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Im Schatten der WM
POLITIK | BEMERKT (15.07.2006)
Von Jörg Rostek
"Angela Mutlos", schreibt der Spiegel. "Mehr Vergangenheit, weniger Zukunft", kommentiert die FAZ. "Das Große Scheitern" beschwert sich die Zeit, "Der Wähler wendet sich ab", stellt die FR fest. "Deutschland registriert die höchsten Auswandererzahlen seit 1950", berichtet die SZ und "Umsonst bleibt nur der Tod", weiß die taz.

Es regiert die politische Elite - die "Große Koalition". Man kann als Bürger schnell vergessen, wer da gerade in die Sommerpause entschwunden ist. "Große Koalition", das bedeutet eine satte Mehrheit von 448 Stimmen von 614 Abgeordneten im Bundestag. Ebenso vereinfacht es die Koordinierung der Gesetzgebung mit dem Bundesrat. Der Rest ist Opposition und die ist sich nicht einig.

Michael Billig

Fans in Münster am Ludgerikreisel (c) Michael Billig

Vom Titel geträumt und Reformen verschlafen

Es regiert also der Großteil der politischen Elite der Bundesrepublik. Die gestalterischen Möglichkeiten der CDU/SPD-Koalition sind enorm, besonders deswegen, weil sie die Blockadehaltung des Bundesrates neutralisieren kann. Etwas, dass die Rot/Grüne-Koalition nicht vermochte. Die Gewerkschaften können durch die SPD eingebunden werden, und der Bund Deutscher Industrie (BDI) mit Hilfe der CDU. Viele weitere Verbände ebenso, reicht das Netzwerk der Parteien doch bis hin zur altbekannten Basis. Also rundum eine historische Chance, die Lebensverhältnisse in Deutschland grundlegend zu verbessern. Aber, ob das wirklich geschieht? Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser. Vor allem deshalb, weil angeblich alle Deutschen die ganze Zeit Fußball geguckt und vom Titel geträumt haben. Jetzt sind sie - mit einem Kater - (angeblich) wieder aufgewacht.

Nach dem Aufwachen Zeitung lesen

Nun gut, der Bürger ist also in der Bundesrepublik Deutschland aufgestanden, gähnt ein bisschen, schaut sich um und stellt fest, da hat jemand, während er schlief, die Möbel verrückt. Es dämmert ihm, ach, das war ja die "Große Koalition" und er schaut sich genauer um. Mit einem mulmigen Gefühl im Bauch bemerkt er, dass im ganzen Haus BRD die Möbel verrückt sind, hier und da eine Mauer fehlt, dort sogar ein komplettes Zimmer. Er schlägt die Zeitung auf.

Der Medienkonsument von heute kann sich kaum vor der Wucht der Informationen retten, die ihn erreichen. Kaum hat er sich nach einem Schlag wieder aufgerappelt, streckt ihn der nächste nieder. Selbst wenn man sich intensiv mit nur einem Thema beschäftigen wollte, hätte man kaum noch Zeit zum Atmen. Lauter neue Sachen, die gibt es überall zu sehen, manchmal muss man fragen.

Neu sind beispielsweise die Eckpunkte der sogenannten Gesundheitsreform. Hier sind sich die Kritiker ausnahmsweise einig. Sie seien eine Katastrophe, da sie die Lohnnebenkosten hochtreiben, die private Krankenversicherung fördern, den Wettbewerb zwischen Kassen, Ärzten und Kliniken vermindert und die Bürokratie ausbauen würden. Dabei wollte man doch genau das Gegenteil. Komisch. Da fragt man sich doch, wenn alles derart krumm und schief angelegt ist an dieser Reform, warum die "Große Koalition" sie dann erst durchgestimmt hat? Nach der Sommerpause sollen die Eckpunkte in Gesetzesform gegossen werden. Das ist die große Zeit der Lobbyisten. Wo da bloß der Wähler bleibt?

