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Gut zu wissen, wo man is(s)t
GESELLSCHAFT | ACH, BURKINA FASO (15.01.2006)
Von Janita Tönnissen
Wenn es in Burkina Faso mal wieder nur Couscous oder Maisbrei gibt, dann heißt es "Coron ja!" - die Hühner sind aus! Die Menschen in dem westafrikanischen Land leben von der Hand in den Mund.

Jörn Paulsen

Zaliattou und Jörn. Sie ist eines der gehörlosen Mädchen, für die eine Patenschaft übernommen wurde. (c) Jörn Paulsen

Jörn Paulsen aus Hamburg hat seine Freundin Linda Dörnhoff, die in dem kleinen Dorf Garango beim Aufbau einer Schule für gehörlose Kinder hilft, besucht. Wir haben ihn nach seinen Erfahrungen befragt.

Wie war Dein erster Eindruck, als Du in der Hauptstadt Ouagadougou angekommen bist?

Nachdem ich nachts die Zoll- und Passkontrolle passiert hatte, eröffnete sich vor mir eine Stadt, die im ersten Augenblick große Ähnlichkeit mit Mexiko hatte, wo ich zuvor schon einige Zeit gelebt habe. Schon das Taxi war in einem Zustand, in dem es bei uns unter keinen Umständen mehr hätte fahren dürfen. Nach Auskunft meiner Freundin konnten wir froh sein, dass es losfuhr und die Windschutzscheibe noch intakt war.
Anfangs fand ich es noch ziemlich krass, aber schon am zweiten Tag hatte ich mich daran gewöhnt. Auch an den Müll, der in allen Ecken lag. Und die kleinen Verschläge, die dann Bars, Werkstätten oder Shops waren. Und als ich Ouagadougou endlich am hellichten Tag sah, waren die Eindrücke überwältigend. Ein heftiges Gewusel von Mofas und Rollern, die scheinbar ohne System durcheinander fuhren. Die Menschen trugen lebende, an den Füßen zusammengebundene Truthähne durch die Straßen oder hatten gleich einen ganzen Ballen von ca. 30 lebenden Hühnern auf den Gepäckträger ihres Mofas gebunden. Man war ständig von Menschen umgeben, die einem irgendeinen Krimskrams verkaufen wollten, bettelnde Kinder und Alte, die sich über ein paar Bonbons freuten. Als mir meine Freundin dann stolz den Supermarkt zeigte, der vielleicht so groß war wie eine Drogerie bei uns und sogar Magnum-Eis im Sortiment hatte, und wahrscheinlich weit und breit der einzige war mit einer solchen Auswahl in dieser zwei-Millionen-Stadt, wußte ich endgültig, wo ich war.

Und entsprach dieses Bild Deinen Vorstellungen?

Als wir die Haupstadt verließen und in dem Dorf Garango ankamen, fühlte ich mich wie in einer der vielen Reportagen über Afrika. Es sah tatsächlich genauso aus wie im Fernsehen. Von daher hat Burkina Faso meine Erwartungen voll und ganz erfüllt.
Ich hatte nicht die Erwartung, einen entspannten, sorgenfreien Urlaub zu verbringen, sondern eine ganz neue Welt kennenzulernen und viele Erfahrungen zu machen. Wenn man in eines der ärmsten Länder der Welt reist, muss man sich auf Armut und wenig Komfort gefasst machen.

Was hat Dich schockiert? Was hat Dich positiv überrascht?

Schockierend war die Anzahl der Kinder mit Hungerbäuchen durch Mangelernährung. Sie essen jeden Tag nur "To", einen Maisbrei. Schockierend war, dass die Kinder uns um unsere leeren Cola-Flaschen angebettelt haben, wahrscheinlich um Behältnisse zu haben, mit denen sie Wasser holen können. Oder um etwas zum Spielen zu haben. Schockierend war die Frau, die nichts mehr hatte außer einem Tuch, das sie um ihren spindeldürren, nackten Körper wickelte. Sie wurde von einem Motorradfahrer angefahren und lag mit offener Fleischwunde am Bein auf der Straße. Der Fahrer zog sie an den Straßenrand und keiner kümmerte sich um sie. Erst als wir Weißen dorthin kamen, bildete sich eine Traube von Menschen. Wir haben sie ins Krankenhaus gefahren und den Verband bezahlt. Schockierend ist es, zu wissen, dass diese Frau vielleicht nicht überlebt hätte, weil sie es sich einen Verband nicht hätte leisten können. Das Bild des kleinen, behinderten Mädchens, welches wir zwecks einer Patenschaft besucht haben, geht mir nicht aus dem Kopf: Es hat ein Hemd an, sonst nichts, hat verkrüppelte Beine und sitzt in seinem eigenen Urin. Das Gesicht ist voller Fliegen.
Um uns herum steht das ganze Dorf. Die meisten haben noch nie einen Weißen gesehen. Das nächste Dorf, in dem man etwas kaufen kann, ist 12 Kilometer entfernt. Ein Krankenhaus ist noch viel weiter weg.
Krass sind auch die Einzelschicksale vieler Menschen, wie zum Beispiel von Victorian, der Neffe unserer Köchin, der jeden Tag bei uns war und beide Eltern verloren hat. Einen Elternteil durch Krankheit, den anderen durch einen Unfall. Schockierend ist auch die Tatsache, dass eine Frau, die zwölf Tage zuvor Zwillinge geboren hat, mit diesen acht Kilometer weit läuft, um sie uns zu präsentieren, weil sie gehört hat, dass Linda und ich eine Patenschaft übernehmen wollen. Schockiert war ich, als unsere Köchin morgens sagte, dass über Nacht im Dorf Kinder beschnitten wurden, und zwar nicht nur die Jungen. Auch ein Mädchen von neun Jahren. Wahrscheinlich ohne jegliche Betäubung und hygienische Maßnahmen. So was macht einen richtig fertig. Krass ist auch zu wissen, dass dort viele der Männer mehrere Frauen haben.
Ich war überrascht, wie beliebt wir Weißen waren und wie offen und herzlich die Menschen auf uns reagierten. Man konnte sich überall ohne Angst bewegen. Die Menschen nehmen sich nicht so ernst und gehen lockerer an die Sachen heran. Toll fand ich, dass man ständig umringt war von Kindern und die Tiere in dem Dorf frei herumliefen. Man musste nachts aufpassen, nicht über Esel, Ziegen oder Schweine zu stolpern.
Ich habe Linda in die Gehörlosen-Schule begleitet und alle Kinder dort sofort ins Herz geschlossen. Sie sind so froh darüber, in die Schule gehen zu können und zu lernen! Bei dem Umgang mit den Kindern vergisst man schnell alle Sorgen, die es in diesem Land gibt. Ich habe selten so viele Kinder kennen gelernt, die einfach nur niedlich und nicht anstrengend sind. Vielleicht, weil sie nicht so verwöhnt sind wie unsere Kids mit Playstation und der neusten Playmobil-Raumstation!

