'Weihnachtsmärchen gibt es nicht'
KULTUR | GEFLÜSTER (23.12.2009)
Von Michael Billig | |
Märchen kann im Grunde jeder erzählen. Die einen spannender als andere. Wir haben eine erfahrene Märchenerzählerin gefragt, auf was es dabei ankommt. Frau Lutkat, Sie gehören zum Vorstand der Europäischen Märchengesellschaft. Bei Ihnen kann man sogar eine Art Diplom für Märchenerzähler ergattern. Sabine Lutkat: Bei uns kann man eine Prüfung ablegen. Das heißt aber nicht: Jetzt darf man erzählen und vorher nicht. Jeder darf Märchen erzählen und jeder soll das auch machen. „Märchenerzähler“ ist kein geschützter Begriff. Wir bieten aber Kurse im Märchenerzählen an. Wenn man die Prüfung bei uns besteht, ist man ein von der Europäischen Märchengemeinschaft empfohlener Märchenerzähler. Was macht einen guten Märchenerzähler aus? Lutkat: Dass er die Zuhörer mitnimmt auf den Weg der Geschichte, dass er die Bilder lebendig werden lässt, dass er Freude hat am Erzählen und, dass ihm die Menschen gern zuhören. Welche Prüfungskriterien muss ein Märchenerzähler bei der Europäischen Märchengesellschaft erfüllen? Lutkat: Es gibt zwei Wege, der klassische: Er muss eine bestimmte Anzahl von Kursen bei uns absolviert und 30 Märchen im Repertoire haben. Unter Anwesenheit einer Jury gibt es abschließend ein Erzählabend mit Publikum und ein Hintergrundgespräch. Der zweite Weg: Wer schon Kurse woanders besucht hat und auch schon lange Zeit Märchen erzählt, kann bei uns ein dreitägiges Seminar belegen. Schwesterchen erzählt Brüderchen ein Gute-Nacht-Märchen. (c) KHM Lutkat: Das geht natürlich. Aber es ist hart. Die meisten, die ich kenne machen das nebenher. Werden Märchen im Zeitalter von Blockbustern, Computerspielen und Internet anders rezipiert? Lutkat: Einen Unterschied gibt es bei Kindern. Mein Gefühl ist, dass sie weniger in der Lage sind, innere Bilder zu kreieren. Wenn Kinder beispielsweise nach Märchen malen – die Bilder werden doch sehr schablonenhaft. Jede Prinzessin sieht nach Barbie aus. In dem Moment, wo ich es vorgelesen bekomme oder auf Kasette oder Schallplatte höre, mache ich mir meine eigenen Bilder. Im Fernsehen oder besonders Kino werden sie doch sehr stark vorgegeben. Ist es schwieriger geworden, Menschen mit Märchen zu erreichen? Lutkat: Nein, das nicht. Kinder und auch Erwachsene merken sehr deutlich, dass Märchen Geschichten sind, die etwas mit ihnen zu tun haben. Was sich noch geändert hat: Kinder lernen Märchen zunehmend übers Fernsehen oder Kino kennen und nicht mehr so sehr übers Vorlesen. In der Regel sind das die bekannten 15 Grimmschen Märchen. Was sind die klassischen Weihnachtsmärchen? Lutkat: Die gibt es nicht. Weihnachten hat im Märchen nichts zu suchen. In Volksmärchen geht es um grundlegende Fragen wie Liebe, Freundschaften, Hass, Tod. Und Weihnachten kommt da nicht vor. Das, was als Weihnachtsmärchen verkauft wird, sind literarische Märchen. Es gibt natürlich Volksmärchen, die passen besser in diese Jahreszeit. Info: Die Europäische Märchengesellschaft gibt es seit mehr als 50 Jahren. Die Gesellschaft hat ihren Sitz in Rheine (Nordrhein-Westfalen). Ihr gehören rund 2500 Märchenerzähler aus ganz Europa an. |