Der beschäftigt sich im Idealfall gerade mit der Förderalismusreform. Das ist, nur kurz nebenbei gesagt, die weitreichendste Reform, die es jemals in der Geschichte der Bundesrepublik gegeben hat. Ihr erklärtes Ziel ist die Reduzierung der Zahl der Gesetze, die der Zustimmung der Länderkammer bedürfen. Bisher waren das immerhin 60 Prozent. Diese Zahl soll auf 40 bis 35 gesenkt werden. An dieser Stelle genauer darauf einzugehen, würde den Rahmen sprengen. Nur soviel: die Reform betrifft die Kompetenzenverteilung zwischen Bund und Ländern im Bereich Hochschulwesen, Strafvollzug, Heimrecht, Ladenschlussrecht, Flurbereinigung, Messen und Spielhallen, die "allgemeinen Rechtsverhältnisse der Presse", Anti-Terror-Abwehr (Bundeskriminalamt), Waffen- und Sprengstoffrecht, Kernenergie, Umweltrecht, Melde- und Ausweiswesen, Schutz deutschen Kulturgutes gegen Auswanderung ins Ausland und Finanzwesen.

Zur Mutter der gescheiterten Reformen

Wobei wir schneller als gedacht beim Thema Hartz IV wären, die Mutter der gescheiterten Reformen. Aber ist sie wirklich gescheitert? Kommt wohl darauf an, aus welcher Perspektive man diese Reform betrachtet. Wessen Ziel es ist, die Sozialausgaben des Staates nachhaltig zu reduzieren oder gar abzuschaffen, kann sich, angesichts des wachsenden Kostenberges, den Hartz IV anhäuft im stillen Kämmerlein freuen. Opfer sind hierbei der Großteil der Erwerbslosen. Sie tragen den Schaden, der durch die schlecht geplante Organisation entstanden ist und können mit noch härteren Sanktionen rechnen. Das ist sicherer als die Rente. Bombensicher ist, dass der Bund bei Hartz IV nachbessern will und zwar im Herbst. Da kann man sich jetzt schon warm anziehen. Oder Kinder kriegen.

Neues kommt auch vom deutschen Bundesfinanzminister Peer Steinbrück (SPD), der mit klaren und deutlichen Worten keinen Hehl daraus macht, dass die Steuern mittelfristig ansteigen werden. Steuererhöhungen seien nicht abzuwenden, zumindest nicht in Zukunft und man müsse sogar neue Steuern einführen. Damit ist Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) gar nicht einverstanden und möchte ihm (lt. Spiegel) den "Innovationspreis für die Erfindung neuer Steuern" überreichen.

Und den hat er wahrscheinlich auch verdient, und zwar für die Unternehmens- steuerreform. Momentan liegt die tatsächliche Steuerlast einer Kapitalgesellschaft in Deutschland bei 39,35 Prozent. Im internationalen Vergleich ist das nicht viel, es ist aber auch nicht wenig. Trotzdem ist Deutschland laut FAZ ein "Hochsteuerland", das den Unternehmen "vielfältige Wege bietet, Steuern zu sparen". Steinbrück will nun den Körperschaftssteuersatz von 25 auf 12,5 halbieren. Damit läge die Gesamtbelastung nach Berücksichtigung der Gewerbesteuer und des Solidaritätsbeitrages bei 29,19 Prozent. Gleichzeitig möchte Steinbrück Steuerschlupflöcher schließen, um "die Bemessungsgrundlage zu erweitern". Trotzdem hieße das eine Nettoentlastung für Unternehmen von acht Milliarden Euro. Das hieße bis 2008 (laut Steinbrück) ein Steuerausfall von vier Milliarden Euro. Den Rest tragen die Länder. Ziel ist es, Deutschland als Investitionsstandort attraktiver zu machen. Acht Milliarden Euro! Wenn das mal gut geht.

Auch die Regierung sagt, Kontrolle ist besser

Schließlich gibt es gute und es gibt schlechte Ideen. Ob die Idee der "Großen Koalition", dem Bundesnachrichtendienst (BND) im Inland mehr Kompetenzen im Bezug auf die Lüftung des Postgeheimnisses, Flugzeugpassagierdaten und Telefonverbindungsdaten einzuräumen, gut oder schlecht ist, sei dem Leser überlassen. Es gibt eben doch Dinge, die man von der DDR lernen kann. Zum Glück ist die sogenannte "Anti-Terror-Gesetzgebung" befristet. Noch.

