Beschützen und Loslassen: Das Mutterbild der Brüder Grimm
KULTUR | HINTER DEN GESCHICHTEN (23.12.2009)
Von Susanne Schafmann | |
Noch gut kann ich mich an die Zeit erinnern, als mir meine Mutter vor dem Schlafengehen ein Märchen vorlas. Ich liebte die Geschichten von Schneewittchen, der Gänsemagd, Frau Holle und allen anderen. Nach dem Vorlesen schlief ich immer beruhigt ein, weil alles gut ausgegangen war und die Bösen ihre Strafe erhalten hatten. Die Stiefmutter macht Aschenputtel das Leben schwer. (c) KHM Eine besonders fürsorgliche und beschützende Mutter steht am Anfang des Märchens von der Gänsemagd. „Als nun die Zeit kam, wo sie vermählt werden sollte und das Kind in das fremde Reich abreisen musste, packte ihr die Alte gar viel köstliches Gerät und Geschmeide ein, Gold und Silber, Becher und Kleinode, kurz alles, was nur zu einem königlichen Brautschatz gehörte, denn sie hatte ihr Kind von Herzen lieb.“ (Kinder- und Hausmärchen, KHM 89, Die Gänsemagd) Von der Gänse hütenden Magd zur Königin Aufgrund der beschützenden und behütenden Mutter wird die Tochter lebensuntüchtig in die Welt geschickt. Sie hat zwar allerhand Geschmeide, doch es fehlt ihr an Selbstständigkeit und Selbstbewusstsein, so dass sie sich gegen ihre Kammerjungfrau auch nicht zur Wehr setzen kann. Statt dessen unterwirft sie sich ihr demütig und muss schließlich als Gänsemagd Dienst tun. Erst als sie sich ohne mütterliche Hilfe selbst behauptet, entwickelt sie sich von der Gänse hütenden Magd zur Königin. Manchmal müssen die Kinder ihr Elternhaus verlassen, weil es Probleme mit den Eltern, auch mit Vater oder Mutter allein gibt, oder weil die Situation in der Kleinfamilie eine andere geworden ist. Bei Hänsel und Gretel ist eine Mangelsituation die Voraussetzung dafür, dass die Mutter zur treibenden Kraft eines Ablöseprozesses wird. „Weißt du was, Mann“, antwortete die Frau, „wir wollen morgen in aller Frühe die Kinder hinaus in den Wald führen, wo er am dicksten ist: da machen wir ihnen ein Feuer an und geben jedem noch ein Stückchen Brot, dann gehen wir an unsere Arbeit und lassen sie allein. Sie finden den Weg nicht wieder nach Haus, und wir sind sie los.“ (KHM 15, Hänsel und Gretel) Oft steht der Verlust der Mutter für einen zunächst schweren Schicksalsweg. Das Märchen Aschenputtel erzählt davon: „Einem reichen Manne, dem wurde seine Frau krank, und als sie fühlte, dass ihr Ende herankam, rief sie ihr einziges Töchterlein zu sich ans Bett und sprach: ,Liebes Kind, bleib fromm und gut, so wird dir der liebe Gott immer beistehen, und ich will vom Himmel auf dich herabblicken und will um dich sein.' Darauf tat sie die Augen zu und verschied.“ (KHM 21, Aschenputtel) Die böse Stiefmutter Nachdem die Mutter gestorben war, nahm der Vater sich eine andere Frau und nun begegnet uns nicht mehr nur die gütige und fürsorgliche Mutter, sondern auch eine recht negativ gezeichnete Stiefmutter, die dem ihr anvertrauten Aschenputtel das Leben schwer macht und ihm schier Unmögliches abverlangt, als es bittet, auf das königliche Fest mitgenommen zu werden. „Als es nun weinte, sprach sie: ,Wenn du mir zwei Schüsseln voll Linsen in einer Stunde aus der Asche reinlesen kannst, so sollst du mitgehen`, und dachte: ,Das kann es ja nimmermehr.'“ (KHM 21, Aschenputtel) Doch Aschenputtel findet Hilfe bei den Tauben. Und auch die verstorbene Mutter, die symbolisch bei ihrer Tochter geblieben ist, steht Aschenputtel bei, als die Stiefmutter trotz erfüllter Aufgabe ablehnt, Aschenputtel mit auf das Fest zu nehmen, und stattdessen sagt: „Es hilft dir alles nichts: du kommst nicht mit, denn du hast keine Kleider und kannst nicht tanzen; wir müssten uns deiner schämen.