Der Tod des Löwenjägers Ryall
KULTUR | DICHTUNG UND WAHRHEIT (10.11.2010)
Von Martina Hempel | |
Wir schreiben das Ende des 19. Jahrhunderts. Der Kolonialismus boomt und allerlei Großmächte erobern den afrikanischen Kontinent auf der Suche nach Bodenschätzen und anderen Kostbarkeiten. Das britische Empire plant eine Eisenbahnlinie von der Küste am Indischen Ozean zum Victoriasee. Die Briten importieren dafür Bahnarbeiter aus ihrer indischen Kolonie und die beim Bau der indischen Schmalspur-Eisenbahn übrig gebliebenen Gleise. Die Eisenbahn rund 100 Jahre später: Die Strecke, die die Briten in Kenia erbauten, ist bis heute die einzige Fernverbindung im Land. (c) M. Billig Eine Bahnlinie für Verrückte Die Kosten für den Bau der Eisenbahn in Ostafrika überstiegen ihr Budget bereits nach der Hälfte der fertig gestellten Strecke. Im Britischen Oberhaus wurde nachverhandelt, um das restliche Geld zu beschaffen. Ein Mitglied des House of Lords ließ sich nicht überzeugen und beschimpfte das Vorhaben als „lunatic line“ (Irren-Linie). Die Bahnlinie sollte den wenig schmeichelhaften Titel bis heute behalten. Aber nicht nur die unsichere Finanzierung brachte den Bau der Bahnstrecke beinahe zum Erliegen. Im Gebiet Tsavo, das heute in zwei Nationalparks – Tsavo Ost und West – aufgeteilt ist, machten gefährliche Löwen den Bahnarbeitern das Leben schwer. Über 100 Menschen fielen ihren nächtlichen Angriffen auf die Zeltcamps zum Opfer, erlagen ihren Verwundungen oder wurden gar verschleppt und gänzlich aufgefressen. Aus Angst legten die Bahnarbeiter die Arbeit nieder. Ein Zustand, den die Kolonialmacht nicht akzeptieren wollte. Jäger wurden engagiert, um den Löwen nachzustellen und sie zur Strecke zu bringen. Die ersten Löwen wurden erlegt und der Bau der Bahnlinie konnte weitergehen. Ein indischer Schotte Doch nur ein Jahr später – die Bahnlinie hatte bereits dafür gesorgt, dass sich ein Sumpfgebiet zunächst in ein Zeltcamp und später in eine Stadt namens Nairobi verwandelte – wurden die Siedlungen im Gebiet Tsavo erneut von Menschenfresserlöwen heimgesucht. Um der Bedrohung Herr zu werden, schickten britische Staatsmänner erneut nach tapferen Jägern, die den Bestien den Gar aus machen sollten. Einer von ihnen war Polizeisuperintendent Charles Henry Ryall, der ebenfalls aus Indien abkommandiert wurde, um die Menschenfresser von Tsavo zu erlegen. Der schottischstämmige, in Indien geborene und aufgewachsene Ryall sollte jedoch vom Jäger zum Gejagten werden. Er wurde im Schlaf von einem Löwen überrascht. Lebendige Köder Ryall hatte zusammen mit zwei anderen Männern, einem Deutschen namens Hübner und einem Italiener namens Parenti den Entschluss gefasst, sich selbst als lebendige Köder in das Abteil eines Zugwaggons zu setzen und die heranschleichenden Löwen zu erschießen. Die drei hatten nur ein Gewehr, mit dem sie abwechselnd Wache halten sollten. Die Männer hatten auf Losen notiert, wer die erste, zweite und dritte Wache schieben sollte. Hübner hatte die erste Wache, Ryall wurde die zweite Wache zugelost und Parenti sollte als letzter dem Löwen auflauern. Ryall und Parenti legten sich im Waggon schlafen, während Hübner am Fenster saß und in die Dunkelheit starrte. Je länger er so saß, desto schläfriger wurde er. Er merkte, dass er nicht länger durchhalten konnte und weckte Ryall, damit dieser seine Schicht beginnen konnte. Hübner machte es sich auf dem Fußboden des Abteils gemütlich und schlief ein. In die Falle gegangen Ryall hockte nun mit dem Gewehr in den Händen am Fenster und war noch nicht ganz ausgeschlafen. Er schaute hinaus und erblickte das Mondlicht, das sich in zwei Augen reflektierte. Er hielt sie für die Augen einer Ratte – in Wirklichkeit aber war es ein Löwe, der um den Waggon herum schlich. Ryall verkannte die Gefahr und nickte ein, sein Kinn fiel auf seine Brust und er fing an zu schnarchen. Das lockte den Löwen an, der immer näher an den Wagen kam und sich schon das Maul leckte. Im Waggon schliefen nun alle drei Männer und Ryall rutschte das Gewehr aus den Händen. Der Löwe betrat den Waggon durch die absichtlich offen gelassene Waggontür, die hinter ihm ins Schloss fiel. Im Abteil stürzte er sich auf den am Fenster sitzenden Ryall, biss sich in ihm fest und versuchte, ihn hinaus zu zerren. Der durch den Lärm wach gewordene Parenti, der im oberen Bett lag, erschrak und wollte fliehen. Er wusste keine andere Möglichkeit als über den Rücken des Löwen zu steigen und in den Gang zu rennen. Die Tür, durch die der Löwe hereingekommen war, hatte sich geschlossen – er rannte also zum anderen Ende des Waggons – aber auch diese war zu. Denn in der Zwischenzeit hatte ein indischer Bahnarbeiter den Lärm im Inneren des Waggons bemerkt und war zur zweiten Tür geeilt, um sie zu schließen. Er hatte seinen Turban um die Türgriffe gewickelt. Der Inder hoffte, den Löwen so wenigstens einsperren zu können, damit der kein weiteres Unheil anrichte und von den bewaffneten Männern zur Strecke gebracht werden könne. Dass die Waffe derweil unberührt auf dem Boden des Abteils lag, konnte er nicht wissen. Parenti versteckte sich schließlich auf der Toilette und wartete bis zum Morgengrauen auf seine Befreiung. Ende mit Schrecken Der Löwe aber entkam seiner Festsetzung und sprang samt Ryall durchs Fenster, zerrte ihn in ein Gebüsch und fraß seine Eingweide. Und Hübner? Hübner lag die ganze Zeit auf dem Fußboden. Der Löwe hatte ihn ignoriert und war direkt auf Ryall zugesteuert. Dass es ein Löwe war, der auf ihn trat, bekam Hübner im Halbschlaf erst gar nicht mit und beschwerte sich murmelnd bei seinen Mitstreitern, doch bitte von ihm herunterzugehen. Als er merkte, dass direkt über ihm ein Löwe stand, der seinem Kameraden an die Gurgel ging, fiel er in Ohnmacht. Der Löwe war samt Ryall in der Dunkelheit verschwunden. Erst Tage später gelang es, ihn in einer Falle lebendig zu fangen. Zusammen mit den sterblichen Überresten von Ryall wurde der Löwe nach Nairobi gebracht. Dort wurde die Bestie zur Schau gestellt und anschließend erschossen. An Charles Henry Ryall erinnert heute ein Grab auf dem Kolonialfriedhof von Nairobi. Der Verbleib des Löwen, der nach seiner Exekution ausgestopft wurde, ist heute unklar. Nur seine Krallen werden im Eisenbahnmuseum von Nairobi wie eine Reliquie aufbewahrt. Nach einer Erzählung von David Gitundu. |