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Von Vernichtung der Wissenschaft bis zur Utopie der Gleichberechtigung
POLITIK | HOCHSCHULE DER ZUKUNFT (15.11.2007)
Von Olaf Götze
Die Hochschulreformen sind in vollem Gange. Forciert werden sie nicht etwa durch die Gruppen an der Hochschule selbst, sondern durch äußere Ansprüche. Es gibt gute Gründe gegen die Fremdbestimmung und für eine „Reform von Unten“ zu sein.

Der Bologna-Prozess trägt der geostrategischen Bedeutung des europäischen Hochschulraumes in der Wissensgesellschaft Rechnung und verdammt Lehrende wie Lernende dazu, eine neue Studienstruktur zu etablieren, ohne deren Dringlichkeit im vorgegebenen Rahmen zu berücksichtigen. Von der Landesseite aus wird aus wirtschaftlichen Gründen die Effizienz der Hochschulen in Frage gestellt und die Hochschulstruktur verändert. Dabei wird auf externe Interessen besonders Rücksicht genommen. Die Hochschulräte, die mit dem Hochschulfreiheitsgesetz in Nordrhein-Westfalen eingeführt werden, werden wie in anderen Bundesländern mehrheitlich mit externen Vertretern (gendern erübrigt sich größtenteils) aus der Wirtschaft besetzt. Dabei liegen den Reformen insbesondere nicht die Analysen jahrelanger Auseinandersetzungen zugrunde, sondern vielmehr kaum definierte Worthülsen wie „Freiheit“, „Gerechtigkeit“, „Effizienz“ und „Innovation“.

Michael Billig

...der Worte genug. (c) Michael Billig

Die Reformen werden entwickelt durch den Think-Tank CHE (Centrum für Hochschulentwicklung), welches den konservativen Landesregierungen die Gesetze schreibt, zu denen sie, als gewählte Vertreterinnen in der bundesrepublikanischen Demokratie nicht selbst in der Lage sind. Profiteure ist die Wirtschaft und hier wiederum vor allem multinationale Konzerne, die ihren Durst nach billigen Fachkräften löschen oder aber den Transfer von Forschungsergebnissen direkt in ihre Konzerne, ohne vorhergegangene Investitionen erwarten. Als weiteres Konzept steht auch der gesamte Ausverkauf der Hochschule an externe Geldgeber zur Wahl. Hier wird vom Gesetzgeber die Stiftungsuniversität als sogenanntes Vorzeigemodell umgesetzt. Störend für die Umsetzung externer Interessen an der Hochschule sind deren inneruniversitäre Demokratieansätze, also die Gruppenuniversität der 70er Jahre. Sie gilt als ineffizient im Sinne eines oberflächlichen öffentlichen Interesses und führt bei der Beeinflussung durch Externe auf den Wissenschaftsbetrieb zwangsläufig zu einer ungewollten Gegenbewegung.

ProfessorInnen unter Druck gesetzt

Die Gruppenuniversität und damit alle Beteiligten der Gruppenuniversität werden daher konsequent geschwächt und sollen in naher Zukunft gänzlich abgeschafft werden. Nach der jahrelangen Propagierung des faulen Studenten in den vorwiegend konservativen Medien, wird dieser nun aufgepäppelt und mit Scheinmitbestimmungsrechten ausgestattet, wie die Verteilung von Studiengebühren, während mit der Professorenschelte gerade begonnen wird. Dazu dienen Publikationen, wie die des Buches „Professor Untat“ genauso wie die Beurteilung von ProfessorInnen durch studentische Internetportale finanziert durch die Initiative „Neue Soziale Marktwirtschaft“ (INSM). Zudem wird das Fehlverhalten von Professorinnen und Professoren konsequent öffentlich angeprangert.
Ziel ist es, den Professorenstand unter Druck zu setzen, um ihm gleichfalls wie den Studierenden ihre Rechte zu nehmen, beispielsweise durch „schlanke Leitungsstrukturen“ und externe Evaluationen. Dem wissenschaftlichen Anspruch des einzelnen Professors oder Studierenden wird dabei keine Berücksichtigung geschenkt. Drittmitteleinfuhr und die Sichtbarkeit in der Profilierung der Hochschule, die ebenfalls in der Leitungsebene und über Zielvereinbarungen durch das Land festgelegt werden, sind entscheidend für die Unterstützung seiner oder ihrer Arbeit. Leuchtturmprojekte, die die Universität für die Exzellenzinitiative und damit den Wettbewerb stark machen sollen, dienen gleichzeitig der Abwicklung unliebsamer Fachbereiche und ProfessorInnen, deren Macht innerhalb der Hochschule ohnehin gering ist, um daraufhin die finanziellen oder Standesinteressen anderer Bereiche zu stärken. Die Reform wird als Mittel der Selektion, also der Aussortierung für diejenigen gewählt, die nicht mitkommen im Reformprozess.

