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Speicher für Wissen, Halbwissen und Bullshit-Content
GESELLSCHAFT | INFOS AUS DEM NETZ (15.04.2008)
Von Sarah Khalil
Kaum hören sie einen Begriff, von dem sie nichts wissen, schalten Menschen unter 35 Jahre den Computer an, füttern die Suchmaschine Google oder das Internetlexikon „Wikipedia“, und schon nach Minuten können sie mitreden. Das Web 2.0 ist ein Wissensspeicher. Da gibt es keine Zweifel, oder? – Oh doch!

Neben Wikipedia gibt es eine Unmenge von Angeboten im Web 2.0, die den einigermaßen intelligenten Nutzer massiv daran zweifeln lassen, dass er hier Wissen findet. Da teilen Menschen aller Altersgruppen ihre Hobbys, ihre Lieblingsbands und ihre liebsten Reiseziele mit, erstellen virtuelle Bücherregale oder laden sich bei Facebook zu Cocktails ein. Unrühmliche Prominenz erlangte jüngst ein weiblicher Fan von Tokio-Hotel: Sie bekundete auf You-Tube ausführlich, wie schlimm es für sie ist, wegen ihrer Leidenschaft für die Band gehänselt zu werden.



Wer zum Teufel will das wissen?

Und selbst auf Wikipedia ist beileibe nicht jede Information richtig, wie auch die Nutzer wissen. Was wäre, wenn ein Münsteraner Schüler in einem Blog über Münsters Schulen plötzlich vom Graf-Gottfried-Gymnasium in Hiltrup liest – eine Schule, von der er genau weiß, dass es sie nicht gibt? Vermutlich wird er auf diesen Eintrag reagieren, oder den Autor zumindest per Mail über seinen Fehler informieren. Und wahrscheinlich wird er sich nicht einmal über die Fehlinformation wundern. Darin unterscheidet sich das worldwide web vom Brockhaus. „Inhalte im Netz sind unfertig und jeder behandelt sie auch so“, erklärt Tina Guenther, Herausgeberin des Blogs sozlog.de. Die Soziologin hat untersucht, welche Art von Wissen es im Web 2.0 gibt. Ihr Ergebnis überrascht und zeigt, dass das Netz alles andere ist als eine Wissens-Wundertüte, für die es viele fälschlicherweise halten.

„Das Wissen im Netz ist kollektives Eigentum. Es ist jedem frei zugänglich.“

So wird Wissen oft mit wahren, belegten Informationen gleichgesetzt, ein Vergleich, der einem bei der Suche im Netz nicht viel weiterhilft. Denn gesicherte Informationen bedürfen einer übergeordneten Autorität, die Inhalte verifiziert. Diese Referenzen gibt es im Internet nicht. Niemand kann verhindern, dass ein User die bereits autorisierten Informationen im Netz kommentiert und so wieder verändert. Im Web 2.0 sind die Grenzen zwischen den informierten Produzenten und den wissenshungrigen Nutzern aufgehoben. Auch andere Barrieren fallen. Wenn Tina Guenther an ihrem Blog zur Soziologie arbeitet, dann ist sie Herausgeberin, Autorin, Betreiberin und Administratorin in einem. Sie nutzt die Seite aber auch, um zum Beispiel auf Kommentare zu antworten, zu sehen, was andere Fachwissenschaftler zu ihren Themen schreiben, und so Wissen neu zu verknüpfen. Niemand käme im Web 2.0 auf die Idee, sein Wissen durch Passwörter zu schützen. „Das Wissen ist kollektives Eigentum. Es ist jedem frei zugänglich.“
Nutzer können sich bei Wikipedia namentlich registrieren und werden dann auch als Autoren des Artikels genannt. Doch die klassischen Schutzrechte des geistigen Eigentums, die auch wirtschaftlich geltend gemacht werden können, haben hier keine Gültigkeit. Der Wissensvorrat im Netz entscheidet sich grundlegend von dem klassischen Kanon. „Es handelt sich offenbar weder um Besitz noch um Kompetenzen oder Information“, fasst Guenther zusammen.

