Weisheitsperioden
GESELLSCHAFT | GELESEN (15.05.2007)
Von Tim Köhler | |
Babys schreien – früher wie heute. Nur die Abhilfemethoden der Eltern haben sich geändert. Säuglinge kennen in ihrem ersten Lebensabschnitt keine andere verbale Kommunikation als das Schreien. Die fürsorglichen Eltern sind bei einem solchen Ereignis meist in heller Aufruhr – ist die Windel voll, klemmt der Body, ist dem Baby langweilig oder stimmt etwas mit der Verdauung nicht? Frischgebackene Eltern werden dann mit Tipps der eigenen Eltern überhäuft. „Lass es ruhig mal schreien, das stärkt die Lungen“ oder „So was gab’s früher nicht und ihr seid auch was geworden“. Woher kommen diese Weisheiten? Damals wurde "ein in den After einzuführendes Gummiröhrchen empfohlen", um Winde aus dem Darm freizulassen, heute gilt eine Bauchmassage mit ätherischen Ölen als Abhilfe gegen quälenden Winde. (c) Unser Kind, Verlag Volk und Gesundheit 1960 "Das Weinen ist eine angeborene Äußerung des Kindes, es bedeutet aber auch eine gymnastische Übung für das Kind! Das Kind weitet dadurch die Lungen und stärkt die Brust- und Atemmuskulatur." Aktuelle Literatur ist da ein bisschen sanfter und spricht von "Überreizung" [1] und "Entwicklungsschüben" [2]. Betrachtet man dazu noch den Fakt, dass erst ab der fünften Klasse Noten erteilt werden, könnte man denken, dass die heutigen Kinder allesamt Weicheier, Warmduscher und Schattenparker werden. Neben ungewohnten Leistungsdruck müssen sie nun auch noch mit schlaffen Muskeln kämpfen. Verdorbener Charakter Damals galt es als schwere Unsitte, das Kind zu tragen, bloß weil es schreit. Dies verderbe den Charakter, "denn es wird sich dessen bewusst, dass es bekommt was es will, auch wenn der Wunsch nicht vernünftig ist". Heute sind Säuglinge "Traglinge" und schweben, versehen mit einem schlechten Charakter, sorglos und unbeschwert ins Leben hinein. Im Bezug auf Schnuller erlaubt sich die untersuchte Literatur von damals eine recht eindeutige Wertung: "In Wirklichkeit ist der Schnuller ein Zugeständnis unfähiger Eltern, die nicht imstande sind, ihr Kind fest, konsequent und vernünftig zu erziehen. Sie sind nicht fest und ausdauernd genug, sie unterliegen ihren Gefühlen mehr, als es für das Kind gesund ist. Manchmal unterliegen sie auch ihren "Nerven", Stimmungen ihrer Überarbeitung. Sie geben dem Kind einen Schnuller!" Im folgenden Absatz werden dann Lehren von Iwan Petrowitsch Pawlow dargelegt, um dann mit "Wenn Sie aber Ihrer Unfähigkeit ein Zugeständnis gemacht haben, halten Sie immer auf einem Tellerchen mit einem Glas bedeckt einige ausgekochte Schnuller bereit" zu schließen. An dieser Stelle sollte dieses Buch wieder unter Verschluss gebracht werden. Welche Thesen werden unsere Kinder wohl für richtig halten? [1]: Schwangerschaft, Geburt und erstes Lebensjahr, Ein Begleiter für werdende Eltern, Bund Deutscher Hebammen e.V., Rowohlt Taschenbuch Verlag, 4. Auflage 2004 [2]: Oje, ich wachse!, Wilhelm Goldmann Verlag, 2005 |