Deutschland ist zwar nur Dritter geworden bei der WM, aber immerhin ist Deutschland der viertgrößte Hersteller von Kleinwaffen. Aber schade, schade, denn Kleinwaffen wollen die Vereinten Nationen bald besser kontrollieren und somit "die wahren Massenvernichtungswaffen" neutralisieren. Die Vereinten Nationen mischen sich aber auch überall ein. Ach, stimmt, die UN konnten sich ja nicht auf eine gemeinsame Abschlusserklärung einigen. Herzlichen Glückwunsch an die "National Rifle Association (NRA)!" .Und staatliche Einmischung will man ja in den heutigen Zeiten auch gar nicht haben, das bedeutet nur Bürokratie, kostet Geld und macht die Kleinwaffen nur noch teurer. Wie hoch ist eigentlich die Steuer auf Maschinenpistolen? Gibt es diese überhaupt? Wahrscheinlich würde man sie abschaffen, denn wie der berühmteste noch lebende Ökonom der Gegenwart, Milton Friedman, gesagt hat: "Der Staat ist dazu da, den Bürger vor anderen Bürgern zu schützen. Er ist nicht dazu da, die Leute vor sich selbst zu schützen." 4:0 für die Waffenlobby.

Nun ist die Bundeswehr, neben Afghanistan, Bosnien, Djibuti, Kosovo, auch im Kongo stationiert. Insgesamt haben 780 deutsche Soldaten übergesetzt, um dort den Vereinten Nationen zu helfen, die Wahlen in 53.000 Wahllokalen sicherer zu machen. Die UN selbst werden dort insgesamt 17.000 Soldaten stationieren, denn man fürchtet die Wut der schlechten Verlierer. 300.000 Wahlhelfer und 2.000 Wahlbeobachter werden dabei im Einsatz sein. Kostenpunkt: Eine halbe Milliarde Dollar. Kritiker meinen, es seien zu wenige deutsche Soldaten und sie würden an Orte geschickt werden, wo sie keiner brauche. Dabei wäre in dieser Region eine funktionierende und andere Staaten positiv beeinflussende Demokratie von höchstem Nutzen. Die Medien werden noch öfter über den Kongo berichten und über die Art der Berichterstattung darf man gespannt sein. Ebenso wird es bald ein sogenanntes "Weißbuch" der Bundeswehr geben, hat Bundesverteidigungsminister Franz Josef Jung (CDU) angekündigt. Es soll die Leitlinie der Bundeswehr festschreiben. Was da wohl drinstehen wird? Und wird man es lesen? Wird es im Buchhandel zu kaufen sein? Wer kann sich da noch Zeit nehmen für den siebzigsten Jahrestag des Ausbruchs des Spanischen Bürgerkrieges am 17. Juli 1936 oder für den hundertsten Geburtstag von Herbert Wehner.

Wer vom Reformchaos am meisten zu profitieren scheint, ist die FDP. Ihre Umfrageergebnisse steigen, ganz im Gegensatz zu denen der "Großen Koalition". Die Reformen, welche die FDP auf der Länderebene anstößt und durchsetzt, werden auch kaum wahrgenommen. Sie möchte liberale Reformen durchsetzen, vor denen es sogar der CDU graust. Das ist ein Grund mehr, sich die Reformen genauer anzuschauen. Aber nicht allein, mit mehreren macht es nicht nur mehr Spaß, nein, man spart auch noch mehr Zeit, wenn man die Arbeit teilt. Eigentlich sollte man eine neue Schulform für Erwachsene einrichten, um sie politisch zu bilden. Und wenn der Staat das nicht tut, dann muss es der Bürger eben selbst tun. Also, bildet Arbeitskreise und danach Euch selbst. Adios.

Insgesamt waren das sicherlich noch nicht alle Reformen oder Jahrestage, die in diesem Text hätten Berücksichtigung finden müssen. Zum Glück hat jeder Leser die Möglichkeit, Vergessenes als Kommentar zu ergänzen und zu diskutieren.
   



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