Wahnsinnig schön
KULTUR | IM BLICKPUNKT (15.05.2006)
Von Oliver Tappe | |
Im Rahmen des 2. Madness & Arts Worldfestivals in Münster präsentierten Modeschöpfer und -künstler Symbiosen aus psychiatrischen Krankheitsformen und exzentrischem Modedesign. Da pflegt man als künstlerisch eher unbedarfter Laie gerne mal eine gewisse Grundskepsis. Die etwas andere Kollektion. (c) Eva Brachten Kurz vor Beginn des Catwalks in den imposanten Osmo-Hallen am Münsteraner Hafen traf ich die sichtlich aufgeregte Designerin vom Niederrhein und fragte sie nach den konzeptuellen Hintergründen dieser etwas anderen Modenschau. Eva erklärte, dass sich die Designer von psychischen Krankheiten inspirieren lassen sollten, um sie kreativ in Form von Modekollektionen zu reflektieren: "Es waren ein paar Krankheiten als Anregungen angegeben, zum Beispiel Schizophrenie, Depression, Burn-Out-Syndrom. Ich habe mich vom Borderline-Syndrom inspirieren lassen." Selbstgefährdendes Verhalten, Zwangssymptome, Verlassensängste - das sind nur einige der vielen Ausprägungen dieser komplexen und vielfach unverstandenen Erkrankung. Und dies sollte nun über modische Kreationen kommuniziert werden? Klang abgedreht. Eva Brachten selber schien ebenfalls gespannt zu sein, wie die Entwürfe rüberkommen: "Für mich war das eine völlig neue Herausforderung, eine Krankheit designerisch darzustellen." Dies galt auch für die meisten anderen Designer, so dass man bei den insgesamt 24 Kollektionen auf innovative und kontroverse Herangehensweisen gespannt sein konnte. Kaum hatten die ersten Models den Laufsteg betreten, war der Zuschauer gefangen in einer geradezu sinistren Atmosphäre - gebannt im Anblick der im wahrsten Sinne des Wortes wahnsinnige Kreationen. Da während der Modenschau auf Erklärungen verzichtet wurde, interagierten die provokanten modischen Kunstwerke in erster Linie mit persönlichen Assoziationen und den eher düsteren Winkel der eigene Phantasie. Dafür sorgte nicht zuletzt die musikalische Untermalung von Kai Niggemann, der die eindrucksvollen Kollektionen in beklemmend wirkende Synthesizer-Klangteppiche hüllte. Die Entwürfe deckten die gesamte Bandbreite von Verstörung bis Faszination ab. Der experimentelle Charakter vieler Arbeiten machte auch vor Accessoires wie Transfusionsbeutel, Rasierklingen und Mullbinden nicht halt. Unvergesslich die Kombination aus Fladenbrothut, Mischbrotschuhen und Brötchenschleppe des Performancekünstlers Stephan US (Münster) und der gruselige Kokon aus Stretchstoff, entworfen von der Kostümdesignerin Ihna Harms aus Hamburg. Auch der Betriebskleidungsklassiker Zwangsjacke erlebte einige Neuinterpretationen. Eva Brachtens Kollektion - Niggemann hatte genau rechtzeitig seine Musik noch einen Tick unheimlicher eingefärbt - spielte mit einem scharfen Schwarz-Weiß-Kontrast (siehe Foto) als Repräsentation des extremen Innenlebens von Borderline-Patienten, begleitet von Accessoires wie Ketten und Cutter-Klingen. Zum Teil anspruchsvoll aus Latex und Laminat gefertigt, wiesen zwei der drei Entwürfe unzählige Einschnitte auf, um das selbstzerstörerische Potenzial dieser Erkrankung zu symbolisieren. Höhepunkt der Modenschau war der von vier jungen Designern aus Finnland brillant in Szene gesetzte Entwurf eines Kleides als Video-Projektionsfläche von Farb- und Formkaskaden, begleitet von chaotischen Soundcollagen - ein visuelles und akustisches Erlebnis. Sie teilten sich verdientermaßen den Hauptpreis von 2000 Euro für ihre reizüberflutende Interpretation der Schizophrenie. Den mit 1000 Euro dotierten zweiten Platz errang die Kostümbildnerin Kathrin Hauer (Berlin) mit einer regelrechten Materialschlacht, von PVC-Rohren bis zum Duschvorhang. Sie beschäftigte sich nach eigenem Bekunden schon länger mit dem Komplex Kunst und Wahnsinn, so dass der Anblick des Festival-Flyers bei ihr sofort den Funken zu einem furiosen kreativen Prozess gezündet hatte - mit dem Ergebnis der hier gezeigten, von Ideen überbordenden Kollektion. Den dritten Rang holte sich Ella Haberlach aus Reutlingen. Ihre Entwürfe lebten weniger vom ausgefallenen Materialeinsatz, sondern von der Verfremdung und Dekonstruktion gewohnter Kleidungskonventionen. Den Publikumspreis gewann die Münsteraner Lokalmatadorin Eva Lorenbeck mit ihrer Kollektion aus drei spektakulären Kreationen. Besonders das weiße Ballkleid aus unzähligen mit Luft gefüllten Plastiktüten - als Symbol für die Hilfsmaßnahmen bei Hyperventilation - sorgte für anhaltenden Applaus. Ihr zweiter Entwurf stellte ein riesiges Bonbon als prototypischer Glücklichmacher dar, während die dritte Kreation eine Art Rüstung aus unzähligen leeren Tablettenhülsen war, als Interpretation der Hypochondrie. Eva Brachten hatte zwar nicht den Sprung aufs Siegertreppchen geschafft, war aber angesichts des hochkarätigen Teilnehmerfeldes und der packenden Inszenierung auch ihrer Kollektion von dem Abend begeistert. Auf den Punkt ihr Lob für die Veranstalter: "Tolle Organisation, tolle Musik, tolle Location." Die industrielle Atmosphäre der Osmo-Hallen habe zusammen mit den Elektro-Klängen für eine kongeniale Kulisse der Modenschau gesorgt. Der Catwalk repräsentierte auf faszinierende Weise die Intention der Veranstalter vom Theater Sycorax, unterschiedlichen Interaktionsformen von Kunst und Wahnsinn Raum zur Entfaltung zu geben. Er reiht sich damit nahtlos ein in die Reihe der vielen spannenden Events, die das Madness & Arts Wordfestival noch bis in den Sommer hinein präsentieren wird. |