Kritische Wissenschaft in Gefahr

Die externen Interessen schalten sich immer dann ein, wenn die Universität an sich geschwächt genug ist, welches sich auch und vor allem im geteilten Auftreten der einzelnen Gruppen in der Öffentlichkeit zeigt. Für die Gesellschaft notwendige wissenschaftliche Weiterentwicklungen bleiben auf der Strecke im Prozess der Machtverteilung. Wissenschaft, die durch Inhalte überzeugt wird also abgebaut und durch eine Wissenschaft der hegemonialen Interessen ersetzt. Dabei sind Wissenschaften oder Fachbereiche mit wissenschaftlichen Ergebnissen, die sich in Opposition zu den herrschenden Verhältnissen, also den Politiken der Machthabenden, befinden als erste betroffen. Während sich derzeit die Naturwissenschaften noch durch einen unkritischen Umgang mit ihrer eigenen Rolle in der Gesellschaft auszeichnen und somit für Machthabende, wie beispielsweise Konzerne, zur Ausnutzung eignen, sind dies die Geisteswissenschaften nicht.
Ein kritischer Umgang mit den eigenen Forschungsergebnissen im naturwissenschaftlichen Bereich, sei es Gentechnologie, Nanotechnologie oder Finanzmathematik, ist daher grundlegend von Bedeutung für die Zukunft. Gleichzeitig gilt es für die Gesellschaft wichtige sozial- und geisteswissenschaftliche Bereiche zu erhalten bzw. für sie zu kämpfen. Insbesondere dann wenn die aus ihnen gewonnen Erkenntnisse eben gerade dem Machterhalt wenig förderlich sind. Hier seien die Erkenntnisse aus der Soziologie genannt, die eine andere Verteilung gesellschaftlicher Ressourcen fordern, oder die Beschäftigung mit Philosophien und Kulturen anderer Länder, die nicht sofort wirtschaftlich auszunutzen sind. In den seltensten Fällen geht es bei den Problemen sogenannter Orchideenfächer nämlich um schwindende Studierendenzahlen, also einem insgesamt sinkenden öffentlichen Interesse.

Geschlossener Hochschulzugang

Wie sähe dagegen die Hochschulreform aus der Hochschule selbst heraus aus? Welche grundlegenden gesellschaftlichen Anforderungen an die Hochschule leiten sich nicht aus der Lobbyarbeit von Konzernen ab, sondern entspringen der Mitte der Gesellschaft? Die Bildungsaspiration von Eltern niedriger sozialer Schichten steigt, also der Wille der Eltern, ihren Kindern eine bestmögliche Bildung und Ausbildung zu ermöglichen. Gleichzeitig befindet sich das gesamte Bildungssystem in einem sozialen Schließungsprozess. Kein Bildungssystem auf der Welt ist sozial so selektiv, wie das deutsche. Und während die Machtverhältnisse derzeit eine Auflösung der Hauptschule in greifbare Nähe rücken lassen (glauben tue ich es erst, wenn ich es sehe), wird an den Hochschulen der Schließungsprozess mit rasanter Geschwindigkeit fortgesetzt. Studiengebühren und Auswahlverfahren sichern den akademischen Schichten ihre Pfründe und verhindern eine Beteiligung aller sozialen Schichten an Bildung und schließen sie von der wissenschaftlichen Weiterentwicklung an den Hochschulen aus. Wissenschaft stellt nicht nur ein elitäres Wissen dar, sondern erfasst nur einen kleinen Teil gesellschaftlich relevanter Bereiche. Inhalt der Wissenschaft wird sozusagen der Mainstream eines elitären Standes. Sie ist weder wissenschaftlich in seiner Gänze, noch anschlussfähig an alle gesellschaftlichen Bereiche.

