ja. Meine Eltern waren auch strikt gegen mein Vorhaben. Sie haben Freunde, die Überlebende der Konzentrationslager waren. Sie konnten überhaupt nicht nachvollziehen, warum ich in das Land der Täter gehen wollte.

Zur Zeit arbeiten Sie an einer Biographie über Otmar Freiherr von Verschuer. Ist Ihnen bei Ihren Untersuchungen auch der Name Karl Wilhelm Jötten aufgefallen?

Weiss: Mit Jötten und der NS-Geschichte der Universität hat meine Arbeit eigentlich wenig zu tun. Ich forsche zu von Verschuer in der Nachkriegszeit und stehe da noch am Anfang. Ich habe aber vor einigen Tagen unerwartet die erste Spur einer Verbindung zwischen Jötten und von Verschuer in meinen Unterlagen gefunden. Jötten war medizinischer Dekan in Münster zwischen 1948-1949.

Haben Sie eine Erklärung, warum der Staublungenforscher Jötten „erbhygienische Untersuchungen“ an Kindern leitete?

Weiss: Wer nicht emigrierte, musste sich zwangsweise die Hände schmutzig machen, wenn vielleicht nicht so schmutzig wie von Verschuer. Aber man konnte als Biowissenschaftler nicht sagen: ich mache nicht mit. Wenn Jötten vorher nie etwas mit Eugenik zu tun hatte, aber sich ab 1933 plötzlich damit beschäftigte, könnte es Kalkül aus Karrieregründen oder Opportunismus gewesen sein.

Der Medizinhistoriker Prof. Kröner vermutet, dass in Münster nach dem Zweiten Weltkrieg eine Art Netzwerk ehemaliger NS-Eugeniker bestand. Wissen Sie da mehr?

Weiss: Der Name Bruno K. Schulze sagt mir etwas. Er war einer derjenigen, die Eugen Fischer - Vorgänger von Verschuers als Direktor am Kaiser-Wilhelm-Institut für Anthropologie in Berlin - denunziert hatten, weil er angeblich nicht „braun“ genug gewesen sei. Er hatte auch eine Zeit lang in Prag eine Stelle. Mir ist aber nicht klar, wie genau er hier in Münster wieder Fuß fassen konnte. Das muss erst noch untersucht werden.

In einem Aufsatz schreiben Sie, dass von Verschuer in der NS-Zeit einen „faustischen Pakt“ mit der Politik eingegangen sei. Was meinen Sie damit?

Weiss: Zunächst war es Fischer, der das Kaiser-Wilhelm-Institut schlichtweg an die NS-medizinische Verwaltung verkauft hatte. Otmar von Verschuer war damals am Institut Abteilungsdirektor für menschliche Erblehre. Beide hatten ein besonders enges Verhältnis und es war klar, dass von Verschuer auch sein Nachfolger werden würde.

Das war dann 1942....

Weiss: Genau. Zwischenzeitlich war er noch Direktor am Frankfurter Institut für Erbbiologie und Rassenhygiene und unter anderem Doktorvater von Josef Mengele gewesen.

Den Kontakt zum SS-Arzt von Auschwitz hatte von Verschuer auch ans Kaiser-Wilhelm-Institut mitgenommen.

Weiss: Das stimmt. Wenn Mengele Zeit hatte, legte er Wert darauf, dort zu sein. Mengele war aber nie am Institut angestellt gewesen. Er hat dort gearbeitet, Gutachten geschrieben. Mindestens ein- oder zweimal war er auch bei der Familie von Verschuers zu Besuch.

Sie haben mit dem Sohn von Otmar von Verschuer gesprochen. Wie kam das zu Stande?

Weiss: Im Laufe meiner Forschungen habe ich herausgefunden, dass der Sohn Helmut von Verschuer noch im Besitz von Briefen war, die Eugen Fischer an seinen Vater gerichtet hatte. 2002 habe ich Helmut von Verschuer besucht. Er hat mir Einsicht in diese persönlichen Briefe gewährt.

Und weiter?

Weiss: Ich lud ihn zu einem Vortrag von mir ein, den ich im Rahmen des Projekts der Max-Planck-Gesellschaft zur Erforschung der „Geschichte der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft im Nationalsozialismus“ gehalten habe. Er fand den Vortrag gut. Er und ein Teil seiner Familie haben zwei weitere Vorträge von mir gehört. Im Laufe der Zeit wuchs mein Interesse an Otmar von Verschuer. Es hat mich überrascht, dass es keine Biographie über ihn gibt. Darüber sprach ich mit Helmut von Verschuer. 2004 hat er mir mitgeteilt, dass sowohl er als auch seine ganze Familie damit einverstanden seien, dass ich diese Biographie schreibe. Ohne seine Unterstützung würde meine Forschung keinen Sinn machen. Er hat den Schlüssel zu vielen Akten. Außerdem hat er noch Beziehungen zu sehr vielen Leuten, die seinen Vater persönlich gekannt haben. Einige davon habe ich schon interviewt.

Otmar von Verschuer war Protestant. Wie vertrug sich seine religiöse Einstellung mit seiner Forschung?

