Ob Bankenrettung ohne parlamentarische Kontrolle, Militärforschung ohne Transparenz und Doping im Fußball - die Initiative Nachrichtenaufklärung (INA) hat jüngst ihre Top Ten der vernachlässigten Themen in deutschen Medien vorgestellt. iley berichtet im Wortlaut der INA.
1. Bankenrettung ohne wirksame parlamentarische Kontrolle
Jeden Tag eine Zeitung - und es steht nicht alles drin. Die Initiative Nachrichtenaufklärung macht auf vernachlässigte Themen aufmerksam. (c) Halina Zaremba / pixelio.de
480 Milliarden Euro des Sonderfonds für Finanzmarktstabilisierung (Soffin) und 100 Milliarden Euro aus dem Restrukturierungsfonds sollen die Bankenrettung sichern. Die Kontrolle über die Mittel lag und liegt in den Händen von Finanzbeamten und ehemaligen Bankenchefs – das Parlament kann sie nicht kontrollieren. Drei Experten hatten seit Herbst 2008 die Möglichkeit, in Form von Krediten und Bürgschaften fast doppelt so viel Geld an Banken zu vergeben, wie Deutschland in einem Jahr einnimmt. Kontrolliert wird dies von fünf weiteren Experten. Neun Parlamentarier in einem für die Bankenrettung zuständigen Gremium haben nur Informationsrechte, dürfen aber keine Original-Dokumente sehen. Sie haben noch nie eine Entscheidung der Experten abgelehnt. Kritiker sehen darin eine Verletzung des Haushaltsrechts des Bundestags. Mittlerweile ist aus dem Notpaket eine Dauereinrichtung geworden. Deutschland ist damit auf dem Weg zur Expertokratie – weitgehend unbeachtet von den deutschen Medien.
2. Flächendeckend Schadstoffe an Schulen in NRW
Viele Schulgebäude in Nordrhein-Westfalen sind schadstoffbelastet und gefährden die Gesundheit von Lehrern und Schülern. Zuständige Behörden, Städte und Länder sowie die Politik informieren in der Regel nicht über die Altlasten. Medien berichten zwar über Einzelfälle, das gesamte Ausmaß des Sachverhalts bleibt jedoch ebenso wie das flächendeckende Problem unerkannt.
3. Militärforschung an deutschen Hochschulen
Das Bundesverteidigungsministerium finanziert Forschungsprojekte im Umfang von rund einer Milliarde Euro im Jahr. Bundesweit haben sich in den vergangenen zehn Jahren 48 Hochschulen an militärischen Studien und Entwicklungen beteiligt, vor allem in den Bereichen Technik und Medizin. In mehreren Städten protestieren meist studentische Initiativen dagegen, sie finden jedoch keine breite Aufmerksamkeit. Einige Universitäten haben Zivilklauseln in ihre Statuten aufgenommen, die jegliche militärische Nutzung ausschließen. Kommt es zu Konflikten, wie jüngst in Bremen, werden Einzelfälle skandalisiert. Eine breite Auseinandersetzung auf überregionaler Ebene findet jedoch nicht statt.
4. Grundrecht auf Gesundheit – nicht für alle
Menschen mit ungesichertem Aufenthaltsstatus haben in Deutschland nur in Notfällen Anspruch auf ärztliche Hilfe. Eine medizinische Grundversorgung und die Behandlung chronischer Krankheiten sind nicht gewährleistet. Betroffen sind etwa 90.000 Menschen mit Duldung und mehr als 35.000 Asylsuchende im laufenden Verfahren. Dazu kommen bis zu eine halbe Million Menschen, die sich illegal im Land aufhalten. Über das Leben mit ungesichertem Aufenthaltsstatus wird in den Medien kaum berichtet. Die Debatte über die Einhaltung der Menschenrechte wird nicht geführt.
5. Ärztliche Versorgung in Altenheimen mangelhaft
In Deutschland leben über 700.000 Menschen in Alten- oder Pflegeheimen. In Zukunft werden es noch mehr sein. In diesen Einrichtungen fehlt es an medizinischer Versorgung. Heimbewohner müssen deshalb unnötig oft in Kliniken überwiesen werden, wo die Pflegeleistungen lückenhaft sind (vgl. Top 1 2009). Mit Initiativen, Reformen und Gesetzen soll diesem Problem entgegengewirkt werden. Eine Verbesserung ist aber bisher nicht zu erkennen. Die Öffentlichkeit wird über die Probleme und mögliche Lösungen kaum informiert.