„Beim Aufbau eines eigenen Blogs lernen Sie viel.“

Vielmehr finden Wiss- und Lernbegierige im Internet eine Spielwiese, auf der sie sich ausprobieren können. „Wissen im Netz setzt immer Entdecken voraus. Es entsteht nur, wenn man sich mit dem Inhalt intensiv auseinander setzt und ihn sich aneignet“, erklärt Tina Guenther. Dann führt das Wissen dazu, dass der Nutzer etwas anders macht als zuvor. Ob er nun aus dem Netz ein Rezept für einen Geburtstagskuchen zieht oder Expertenwissen über den Artikel 23 des Grundgesetzes sammelt: In jedem Fall muss sich ein Nutzer vorher Gedanken machen, damit seine Recherche Erfolg hat. Schon dabei entwickelt er Kompetenzen. Wer im Netz mehr tun will als nur zu googlen, erweitert seine szenespezifischen Kompetenzen beträchtlich, glaubt Guenther: „Beim Aufbau eines eigenen Blogs lernen Sie, Texte zu verfassen, Fotos auszuwählen und eventuell ein Video zu drehen.“ All das kann bei der Jobsuche, im Studium oder in der Freizeit nützlich sein. Denn diese Kompetenzen lassen sich problemlos von einem Kontext in einen anderen transferieren. Darin unterscheiden sie sich vom Fachwissen, das Studiernende an der Hochschule erwerben.
Auch durch etwas anderes zeichnet sich Wissen im Netz aus. Kommt es in der „realen“ Welt darauf an, was der einzelne weiß, zählt im Internet viel mehr, wie das Wissen und die Inhalte eines Webangebots mit dem anderer verlinkt sind – oder, wie es Tina Guenther formuliert: „Heute gilt nicht mehr der Spruch ,Content is king’, sondern es heißt vielmehr ,Context is king’.’“
Diese Sichtweise hat entscheidende Folgen für die Art, wie man Wissen behandelt. Wenn eine Website dadurch zur besonders guten Quelle wird, dass sie gut verlinkt ist, dann kann man Wissen und Information nicht mehr als geistiges Eigentum betrachten. Denn schon der erste Link weg von meinem Blog führt ja zum Blog und damit zum Wissen eines anderen. „Das Besondere am Eigentum ist aber, dass sie andere davon ausschließen können.“ Sobald man das aber tut, wird das Internet als Wissensquelle witzlos.

Der Wert des Wissens im Netz ergibt sichdaraus, dass jeder Zugang dazu hat. Das kollektive Wissen muss – im Gegensatz zu unserem Alltagsverständnis – vor privater Aneignung geschützt werden. Dies geschieht durch zwei Lizenzmodelle: zum einen die General Public License, die sicher stellen soll, dass eine Software für alle ihre Benutzer kostenlos bleibt und von ihnen auch kostenlos verändert werden kann. Zum anderen die Creative Commons License, die sich am klassischen Urheberrecht orientiert. Bei der CC-Lizenz räumen die Urheber der Öffentlichkeit bestimmte Nutzungsrechte ein, sofern sie bei der Weiterverbreitung als Urheber und Autoren benannt werden. Gerade für unbekannte Autoren, Forscher oder Sänger kann diese Lizenz sinnvoll sein. Denn was bringt es, wenn man ein tolles Buch geschrieben, ein hitverdächtiges Lied produziert oder eine bahnbrechende Forschungsarbeit verfasst hat, aber niemand davon weiß? Durch das Internet ist es zumindest theoretisch möglich, der Welt diese Informationen und damit die Chance auf Wissen, ohne jede Beschränkung zu geben. „Das macht das Internet zu einem globalen Wissensspeicher, wenn die Nutzer das wollen.“ Doch wollen sie? Ein Blick auf das, was sich im Web 2.0 findet, macht da skeptisch.


Relevanz im Web 2.0 muss neu definiert werden

„Zugegeben, im Netz findet sich leider jede Menge Bullshit-Content und die Weblogs sind sowieso die Klowände des Internets“, sagt Tina Guenther drastisch. Legt man also die Kriterien der Relevanz an, die für herkömmliche Medien gelten, so muss das Web 2.0 scheitern. Deshalb plädiert Tina Günther für eine neue Definition von Relevanz, basierend auf einerTheorie des Soziologen Alfred Schütz: Demnach ist relevant, was die Menschen betrifft oder betroffen macht. Außerdem das, was den Menschen nahe geht und ihnen vertraut ist. Das gilt gerade für die tagebuchähnlichen Blogs. Drittens hat das Web 2.0 thematische Relevanz, weil es den Nutzern ermöglicht, sich über jedes nur denkbare Thema zu informieren. Und zu guter Letzt können Interessengruppen aller Art Online-Allianzen schmieden.

Hat das Video unseres Fans von Tokio Hotel vielleicht doch etwas mit Wissen zu tun? Tina Guenther glaubt – ja. „Ich finde es überhaupt nicht trivial, wenn eine13-Jährige im Netz sagt, dass sie es schlimm findet, in der Schule schikaniert zu werden. Sie hat sich Medienkompetenz angeeignet, um das Video online zu stellen, und sie hatte eine Aussage, die für viele relevant ist.“

Weiterführende Links
http://creativecommons.orghttp://creativecommons.org
http://www.sozlog.deBlog von Tina Guenther
   

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