Weiss: Schon in der Zeit der Weimarer Republik hat die evangelische Kirche eine große Rolle in der Eugenik gespielt. Sie hat sogar einen Ausschuss gegründet, um über eugenische Fragen zu beraten – auch mit der Preußischen Regierung. Dem gehörte von Verschuer an. Damals sprach man natürlich nur über freiwillige Sterilisation als eine eugenische Option.

Und während der NS-Zeit?

Weiss: Ja, das ist eine schwierige Frage. Man findet wenig in seinen Veröffentlichungen in dieser Zeit, wo er offen versucht hat, seinen Glauben und seine Wissenschaft zu verbinden. Er war ein Befürworter für eugenische Zwangssterilisation. Während seiner Frankfurter Zeit war er an einem Erbgesundheitsgericht tätig. Euthanasie aber hat er komplett abgelehnt. Was sich jedoch in den Heimen abspielte, ist etwas anderes. Es ist erschreckend, wie viele Kinder von evangelischen und auch katholischen Anstalten für die Euthanasie freigegeben wurden.

Wie viel hat von Verschuer über Mengeles Experimente an KZ-Häftlingen gewusst?

Weiss: Vieles spricht dafür, dass er gewusst hat, was da sich abspielte, obwohl vielleicht nicht in dem ganzen Ausmaß des furchtbaren Geschehens. Aber wir können nichts belegen. Wir können nicht mal sagen, wie Mengele nach Auschwitz gekommen ist. Bekannt ist, dass Verschuer einen Antrag bei der Deutschen Forschungsgemeinschaft gestellt hat, um mit Mengele zusammen zu arbeiten. Die Forschung ging um spezifische Eiweißkörper bei fremden Rassen.

Haben Sie dazu auch die Kinder von Verschuers befragt, ob sie etwas davon wissen?

Weiss: Die Kinder und vor allem die Töchter hatten damals nicht das Recht, ihre Eltern nach solchen Dingen zu fragen. Auch Helmut von Verschuer, der etwas älter ist als seine Schwestern, kann nicht mehr sagen, als was die Forschung schon belegt hat. Viele Unterlagen sind vernichtet worden. Wir müssen damit leben, dass diese Informationen höchstwahrscheinlich nicht mehr vorhanden sind.

Womit hatte er sich nach dem Krieg befasst?

Weiss: Für die neu gegründete Max-Planck-Gesellschaft galt er als zu belastet. Zunächst musste er also kämpfen, um wieder an einer Universität Fuß zu fassen. Er hatte versucht, eine Rückberufung in Frankfurt zu ermöglichen. Das hat auch nicht geklappt. Später, nachdem er 1951 den Ruf nach Münster bekam, wandte er sich wieder dem eugenischen Kreis der Diakonie der evangelischen Kirche zu. Er sagte, Eugenik müsse mit Menschenliebe verbunden werden und kehrte damit seinen Einstellungen zur NS-Zeit den Rücken. Er war auch gegen Schwangerschaftsabbruch und hatte sich ganz gut der konservativen Adenauer-Politik angepasst. Viel Geld bekam er für die Erforschung der Auswirkungen atomarer Strahlung auf den Menschen. In den 1960er Jahren hatte er Angst vor den angelsächsischen Humangenetikern, die von einem neuen angeblich wissenschaftlich verbesserten Menschen gesprochen haben.

Wie konnte Otmar von Verschuer überhaupt im Wissenschaftsbetrieb wieder Fuß fassen?

Weiss: Das ist noch nicht exakt erforscht. Ich habe gehört, dass für ihn viele Gutachten geschrieben worden sind. Wie gesagt, er versuchte zunächst wieder in Frankfurt am Main unter zukommen. Dort gab es aber einen jüdischen Dermatologen, der sich geweigert hatte, mit ihm zusammen zu arbeiten. Daher war das nicht mehr zu machen. Dass Jötten eine Rolle bei der Berufung in Münster hatte, ist nicht auszuschließen.

Schließlich wurde von Verschuer Leiter des Instituts für Humangenetik an der Uni Münster. Welche Rolle spielte dieses Institut?

Weiss: Wir wissen nicht, ob es aus dieser Zeit noch Akten gibt. Es ist mir nie gelungen, welche zu sehen. Zum Teil wurde verleugnet, dass überhaupt welche existierten, zum Teil wurde gesagt, es sei unwesentlich. Ich weiß, dass Heinrich Schade, ein ehemaliger SS-Offizier auch nach Münster kam. Er galt als unverbesserlicher Verfechter der NS-Ideologie. Als von Verschuer unter den Nazis das Institut für Erbbiologie in Frankfurt leitete, war Schade Assistent bei ihm gewesen.

Warum hat bisher niemand außer Ihnen nach den Akten verlangt?

Weiss: Andere haben danach gefragt. Vielleicht waren sie nicht bereit, viel aus der Absage zu machen. Ich denke, die neue Rektorin, Frau Dr. Nelles, wird unter den aktuellen Umständen von ihrem Hausrecht Gebrauch machen und Akten sichern. Wir alle hoffen, dass es da noch etwas gibt.

Vielen Dank für das Gespräch!
   




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