Das Wesen eines Untergangs
KULTUR | AUSGESPROCHEN (15.06.2007)
Von Bianca Hüsing | |
Heute morgen wagte sie es wieder. Sie nahm all ihren Mut zusammen, bewegte ihren zitternden, geschundenen Körper vor den Spiegel. Sie wusste über all die Jahre, in denen sie genau dieses zu meiden versucht hatte, um den schleichenden Verlust ihrer Identität und wandelte stets apathisch durch ihre Welt. Sie wurde zerstückelt, verprügelt und unter Gelächter gequält. Sie verliert zunehmend an Wert, sie ist kaum mehr als ein Instrument, das falsch gespielt wird und mir den Alltag durch ohrenbetäubend schräge Töne verdirbt. Wenn Freunde im Graben fallen, dem Toten gedenken oder sogar mit ihn sprechen, muss ich zähneknirschend und den Frust hinunterschluckend der Realität ins wüstentrockene Auge sehen. Lassen wir den Blick weiter durch den Alltag schweifen: In der Werbung soll die Sprache mit knackigen, kreativen Slogans den Konsumenten abholen und in Ketten legen. Der Herrscher unserer Gesellschaft - so sollte es anzunehmen sein - muss seine doch Sprache beherrschen. "Wie geht der Fleck raus, ohne zu wissen, was es ist?" Falsch geglaubt, naives kleines Mädchen. (c) photocase.com (Benutzer: hornharry, Bildnr. 36518) Jeder von uns spricht seine Privatsprache und das ist auch nicht weiter verwerflich. Sie ist es nämlich, die wir voller Überzeugung sprechen und die uns eine individuelle Note verleiht. Unsere Gesellschaft ist eine Parfümerie, die uns beim Betreten eine olfaktorische Ohrfeige verpasst. Erst wenn wir uns den einzelnen Düften intensiv widmen, entdecken wir den Charme, der die meisten von ihnen umgibt. So weit, so gut. Was aber geschieht, wenn die Einzelsprachen mächtiger werden und die Kollektivsprache verdrängen? Ludwig Wittgenstein hat uns einen Wink gegeben: "Die Grenzen unserer Sprache sind die Grenzen unserer Welt." Ein junger Mann sitzt in einem Vorstellungsgespräch seinem potenziellen Chef gegenüber. Er hatte zuvor alles eingeübt: Mimik, Gestik, Informationen über die Firma, für die er gerne arbeiten möchte. Auch an einer vermeintlich sauberen Sprache hat er gearbeitet. Nun wird er von seinem Gegenüber gefragt, was ihn an Beruf X reizen würde. "Ich finde X interessant und.....ehm.." Interessant. Gut. Welche Adjektive hätte er auch sonst verwenden sollen? Er ist daran gewöhnt, alles geil, cool oder ätzend zu finden. Gelesen hat er auch nur dann, wenn es von ihm verlangt wurde. So musste er sich bislang nie sonderlich Gedanken darüber machen, was genau es war, das ihm am geilen Lamborghini gefiel, denn man hat ihn stets verstanden. Waren es die anschmiegsamen Sitze, die wendige Steuerung, das wilde Motorengeräusch? Oder war einfach alles cool? In jedem Winkel der Großstadt schleudert man uns "Erwin's Bar" oder "Leckere Snack's" entgegen. Ich muss geschlafen haben, als eine Apostrophier-Regel für Genitiv und Plural eingeführt wurde. Ich glaube auch erkannt zu haben, dass die deutsche Sprache nur zwei Fälle innehat. Wer bedarf schon eines vierten? Vermutlich ist das sogar besser, denn unsere Muttersprache scheint derart kompliziert zu sein, dass selbst die Recht-Schreib-Gesetze sich den Schülern anpassen, die sie lernen. Was heute noch geschieht, ist morgen schon getan. Vielleicht sollte man dem Wandel der Zeit nicht allzu feindselig gegenüberstehen. Keine Sprache ist das geblieben, was sie noch unmittelbar nach ihrer Geburt war. Selbst zu Goethes Zeiten hat längst nicht jeder so gesprochen wie (er) geschrieben. Wirklich schmerzhaft wird es erst, wenn die Sprache, für die man alle Liebe empfindet, den letzten Rest Ästhetik verliert, wenn das Denken der Menschen dank ihrer Wandelung brutal eingeschränkt wird und ein Wörterbuch die Hälfte seines Volumens einbüßen muss. Sollte man dem nun ohnmächtig sich untergeben oder aber auf die Barrikaden gehen? Fakt ist, dass sich die Sprache mit den Menschen und die Menschen mit der Sprache entwickeln. In jeder Generation wird es lebendige menschliche Überreste geben, die leise die Stimme erheben und für eine Rettung ihrer Muttersprache plädieren. Dabei wird es sich jedes Mal um eine neue Muttersprache handeln und in nicht zu ferner Zukunft wird vielleicht mein Enkel darum kämpfen, dass der Akkusativ erhalten bleibt, ohne zu wissen, dass bereits sein Enkel nur noch englisch sprechen wird. Die alte Dame wand ihren Blick wieder vom Spiegel ab und suchte einen Maler auf, um sich portraitieren zu lassen. Von heute an sollte dies regelmäßig geschehen. Sie hatte beschlossen, in Würde unter zu gehen. |