“ (KHM 21, Aschenputtel) Aschenputtel geht daraufhin hinaus zu ihrer Mutter Grab und bittet den dort wachsenden Haselbaum um Hilfe. Von dort wirft ihr die verstorbene Mutter in Gestalt einer Taube goldene und silberne Kleider herunter und hilft ihrer Tochter auch die falschen Bräute zu entlarven, die die Stiefmutter dem Prinzen unterschieben will. Prinzen als Bräutigam gewinnen In einem anderen Märchen, Spindel, Weberschiffchen und Nadel (KHM 188), hinterlässt die verstorbene Mutter magische Dinge, mit deren Hilfe sich die Tochter ihren Lebensunterhalt verdienen kann und sogar einen Prinzen als Bräutigam gewinnt. Dass eine Mutter ihre Kinder ungleich behandelt, ist ebenfalls ein häufig wiederkehrendes Motiv im Märchen. Im Märchen von Frau Holle wird die hässliche Tochter mehr geliebt als die Schöne. „Eine Witwe hatte zwei Töchter, davon war die eine schön und fleißig, die andere hässlich und faul. Sie hatte aber die hässliche und faule, weil sie ihre rechte Tochter war, viel lieber, und die andere musste alle Arbeit tun und der Aschenputtel im Hause sein.“ (KHM 24, Frau Holle) Auch hier taucht wieder das Stiefmuttermotiv auf. Das Wort stief ist abgeleitet vom Althochdeutschen stuifen, was rauben bedeutet. Das heißt, eine Stiefmutter enthält dem Kind etwas vor. Sie raubt ihm etwas, worauf dieses ein Anrecht hat. Mutter trachtet der Tochter nach dem Leben Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass es in der Urfassung des Märchens von 1812 noch die Mutter selbst war, die Schneewittchen beseitigen wollte. Die Brüder Grimm haben erst in späteren Fassungen aus der Mutter eine Stiefmutter gemacht, denn die damalige Moral ließ es offenbar nicht zu, dass eine Mutter so böse sein kann und ihrer Tochter nach dem Leben trachtet. Doch die Grenzen sind fließend. So läuft jede Mutter Gefahr, zur Stiefmutter für das Kind zu werden, in dem Moment, wo das heranwachsende Kind sich von der Mutter lösen will, um seine eigene Identität unabhängig von der überwältigenden mütterlichen Macht zu finden und sie das Kind nicht loslassen kann oder will. Bei Schneewittchen, dem bekanntesten Stiefmuttermärchen, fragt die Königin „Spieglein, Spieglein an der Wand, wer ist die schönste im ganzen Land?“. Schönheit mag hier ein Symbol sein für die Aussicht auf eine hoffnungsreiche Zukunft, etwas was für die Königin selbst schon verloren ist. In ihrem Zorn darüber trachtet sie nun der Tochter nach dem Leben, um ihr diese Zukunft ebenfalls zu nehmen. „Da rief sie einen Jäger und sprach: ,Bring das Kind hinaus in den Wald, ich will’s nicht mehr vor meinen Augen sehen. Du sollst es täten und mir Lunge und Leber zum Wahrzeichen mitbringen.'“ (KHM 53, Schneewittchen) Jeder hat eine Stiefmutter Der Märchenforscher und –erzähler Rudolf Geiger meint dazu: „Wenn dieses angesprochen wird, sage ich gewöhnlich: Was als Stiefmutter im Märchen Gestalt wird, ist der Neid der Menschen. Den hat jeder, und zwar nicht nur die Frauen haben ihn, den habe ich auch als Mann. Die Stiefmutter als seelische Potenz lebt in jedem Menschen. Jede Mutter hat Minuten, in denen sie Stiefmutter wird, und jede Stiefmutter hat viele Stunden, in denen sie echte Mutter ist. Das Problem 'Stiefmutter im Märchen' ist kein bürgerliches, es ist ein innerseelisches Problem. Wir alle unterliegen der Gefahr, wenn wir irgendwo erfahren müssen, ein Jüngeres keimt auf, entfaltet sich, wird schön, wird bevorzugt, dass sich Neid in uns regt: Warum gerade es und nicht wir?