Umbruch durch Gleichberechtigung

An der idealen Hochschule studieren dagegen 49 Prozent Kinder aus der niedrigsten sozialen Schicht, zudem ein nicht unerheblicher Anteil aus der Mittelschicht, denn sie bilden auch den originären Anteil an Jugendlichen zwischen 19 und 27 Jahren. Die Auswirkungen einer „Hochschulreform von Unten“ wären ebenso radikal wie die faschistoiden Umstrukturierungen der Länderregierungen derzeit. Ein Hochschulunterricht wie heute wäre nicht mehr denkbar. Professorinnen und Professoren hätten zunächst nicht einmal mehr das Sagen. Sie blieben ModeratorInnen eines Bildungsprozesses, der sich durch die TeilnehmerInnen selbst definiert. Auseinandersetzung mit Wissen stünde deutlicher im Vordergrund als bisher, wo vor allem Durchsetzung im Wissenschaftsbetrieb und Scheinerwerb zählen. Der Muff von Tausend Jahren ist nicht mehr unter Talaren versteckt, gehört dennoch aus der Universität verbannt. Kein Wunder also, dass gegen diesen Umbruch und Machtverlust auch aus der ProfessorInnenschaft Widerstand geleistet wird.
Eine Beschäftigung mit Gentechnologie wäre nach der Öffnung nicht mehr möglich, ohne eine gleichzeitige intensive Auseinandersetzung mit den Risiken für den einzelnen Menschen, ebenso wie die unwidersprochene Aussage eines Germanistikprofessors, „Scheiße“ sei Vulgärsprache. Als Ergebnis des wissenschaftlichen Prozesses wird nämlich eine befriedigende Antwort auch für das einzelne Individuum erwartet. Dieses wird der Student oder die Studentin wohl kaum die Arbeit mit radioaktivem Material durchführen, bis nicht sämtliche Restrisiken ausgeräumt sind. Eine veränderte Wahrnehmung der Gefahren im Wissenschaftsprozess wäre die Folge. Dabei spielt natürlich eine wesentliche Rolle, dass vieles Wissen in dieser Gesellschaft bereits bekannt ist, nur im wissenschaftlichen Alltag nicht zum Tragen kommt. Der Gegenstand der wissenschaftlichen Arbeit würde sich zweifellos verschieben.

Gewinn für die Gesellschaft

Damit einher ginge ein Gewinn für die Mehrheit der Bevölkerung, statt einer Verbesserung für eine kleine Minderheit. Forschung würde somit mehr an den individuellen Bedürfnissen ausgerichtet sein, als an den Interessen von Großkonzernen. Die Eigenproduktion stünde mehr im Vordergrund, statt einer Forschung, die heute darauf getrimmt ist, die Vermarktung von Unsinnigem voranzutreiben. Die Gesellschaftsanalyse bliebe nicht in der Debatte um geringe Beteiligung stecken, sondern entwickelte zusätzliche Möglichkeiten demokratischer Teilhabe. Dies würde keineswegs von heute auf morgen gehen, wie auch heute wissenschaftliche Erkenntnis Zeit in Anspruch nimmt. Sie bewahrte allerdings vor falschen wissenschaftlichen Analysen, die zumeist der Arroganz der Wissenschaftseliten geschuldet ist. Jedem Teil der Bevölkerung bliebe dagegen eine gleiche Beteiligung nicht nur am wissenschaftlichen Prozess, sondern auch an wissenschaftlichen Erkenntnissen, die in die „bisher“ unteren Schichten weitergetragen werden. Die Anerkennung der derzeitigen Erkenntnis zur Beteiligung oder besser Benachteiligung im Bildungssystem erfordert ein konsequentes Umdenken und keine Reform, sollte es oberstes Ziel sein, gleichberechtigt am Bildungs- und Wissenssystem teilhaben zu können.

Weiterführende Links
http://www.landtag.nrw.de/portal/WWW/GB_...Studiengebuehren.jspAusschuss hörte Fakten und Meinungen zu Studienbeiträgen - 28.02.2008
   

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