6. Der vergessene Krieg im Kaukasus
Russland hat die Tschetschenien-Kriege für beendet erklärt, aber in der Kaukasusregion ist noch lange kein Frieden eingekehrt. Im Gegenteil: Seit Anfang der 1990er Jahre gehören Menschenrechtsverletzungen der tschetschenischen Regierung und terroristischer Kräfte zum Alltag – bis heute. Noch immer warnt das
Auswärtige Amt ausdrücklich vor Reisen in den Kaukasus. Die verschiedenen Republiken seien weiterhin Schauplätze von bewaffneten Auseinandersetzungen, Entführungen und anderen Gewalttaten. Der schwelende Konflikt wurde aufgrund einer verbreiteten Kaukasusmüdigkeit in den deutschen Nachrichtenmedien zu einem vergessenen Krieg.
7. Doping im Fußball
Doping existiert auch im Fußball. Anders als in anderen Sportarten wie dem Radsport oder der Leichtathletik erfährt diese Problematik jedoch kaum journalistische Aufmerksamkeit. Angesichts der hohen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Relevanz sowie der medialen Bedeutung des Fußballs ist eine vorbehaltlose Auseinandersetzung und Aufklärung jedoch notwendig. Durch ihre teilweise unreflektierte Berichterstattung verharmlosen manche Medien das Problem. Einzelfälle werden zwar thematisiert, eine systematische Beschäftigung mit den Hintergründen fehlt jedoch.
8. Alternative Geldsysteme
Das bestehende Geldsystem wird unkommentiert hingenommen. Die Presse berichtet kaum über Hintergründe und darüber wie unser Geldsystem funktioniert und gesteuert wird. Über alternative Ideen wird im Verhältnis zur Allgegenwärtigkeit des Geldes nur vereinzelt berichtet – und wenn dann über lokale Währungen wie Regiogeld oder Tauschringe. Die Ideen und systemkritischen Ansätze alternativer Geldtheoretiker bleiben auf Fachmagazine beschränkt. Nutzen und Grenzen der verschiedenen Modelle bekommen auch angesichts der derzeitigen Finanzkrise keine angemessene Aufmerksamkeit in den Massenmedien.
9. Der Nocebo-Effekt
Schon das Wissen über Nebenwirkungen von Medikamenten und über Krankheitsverläufe kann Symptome auslösen. Diese so genannten Nocebo-Effekte können tödlich verlaufen – selbst, wenn der Patient die Worte des Arztes nur falsch verstanden hat und deshalb glaubt, schwer krank zu sein. Die wenigsten Ärzte sind sich allerdings der Macht ihrer Worte bewusst. Anders als der Placebo-Effekt ist die Nocebo-Problematik unter Medizinern wenig bekannt, was auch an der geringen Präsenz des Themas in der Öffentlichkeit liegt.
10. Die Misere der Erfinder in Deutschland
Erfinder sind der Motor der Wirtschaft. In Deutschland wird ihre Kreativität jedoch behindert. Bei Unternehmen angestellte Erfinder sind verpflichtet, eine Erfindung ihrer Firma zu melden. Das Unternehmen entscheidet dann, ob es die Erfindung nutzen möchte und legt auch das Entgelt fest. Die Berechnung der Bonuszahlungen ist nicht verbindlich geregelt und auch nicht gerade üppig. Einsprüche dagegen sind langwierig, die Berechnung meist willkürlich. Schwierig ist auch die Situation freiberuflicher Erfinder. Sie müssen eine Firma finden, die ihre Idee kauft. Hier besteht die Gefahr, dass die Idee gestohlen wird. Wer die Erfindung durch ein Patent schützen will, lässt sich auf ein langwieriges und teures Verfahren ein. In der Presse wird meist nur über skurrile Erfindungen und Erfinder berichtet, nicht jedoch über den steinigen Weg zum Patent.
Über die Initiative Nachrichtenaufklärung
Die INA wurde im Mai 1997 gegründet und ist ein Gemeinschaftsprojekt folgender Hochschulen: TU Dortmund, Universität Bonn, Universität Siegen, Hochschule für Angewandte Wissenschaften Hamburg und MHMK Macromedia Hochschule für Medien und Kommunikation. Vorbild der Initiative ist das US-amerikanische “Project Censored”.
Medienschaffende, gesellschaftliche, wissenschaftliche und politische Institutionen, aber auch alle Bürger können bei der INA ihrer Meinung nach vernachlässigte Themen einreichen. Die Themenvorschläge werden von Studierenden in Recherche-Seminaren der beteiligten Hochschulen auf Richtigkeit und Vernachlässigung geprüft. Alle Themen, die dieser Prüfung standgehalten haben (meist rund 20), werden der Jury der INA vorgelegt. Diese entscheidet dann über die gesellschaftliche Bedeutung der Themen, indem sie jeweils im Juli die Rangliste der vernachlässigten Top-Themen des vergangenen Jahres kürt.