Wie hast Du Dich als reicher Weißer in einem derart armen Land gefühlt?

Afrika ist das schlechte Gewissen Europas. So fühlt man sich. Ich musste lernen, dass nicht alles in meiner Verantwortung liegt und manchmal meine Schuldgefühle verdrängen. Wenn man zum Beispiel jeden Tag ein für unsere Verhältnisse karges, aber für deren Verhältnisse luxuriöses Mahl bekommt, und das ganze Dorf wieder nur "To" isst, dann schmeckt das Essen schon nicht mehr. Wenn ich darüber nachdenke, wieviel Geld ich für Andenken und Mitbringsel auf dem Markt ausgegeben habe, und wie lange eine Familie sich davon ernähren kann, dann fühlt sich das auch nicht so gut an.
Die andere Seite der Medaille ist, dass es einem auch nicht einfach gemacht wird, diese Dinge zu verdrängen. Denn man wird überall bevorzugt, alle tragen einen auf Händen, da sie ja vielleicht was kriegen könnten. Man hat tausend Leute um sich, die einen anbetteln. Man wird wie der Papst behandelt. Man wird angeschuldigt, wenn man nichts gibt. Man kann keine Beziehung zu einem Menschen dort richtig einschätzen, da die meisten im Endeffekt nur was wollen. Man ist also irgendwie auch immer der Geldesel!

Wie meinst Du, könnte man die Menschen in Burkina Faso denn dann unterstützen?

Ich habe ein sehr zwiespältiges Verhältnis zur Entwicklungshilfe, denn die Menschen geraten in Abhängigkeiten und bilden keine Eigeninitiativen. Wenn einfach nur irgendwelche Sachen gekauft, aber kein Know-how transferiert wird, dann verrotten diese Dinge meistens in irgendeiner Ecke. Sogar Kleiderspenden bewirken nicht nur Gutes: Die Menschen lassen sich nichts mehr nähen und damit haben die Schneider kein Einkommen mehr. Wenn es alles immer geschenkt gibt, dann kann sich natürlich keine eigene Wirtschaft entwickeln und das Land verharrt in Armut und Abhängigkeit.
Ich weiß nicht, in welchem Maße Entwicklungshilfe nach Burkina Faso fließt und wie und ob sie eingesetzt wird. Doch seit 1995 werden dort überall von europäischen Vereinen Schulen gebaut. Selbst im tiefsten Busch haben die Kinder die Möglichkeit, zur Schule zu gehen. Ich denke, neben der Lebensmittelversorgung bei Hungersnöten sind Bildung und Unterstützung zur Eigeninitiative, zum Beispiel über Kleinkredite, die wichtigsten Hilfen.

Und wie kann ich als Einzelperson konkret helfen?

Die einzige direkte und einfache Lösung ist die Übernahme einer Patenschaft. Sicherlich werden auch hier wieder Abhängigkeiten geschaffen, aber es ermöglicht den Kindern, zur Schule zu gehen. Es ist außerdem für uns so wenig Geld (60 Euro pro Jahr) und bedeutet für die Menschen dort so viel. Der Verein "Partnerschaft Garango Ladenburg e.V." setzt sich in verschiedenen Bereichen der Entwicklungsförderung ein, die man auch auf ihrer Webseite nachlesen kann. Wir haben viele Schulen besucht, die von dem Verein gebaut worden sind, darunter auch die Gehörlosen-Schule in der Linda gearbeitet hat. Vor Ort betreiben Schwestern einer Mission ein Waisenhaus. Da die Einnahmen aus den Patenschaften von den Schwestern zu hundert Prozent an die Kinder weitergebgegeben werden, halte ich das Projekt für sehr vertrauensvoll - im Gegensatz zu manch einer großen Aktion mit Werbeplakaten und TV-Spots! Ich bemühe mich zur Zeit darum, Paten für die Kinder der Gehörlosen-Schule zu finden, da ich alle Kinder kennen gelernt habe und es mir sehr wichtig ist, dass diese Kinder weiterhin zur Schule gehen können.

Wir danken Dir für das Gespräch!

Weiterführende Links
http://www.garango.dePARTNERSCHAFT GARANGO LADENBURG eV.
   

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