“ (Rudolf Geiger, Flensburger Hefte, Nr. 30) Da viele Märchen diese doppelte Natur des Mütterlichen aufgreifen, indem sie neben der guten Mutter noch die böse Mutter einführen, hat der Leser und Hörer die Möglichkeit, die zerstörerische Seite der Mutter, die dem Kind etwas abschlägt oder es festhalten und vom Leben fernhalten will, zu projizieren, ohne den fürsorglich-beschützenden Aspekt der guten Mutter aufgeben zu müssen. Bei Rapunzel übernimmt die Rolle der bösen Mutter eine Zauberin. „Rapunzel ward das schönste Kind unter der Sonne. Als es 12 Jahre alt war, schloß es die Zauberin in einen Turm, der in einem Walde lag und weder Treppe noch Türe hatte. Nur ganz oben war ein kleines Fensterchen.“ (KHM 12, Rapunzel) Auf diese Weise werden dem Kind eigene Erfahrungen verweigert. Die Grausamkeit der Mutter steigert sich noch, als sie erfährt, dass Rapunzel einen jungen Königssohn an ihren Haaren auf den Turm gezogen hat: „Ach, du gottloses Kind, rief die Zauberin, ,was muß ich von dir hören, ich dachte, ich hätte dich von aller Welt geschieden, und du hast mich doch betrogen'. In ihrem Zorne packte sie die schönen Haare der Rapunzel, schlug sie ein paar Mal um ihre linke Hand, griff eine Schere mit der rechten, und ritsch, ratsch waren sie abgeschnitten, und die schönen Flechten lagen auf der Erde. Und sie war so unbarmherzig, dass sie die arme Rapunzel in eine Wüstenei brachte, wo sie in grossem Jammer und Elend leben musste.“ (KHM 12, Rapunzel) Doch diese Verbannung in die Wüstenei ist der notwendige Schritt in die Selbstständigkeit. Meistens geht es um die Mutter-Tochter-Beziehung Es fällt auf, dass in den meisten Märchen die Beziehung von Mutter und Tochter thematisiert wird. Für die Märchenforscherinnen Sigrid Früh und Ulrike Krawczyk enthält die gleichgeschlechtliche Beziehung von Mutter und Tochter besondere Spannungsfelder, denn für die heranwachsende Tochter ist die notwendige Ablösung schwieriger zu vollziehen als für den Sohn. Einerseits muss sich die Tochter von der Mutter abgrenzen und lösen, andererseits muss das Gemeinsame des Weiblichen als tragender Grund erhalten bleiben, damit die Tochter eine positive Einstellung zum eigenen Geschlecht aufbauen kann. Es gibt natürlich auch Märchen, in denen das Verhältnis von Mutter und Sohn zum Auslöser für eine Entwicklung wird. So erzählt uns beispielsweise das Märchen Die Goldene Gans (KHM 64) davon, dass eine Mutter, die drei Söhne hat, ihre Zuneigung ungleich verteilt und die älteren gut behandelt, dem jüngsten, dummen aber wenig Essen und Liebe zuteil werden lässt. Diese prägende Erfahrung lässt den Dummling trotzdem barmherzig sein gegenüber einem alten grauen Männchen, so dass er die goldene Gans und schließlich sogar ein Königreich gewinnt. Da den Müttern für die Entwicklung ihrer Kinder eine vielfältige Bedeutung zukommt, nehmen sie auch in vielen Grimmschen Märchen eine wichtige Rolle ein. Dabei kann es sich sowohl um die leibliche Mutter wie auch um die Stiefmutter handeln. Die Mütter zeigen sich von ihrer hilfreichen und beschützenden Seite. In den Märchen geht es nicht nur darum, dass sich die Kinder von den Müttern lösen, sondern auch darum, dass die Mütter ihre Kinder loslassen müssen. Die Märchen stellen bildhaft dar, dass sich mütterliche Liebe nicht nur darin erweisen sollte, das Kind fürsorglich zu behüten und zu beschützen, sondern auch darin, es unabhängig werden zu lassen, es im richtigen Augenblick ins Leben entlassen zu können und seine eigenständige Persönlichkeit und Jugend ohne Neidgefühle zu respektieren. |